# taz.de -- Künstler KP Brehmer in Istanbuler Museum: Strategie des Kleptomanen
       
       > Das Museum Arter in Istanbul zeigt eine große Retrospektive des
       > „Kapitalistischen Realisten“ KP Brehmer. Er spielte mit Farben, Flaggen
       > und Symbolen.
       
 (IMG) Bild: KP Brehmers „Sichtweiten über der Po-Ebene (Mailand)“, 1978, im Istanbuler Kunsthaus Arter ​
       
       Zwei gekreuzte Flaggen in Schwarz-Rot-Gold an der Stirnseite eines riesigen
       White Cube. Selbst der internationalen Heraldik unkundige Besucher können
       an der Installation im Istanbuler Kunstmuseum Arter unschwer die deutsche
       Flagge ausmachen. Nur die Größenverhältnisse irritieren. Warum ist der
       goldene Streifen auf einem der Banner derart breit geraten?
       
       [1][„Korrektur der Nationalfarben“ nannte der deutsche Künstler KP Brehmer]
       (1938–1997) sein 1970 entstandenes Werk, das zu seinen bekanntesten zählt.
       Die Farben darin symbolisierten nicht mehr die Einheit, Brehmer gruppierte
       sie vielmehr analog zur Vermögensverteilung in Deutschland. Das Ergebnis:
       Den fetten gelben Block des Großkapitals rahmten zwei kaum wahrnehmbare
       Streifen in Schwarz und Rot: Mittelstand und Arbeiter.
       
       Das [2][private Kunstmuseum Arter] ist eine Gründung des Industriellenclans
       Koç, eine der reichsten Familien der Türkei. Dass das Haus dieses
       bourgeoisen Hochadels sich auf eine Retrospektive des Malers, Grafikers und
       Filmemachers einließ, ist an sich schon ungewöhnlich.
       
       Schließlich zog der seinen Vornamen Klaus Peter demonstrativ zu einem
       Kürzel zusammen, welches die Kommunistische Partei aufrief, in der der
       Künstler selbst allerdings nie Mitglied war. Am Bosporus schätzen das Gros
       der Sammler und des Publikums auch eher gestische Expression, auffällige
       Farben und Ornamente.
       
       ## Sozialkritik als Pop-Art
       
       Brehmer dagegen gilt als sozialkritischer Analyst. Und wenn der Mann, der
       zusammen mit Sigmar Polke, Gerhard Richter, Konrad Lueg und Wolf Vostell in
       den Siebzigern die westdeutsche Variante der Pop-Art namens
       „Kapitalistischer Realismus„ aus der Taufe hob, etwas am liebsten
       enttäuschte, dann die Idee der klassischen Malerei und des auratischen
       Fetischs Kunst.
       
       „Ideale Landschaft“ ist etwa vielversprechend eines der zehn Kabinette
       betitelt, in denen Kuratorin Selen Ansen die 200 Werke der Schau thematisch
       statt chronologisch geordnet hat. Doch die bunten Farbkeile und
       Landschaftsprofile, die in dem Gemach im 3. Stock des spektakulären, 2019
       in den Proletarier-Stadtteil Dolapdere gewuchteten Hauses locken, entführen
       in kein Arkadien.
       
       Sie stammen vielmehr aus einem Farbmusterbuch. Brehmer hat sie auf einem
       dreieckigen „Meditationskeil“ wie auf einer Palette angeordnet. Darüber
       hängt eine Tafel, auf der von „Tannengrün“ bis „Airblau“ diverse Farbwerte
       als gedruckte Worte zu lesen sind. Die Betrachter sind aufgefordert, sich
       ihre ideale Landschaft selbst zusammenzuimaginieren.
       
       ## Botschaften farbverschlüsselt
       
       Den Betrachter zum Produzenten zu emanzipieren war das eine Ziel der
       Revolte der ästhetischen 1968er. Brehmer, der gelernte
       Reproduktionstechniker, setzte auf Massengrafik statt auf Originale. Ganz
       ohne Botschaft ging das freilich nicht. Mit einer Arbeit aus seiner Serie
       der „Farbengeografien“ visualisierte Brehmer das berüchtigte Massaker von
       My Lai im Vietnamkrieg mithilfe von Karten und Rot- und Rosawerten.
       
       Mit der Arbeit „Testbild TV – Braunwerte“, bei dem sich aus dem Testbild
       des öffentlich-rechtlichen Fernsehers langsam ein braun gefärbtes
       Hakenkreuz herausschält, spielt er auf den Bodensatz
       nationalsozialistischer Gesinnung in den meinungsbildenden Institutionen im
       Nachkriegsdeutschland an.
       
       Die Arbeit mit solchen Versatzstücken aus der populären Kultur nannte
       Brehmer einen Akt der „ideologischen Kleptomanie“. Er wollte die Ästhetiken
       trivialer Lebenswelten aus ihrem Kontext „entwenden“ und sie mit
       künstlerischen Mitteln politisieren.
       
       Bei aller vehementen Sozialkritik unterscheidet Brehmer freilich von den
       Art-Activists und künstlerischen Forschern von heute das Bewusstsein von
       dem sinnlichen Potenzial der Kunst. Wie emblematisch seine Arbeit „Noli me
       tangere“ von 1968/72 zeigt. Die in Brailleschrift auf eine weiße Oberfläche
       aufgebrachte Mahnung von Christus an Maria Magdalena ruft den Fetisch der
       Unberührbarkeit der Kunst auf. Indem Brehmer zugleich an den Tastsinn der
       Betrachter appelliert, unterstreicht er die Bedeutung des Sensitiven in der
       Kunst.
       
       ## Sinnliches Instrument des emanzipatorischen Bewusstseins
       
       Nirgendwo sonst kommt seine Idee von der „Kunst als sinnlichem Instrument
       emanzipatorischen Bewusstseins“ stärker zur Geltung als in dieser Arbeit,
       die vor dem Hintergrund der globalen Pandemie eine neue Aktualität erfahren
       hat.
       
       Das – im türkischen Kontext – größte Provokationspotenzial von Brehmers
       Kunst dürfte freilich in seiner gezielten Dekonstruktion von
       Nationalsymbolen liegen. Insofern wäre es interessant geworden, wenn das
       Arter-Museum Brehmers Versuche aus den sechziger Jahren wiederholt hätte,
       bei der er den Besuchern verschiedene Farbfahnen angeboten hatte.
       
       Welche alternative Flagge hätten die Besucher seines großartigen Œuvres gut
       fünfzig Jahre später wohl für ihr gepeinigtes Land entworfen?
       
       17 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.hamburger-kunsthalle.de/ausstellungen/kp-brehmer
 (DIR) [2] https://www.arter.org.tr/?gclid=EAIaIQobChMIrvL27sa07wIVGdnVCh2zRQUwEAAYASAAEgIRYvD_BwE
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ingo Arend
       
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