# taz.de -- Ökonom über Kampf gegen Großkonzerne: „Wir können gewinnen“
       
       > Thomas Dürmeier lehrte als Ökonom an der Uni. Dann gründete er den Verein
       > Goliathwatch, mit dem er gegen die Macht von Großkonzernen kämpft.
       
 (IMG) Bild: Ökonom, Katholik, Bayer und Kapitalismus-Kritiker: Thomas Dürmeier
       
       taz: Herr Dürmeier, wie viele Steinschleudern liegen bei Ihnen im Büro? 
       
       Thomas Dürmeier: Keine, denn ich bin Pazifist. Aber ich verstehe schon: Im
       Alten Testament hat David mit einer Steinschleuder gegen Goliath gewonnen.
       Bei Goliathwatch geht es aber nicht darum, Steine zu schmeißen. Wir wollen
       klarmachen, dass die vermeintlich kleinen Leute gegen die großen Konzerne
       gewinnen können.
       
       Welche Waffen braucht es dafür? 
       
       Gute Argumente, gute Analysen und die Solidarität von allen. Mit der
       richtigen politischen Strategie lässt sich das Problem angehen.
       
       Das klingt nicht sehr revolutionär. 
       
       Warum nicht? David konnte Goliath ja nur besiegen, weil er im richtigen
       Moment die richtige Strategie gewählt hat. Als Greta Thunberg sich vor den
       schwedischen Reichstag gesetzt hat, wusste niemand, dass wir kurze Zeit
       später ein Klimakabinett haben würden.
       
       Und was haben Sie mit Goliathwatch bislang erreicht? 
       
       Wir haben in unserer ersten Kampagne mit drei Leuten Google dazu gebracht,
       seine Suchfunktion zu überarbeiten. Dank uns schlägt Google nicht als
       Erstes „Lüge“ und „Mythos“ vor, wenn man das Wort „Klimawandel“ eintippt.
       Wir hatten dazu drei Protestaktionen in Hamburg, eine große Pressekonferenz
       in Berlin und haben uns mit Google direkt getroffen.
       
       Google ein bisschen besser machen – ich dachte, Sie wollen den Kapitalismus
       abschaffen? 
       
       Bei dieser Frage gehen bei vielen Leuten die Fensterläden runter, während
       andere 23 Fußnoten von Marx zitieren. Das bringt uns nicht weiter. Wir
       sollten darüber reden, wie wir bei Großkonzernen soziale und ökologische
       Grenzen ziehen können. Ob das am Ende dann Kapitalismus heißt oder nicht,
       ist egal.
       
       Boykottieren Sie Großkonzerne? 
       
       Ich boykottiere McDonalds, weil es in den letzten 30 Jahren den
       Fleischkonsum massiv erhöht hat. Aber wir sollten nicht zu viel über Konsum
       diskutieren. Denn damit individualisieren wir das Problem: Natürlich wäre
       es besser, wenn alle im Bioladen einkaufen würden. Aber Bioprodukte sind
       etwa im Regelsatz von Hartz IV nicht eingeplant. Wir sollten daher lieber
       fragen, wem das Saatgut gehört, als darüber zu streiten, ob man nur noch
       regionale Biotomaten essen sollte.
       
       Stichwort Regionalität: Wie lebt es sich als Bayer in Hamburg? 
       
       In Bayern ist alles schön angestrichen. Aber in Hamburg hast du eine
       klarere soziale Realität. Es ist eine liberale und offene Stadt, kein
       Allgäu-Disneyland. Du kannst hier mit den Leuten viel demokratischer
       diskutieren. Das mag ich sehr. In Bayern gilt der Ministerpräsident ja noch
       immer als Landesvater! Was für eine mittelalterliche Vorstellung von
       Gesellschaft …
       
       Aber als Sportkletterer vermissen Sie die Berge? 
       
       Man kann nicht alles haben. Der alte Schwede, der große Findling am
       Elbstrand, ist zwar nicht der Knaller, aber zumindest gibt es ihn. Ich habe
       ja auch zwei Jahre lang die Kletterhalle in Lokstedt geleitet. Dabei ist
       echter Fels natürlich cooler als Plastik. Das Schöne am Klettern ist, dass
       es eine gewisse Bodenhaftung hat. Du hast nicht diesen radikalen
       Konkurrenzfaktor wie in anderen Sportarten.
       
       Sie sind auch in einem religiösen Umfeld aufgewachsen. Welche Bedeutung hat
       Religion für Sie? 
       
       Für mich ist sie ein tiefer Quell für politische Arbeit. Beim Abendmahl
       kann jeder zum Tisch kommen und keiner geht leer aus – alle kriegen genug.
       Wenn wir das Prinzip auf die Wirtschaft übertragen würden, hätten wir ein
       komplett anderes Wirtschaftssystem.
       
       Würden Sie den CEO von Facebook zum Abendmahl einladen? 
       
       Natürlich, wir leben doch alle in der gleichen Gesellschaft. Nur darf er
       sich nicht den ganzen Messwein und das Brot schnappen, unter dem Tisch
       allen auf die Zehen treten und dabei noch die Tischbeine ansägen, wie er es
       zurzeit macht. Es muss eine gerechte Tischordnung geben.
       
       Hadern Sie mit der katholischen Kirche? 
       
       Klar, es ist doch ein totaler Scheiß, was da abgeht. Spätestens seit dem
       ersten Kirchentag fordert die Basis, das Frauenpriestertum einzuführen und
       die katholische Kirche demokratisch umzubauen. Das ist ja ein totalitärer
       Haufen dort. Aber es gibt auch progressive Dinge, wie die großen Hilfswerke
       Misereor und Brot für die Welt.
       
       Gibt es ein Ereignis, das Sie politisiert hat? 
       
       Ja, Tschernobyl. Ein Teil der radioaktiven Wolke kam damals in meiner
       Heimat Regensburg runter. In der Schulpause durften wir nicht in die
       Pfützen treten.
       
       Wie hat Sie das geprägt? 
       
       Ich habe mich immer weiter gefragt, warum diese Welt so zerstört wird. In
       den 1980er-Jahren war die nukleare Katastrophe sehr real, die
       Umweltbewegung wurde stärker. Die Bundesregierung schaltete sogar Werbung
       für Umweltschutz im Fernsehen.
       
       Sie haben über den zweiten Bildungsweg studiert. Wie kam es dazu? 
       
       Ich komme aus der sogenannten Arbeiterschicht. Für meine Lehrerin war es
       damals unvorstellbar, dass ich als Arbeiterkind auf das Gymnasium gehen
       könnte. In der Realschule war ich dann Schulbester und durfte kein Abitur
       machen, weil mein Vater es für nicht sinnvoll erachtet hat. Meine Eltern
       wollten, dass ich einen sicheren Beruf erlerne. Daher habe ich eine
       Ausbildung zum Starkstrommonteur gemacht. So habe ich das Abitur
       nachgeholt.
       
       Wie war Ihr Start an der Universität? 
       
       Ich war auf einmal in einer anderen Welt. Ich habe ja kein klassisches
       Musikinstrument gelernt, wir sind selten verreist. Die ungeschriebenen
       Regeln des Bürgertums kannte ich nicht. Meine Eltern konnten nicht
       nachvollziehen, was ich an der Uni tue. Dass ich Zuhause plötzlich nicht
       mehr verstanden wurde, war schlimm für mich.
       
       Sie haben Wirtschaft und Politik studiert. Warum kritisieren Sie heute die
       Wirtschaftswissenschaft? 
       
       Im Studium wurde uns erzählt, dass der Mensch nur darauf aus sei, seinen
       Nutzen zu maximieren. Er sei ein homo oeconomicus. Auf dieser Annahme
       basiert die klassische Modellökonomik. Und ich dachte: Nein, so bin ich
       doch gar nicht. Der homo oeconomicus kann nicht sprechen; aber Menschen
       sprechen miteinander. Ich habe deshalb mit anderen Studenten eine
       Initiative gegründet, um die Wirtschaftswissenschaft zu ändern. Daraus ist
       das Netzwerk Plurale Ökonomik entstanden. Heute gibt es eigene Lehrstühle
       dafür.
       
       Warum ging es mit Ihrer wissenschaftlichen Karriere nicht weiter? 
       
       Als ich keine Drittmittel mehr für meine Forschung erhalten habe, ist ein
       ganzes Lebensprojekt von mir gescheitert. Ich hatte gedacht, dass es in der
       Uni um die Suche nach Wahrheit geht. Aber dies ist nur ein kleiner Teil der
       Arbeit. Es geht um Publikationen: Man muss mit wenig Aufwand möglichst viel
       veröffentlichen. Egal, ob das dem wissenschaftlichen Fortschritt dient oder
       nicht.
       
       Waren Sie zu radikal? 
       
       Nein, ich habe nur ein großes Versprechen hinterfragt. Es lautet: Wenn du
       einem normalen Job nachgehst, hast du genügend Einkommen für ein bequemes
       Leben. Das ist eine Lüge. Viele Menschen in Deutschland wollen das nicht
       wahrhaben: Die Bornout-Zahlen zeigen, dass sie sich kaputtarbeiten. Und
       auch für den Großteil der Wirtschaftswissenschaft gilt: Wer dieses
       Versprechen hinterfragt, wird bestraft. Das ist gefährlich, denn die
       Wirtschaftswissenschaft ist die Religion unserer Zeit.
       
       Was meinen Sie damit? 
       
       Welche Sendung läuft vor der Tagesschau?
       
       Puh. Die Börse vor acht? 
       
       Genau, und wer kann die Börsenzahlen interpretieren? Die
       Wirtschaftswissenschaftler. Wer wurde gefragt, als Fridays for Future ihr
       Thesenpapier veröffentlicht haben? Die Wirtschaftsweisen. Es dreht sich
       alles um die Einschätzung der Wirtschaftswissenschaft.
       
       Kommen Sie da nicht ins Grübeln, selbst falsch zu liegen? 
       
       Natürlich frage ich mich das ab und an. Aber ich rede ja auch mit dem
       Mainstream: Letztes Jahr war ich beim Neujahresempfang der Hamburger CDU.
       Das fand ich total spannend, auch wenn ich mit meinen langen Haaren aus dem
       Bild gefallen bin. Und wenn Corona es zulässt, machen wir im Juli eine
       Veranstaltung unter dem Titel „Wem gehört die Welt?“ mit der Linkspartei –
       und der FDP.
       
       Spätestens da werden die Steinschleudern aber herausgeholt, oder? 
       
       Ach nein, Streit und Widerspruch sind für eine Demokratie doch essenziell
       wichtig. Wir müssen unbedingt miteinander streiten, aber nicht
       gegeneinander. Leider wird der öffentliche Raum hierfür immer kleiner.
       Deshalb sollten wir uns nicht nur in den eigenen Filterblasen bewegen,
       sondern miteinander ins Gespräch kommen und ideologische Floskeln
       hinterfragen. Hat der Markt eigentlich wirklich immer Recht? Sind Manager
       tatsächlich die Leistungsträger unserer Gesellschaft?
       
       12 Apr 2021
       
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