# taz.de -- Ein Jahr Corona in Berlin: Einsam leben
       
       > Längst scheint es erschreckend vertraut, das Virus, das die Stadt seit
       > einem Jahr in Atem hält. Was macht das mit Berlin und seinen
       > BewohnerInnen?
       
 (IMG) Bild: Ein einsames Schreien: Am Konzerthaus auf dem Berliner Gendarmenmarkt
       
       Restaurants zu, Cafés dicht, Museen, Kinos, und wann in den Clubs wieder
       getanzt werden darf, das weiß kein Mensch. Die Mutanten machen genaue
       Planungen bei Öffnungsstrategien unmöglich. Hoffentlich werden die
       Schnelltests zum Gamechanger und die Impfungen wirklich bald nicht mehr
       bloß im Zeitlupentempo vorangehen. Und das möglichst, bevor irgendjemand
       vor einer weiteren Welle warnen muss.
       
       Sicher ist nur, dass die Leute nach einem Jahr Corona schlicht pandemiemüde
       sind. Vergangenes Wochenende war das sogar empirisch messbar, als sich bei
       den ersten Anzeichen von Frühling Menschenmassen durch die Parks
       drängelten. Endlich mal wieder etwas anderes als das ewige Homeoffice.
       Endlich wieder ein Gefühl von Freiheit nach all den harten Monaten im
       Coronakerker. Und immer dringlicher werden Fragen gestellt: Werden die
       Sportvereine bald wieder öffnen dürfen? Und die Kneipen?
       
       Oder wird man seitens der Politik vorsichtshalber erst einmal weiter
       empfohlen bekommen, lieber daheim Liegestütze zu machen und dort sein Bier
       gegen den Isolationsblues zu trinken? Nach dem Motto: So schwer wird das
       ja wohl nicht sein können, noch ein bisschen länger auf alle Formen von
       gemeinschaftlichem Vergnügen zu verzichten.
       
       Wenn es nach der Soziologin Talja Blokland geht, die das
       Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung an der Berliner
       Humboldt-Universität leitet, sollte zumindest nicht so getan werden, als
       gebe es Bereiche des öffentlichen Lebens, die allein für den Spaß zuständig
       sind und die deswegen guten Gewissens eher mal dichtgemacht werden könnten
       als andere. Sie leitet die Studie „[1][Städtisches Leben während Corona“].
       Für diese wurden Berliner und Berlinerinnen befragt, wie sie während Corona
       ihren Alltag strukturiert haben. Wie sie die eingeschränkte Infrastruktur
       der Stadt weiter genutzt und sich in der Nachbarschaft ausgeholfen haben
       und was sie am meisten während der Lockdowns vermisst haben.
       
       Zu letztgenanntem Punkt lässt sich nach einem vorläufigen Fazit der Studie
       schon einmal sagen: Am allermeisten wurde den Stadionbesuchen [2][der
       Spiele von Union Berlin] hinterhergetrauert. Und nicht etwa denen von
       Hertha. Gut, eher ein Fun Fact, könnte man meinen. Blokland hat aber
       herausgefunden, dass Unioner viel stärker die Begegnungen mit anderen im
       Stadion vermissen als Herthaner. Dürfte also aus irgendwelchen Gründen
       vorerst nur ein großes Stadion in Berlin wieder öffnen, müsste eine
       Empfehlung an die Politik lauten: Alte Försterei kommt vor dem
       Olympiastadion.
       
       Zur Organisation von Nachbarschaftshilfen weiß auch Heidi Graf etwas zu
       sagen, Projektleiterin der Freiwilligenagentur Pankow, die unter anderem
       ehrenamtliche Coronanachbarschaftshilfen im Bezirk koordiniert. „Es gibt
       nach wie vor eine unglaubliche Welle von Bereitschaft“, sagt sie, „aber
       natürlich sind Möglichkeiten, sich zu engagieren, weiterhin begrenzt, weil
       es überall Kontaktbeschränkungen gibt. Besuchsdienste im Seniorenheim
       beispielsweise finden nicht statt.“ Letztlich gebe es aber weit mehr
       Angebote von Freiwilligen, anderen zu helfen, als Bedarf daran. „Für uns
       ist das ein Beleg dafür“, so Graf, „dass die Nachbarschaftshilfe auch ohne
       uns funktioniert. Sprich: dass sich in den Häusern Initiativen gebildet
       haben oder die Familien und Freunde bei Bedarf einspringen.“
       
       Aber nochmal zurück zu Talja Bloklands Corona-In-Berlin-Studie: Auf den
       Plätzen folgen dort bei den „Ich habe Sehnsucht nach“-Aufzählungen die
       Betätigung in den Sportvereinen und Kneipenbesuche. Und das nur nebenbei:
       „Einkaufen in Shoppingmalls wurde gar nicht mal so großartig vermisst“, so
       Blokland. Die Leute würden sich am stärksten nach Besuchen von Orten
       sehnen, die ihnen beiläufige Kontakte mit anderen ermöglichen, sagt sie.
       „Für unser Alltagserlebnis von Zusammenhalt, von Gesellschaft, von
       Zugehörigkeit gehören auch fluide Begegnungen dazu. Also nicht nur die mit
       Leuten, von denen ich sagen kann, dass ich sie richtig gut kenne. Die
       Ermöglichung dieser fluiden Begegnungen ist also auch wichtig.“
       
       Lockdownmaßnahmen treffen Menschen mit einer prekären Lebens- und
       Wohnsituation härter als andere. Bloklands Studie zeigt, dass das auch
       daran liegt, dass die Kneipen, Clubs und Cafés während der Lockdowns
       geschlossen haben. Menschen, die in beengten Wohnverhältnissen leben,
       hätten, so die Soziologin, vor Corona Strategien entwickelt, mit dieser
       Situation umzugehen. Sie gingen beispielsweise öfter in ein Café oder eine
       Bücherei, wenn sie mal in Ruhe etwas lesen wollten. Oder sie trafen sich in
       der Kneipe, um mit der Freundin reden können, ohne dass die ganze Familie
       zuhört. „Die städtische Infrastruktur wird von Leuten mit wenig Wohnraum
       stärker gebraucht als von anderen. Oft sind das Leute mit
       Migrationshintergrund, da es Rassismus auf dem Wohnungsmarkt gibt. Und es
       sind solche mit wenig Einkommen, da die großen Wohnungen teuer sind.“
       
       Wer also auf diese infrastrukturellen Ausweichmöglichkeiten stark
       angewiesen ist, leidet unter dem Lockdown stärker als Menschen, die
       genügend Platz in ihren eigenen vier Wänden haben, um es sich dort
       gemütlich zu machen. Die Bedrängten seien, so Blokland, auch stärker
       gefährdet, wegen Corona depressiv zu werden.
       
       Ganz weit vorne in der Rangliste bei der Studie über „Städtisches Leben
       während Corona“, welche sozialen Räume von den Berlinern und Berlinerinnen
       vermisst werden, sind, wie bereits erwähnt, die Sportvereine. Außer
       Individualsport ist derzeit immer noch nichts möglich, die Vereinsheime
       sind nach wie vor geschlossen. Thomas Härtel, Präsident des
       Landessportbunds Berlin, des Dachverband des hiesigen Sportbetriebs, sagt,
       dass ein Jahr Corona den Sportvereinen schon zugesetzt habe. „Besonders im
       letzten Quartal 2020 haben eine ganze Reihe von Mitgliedern die Vereine
       verlassen. Obwohl sie bis dahin trotz der Einschränkungen durch die
       Lockdowns diesen noch die Treue gehalten hatten.“
       
       Doch es gelte hier eben zu unterscheiden zwischen den Vereinen mit losen
       Organisationsstrukturen, die ihren Mitgliedern eher nur bestimmte Angebote
       machen, und solchen, wo das Vereinsleben elementar mit dazugehört.
       
       „Im Bereich Gesundheitssport etwa, wo man sich zielgerichtet an bestimmte
       Gruppen wendet, da sagen die Mitglieder schnell: Solange es nicht möglich
       ist, bestimmte Angebote anzunehmen, möchte ich auch keinen Mitgliedsbeitrag
       zahlen. Dagegen in Fußballvereinen, da, wo ich eine starke Verbindung habe
       zu meinem Verein, sind die Austritte kaum spürbar.“ Prinzipiell sehe er,
       sagt Härtel, kein aufkommendes Vereinssterben, „weil trotz der Austritte
       die Mehrheit ihren Vereinen die Treue hält“.
       
       An all die Unkenrufe, die besagen, dass die Leute sich an ihren Heimsport
       gewöhnen könnten mit Online-Yoga und Fitnessprogramen aus dem Internet,
       glaubt Härtel nicht. „Wir sind da optimistisch. Uns allen fehlt ja etwas:
       nicht nur das Bewegen, sondern das gemeinsame Bewegen, die gemeinsame
       sportliche Erfahrung, auch in einer Mannschaft. Dabei auch mal plaudern und
       sich austauschen zu können. Das alles vermissen die Leute ja und wollen es
       nach den Lockerungen der Coronamaßnahmen auch wieder haben. Vieleicht sogar
       verstärkt, weil die häusliche Isolation viele hat vereinsamen lassen.“
       
       ## Kein Tanz mehr in der Nacht
       
       Vereinsamung. Dazu hat auch DJ Ipek etwas zu erzählen. Wer Ipek, die gerne
       in queeren Partykontexten auflegt und Resident-DJ [3][bei Gayhane] ist, der
       queer-migrantischen Partyreihe im SO36, ein wenig kennt, der weiß, dass für
       sie das Wegfallen des Nachtlebens vielleicht noch ein Stückchen härter sein
       muss als für die meisten anderen. Denn die quirlige DJ braucht das soziale
       Miteinander bei einer gelungenen Party wie halt das Coronavirus einen
       geschlossenen und möglichst vollen Raum, um sich besser weiterverbreiten zu
       können.
       
       „Coronabedingte Auf und Abs“, habe sie, erzählt sie am Telefon, und „wenig
       soziale Kontakte“. Klar. Und sie sehe kaum noch jemanden aus ihrer
       Community. „Einige sind total unsichtbar geworden, habe ich das Gefühl.“
       Und sie kriege mit von Leuten, die ihr in deprimierenden E-Mails schreiben,
       „dass sie sich vereinsamt und isoliert fühlen.“
       
       Die Dauerpause des Nachtlebens, von der Ipek übrigens glaubt, dass sie noch
       das ganze Jahr anhalten werde, betrübt alle, die gerne ausgehen. Und das
       sind in Berlin bekanntlich nicht gerade wenige. Aber man muss keine
       soziologischen Studien bemühen, um sagen zu können: Vor allem trifft es die
       noch etwas jüngeren Menschen. Doch am stärksten leiden unter der
       Dauerschließung der Clubs wahrscheinlich Minderheiten, für die gerade eine
       Veranstaltungsreihe wie Gayhane einen Raum bietet, der ihnen Freiheiten
       verspricht, die sie woanders nicht finden. Und wo wieder das zutrifft, was
       Professorin Blokland in ihrer Studie herausgearbeitet hat: Bestimmte
       Gruppen brauchen diese öffentlichen Orte zur emotionalen Zerstreuung
       stärker als andere.
       
       DJ Ipek dazu: „Selbstbestimmt feiern zu können, das fehlt. Und für
       jemanden, der sich noch nicht geoutet hat und niemanden hat, mit dem er
       über seine Probleme sprechen kann, fehlt ein Ort, der das Gefühl vermitteln
       kann: Ich bin nicht allein, es gibt viele, die so sind wie ich. Ich bin
       jedenfalls gespannt auf die Anzahl posttraumatischer Störungen nach Corona.
       Und wer weiß schon, wie viele Clubs für LGBTIQ überhaupt überleben werden.“
       
       Ähnlich wie DJ Ipek schätzen auch die Macher*innen der sexpositiven
       Partyreihe „Pornceptual“ die Lage ein. Wie wohl alle gerade vermisst auch
       Raquel Fedato das Feiern, berichtet sie, „die Nähe zu anderen, die Musik
       und überhaupt das Zusammensein in entspannter Atmosphäre“.
       Mitorganisator*in Chris Phillips sagt: „Für viele Leute in der
       queeren Szene ist der Besuch von Partys mehr als Zerstreuung. Es geht ihnen
       um die Gemeinschaft und die Interaktion mit ihrer Wahlfamilie. Außerhalb
       der sozialen Partysphäre fühlen sich viele isoliert, was längerfristig
       gefährliche Auswirkungen auf ihre mentale Gesundheit haben kann.“
       
       Immerhin habe „Pornceptual“ sich dank Onlinepräsenz und sozialer Medien
       während der Coronapandemie gut mit der Community vernetzen und den Kontakt
       mit dieser aufrechthalten können, sagen die beiden. Was wichtig sei für
       eine subkulturelle Gemeinschaft wie die ihre, um auch im Lockdown
       wenigstens noch ein bisschen sichtbar bleiben zu können.
       
       Die große Frage aber wird sein, wie das Berliner Club- und Partyleben bei
       einem Neustart überhaupt wieder raus aus den digitalen Nischen kommt, in
       denen es sich mit gestreamten DJ-Auftritten und ein paar Facebook-Postings
       an das Stammpublikum notgedrungen eingerichtet hat. „Ich würde gleich Party
       machen, wenn es wieder geht“, so DJ Ipek, „aber ich glaube, dass sich bis
       dahin meine nonverbale Kommunikation verändert hat. Ich würde bestimmt
       nicht gleich jeden abknutschen und umarmen.“
       
       Das ist das eine: Raves in der postpandemischen Zeit werden sich bestimmt
       erst einmal anders anfühlen als vor Corona. Aber werden sie überhaupt noch
       die Bedeutung haben wie vorher?
       
       Für DJ Ipek wahrscheinlich schon und auch für die „Pornceptual“-Community
       und all die Leute, die Talja Blokland im Rahmen ihrer Coronastudie
       berichtet haben, wie sehr sie die Beiläufigkeit des Ausgehens vermissen
       würden.
       
       Aber jetzt mal wirklich groß gefragt: Und für Berlin als Ganzes?
       
       ## Die Zukunft von Berlin
       
       [4][Heinz Bude], Professor für Makrosoziologie in Kassel, der in Berlin
       wohnt und zuletzt als Co-Autor einen autobiografisch gefärbten Roman über
       die Hausbesetzerszene im Berlin der Achtziger geschrieben hat, glaubt:
       Nein.
       
       „Ich habe den Eindruck, dass möglicherweise die Zeit von Berlin als Ort des
       billigen Vergnügens für jüngere Menschen aus ganz Europa vorbei sein wird.
       Berlin hat davon ungeheuer profitiert, keine Frage. Aber so ist das in der
       Stadtgeschichte. Manchmal kommt ein Punkt, an dem man merkt: Irgendwie ist
       nun eine Sättigung erreicht und wir müssen jetzt mal ein bisschen anders
       denken.“
       
       Party oder nicht Party, diese Frage werde im makrosoziologischen
       Stadtdiskurs in Zukunft weniger wichtig sein, glaubt er. Und er bringt
       nebenbei noch das Modewort der pandemischen Zeit schlechthin ins Spiel:
       Resilienz. „Auch die Partywelt muss sich mit den Fragen resilienter
       Strukturen mit dem Blick auf die Ermöglichung eines gemeinsamen Lebens
       auseinandersetzen. Sonst hat sie keine Überlebenschance.“
       
       Aber es gehe jetzt eigentlich um ganz andere Dinge. Corona habe viele
       Probleme des urbanen Lebens aufgezeigt, auch die der Infrastruktur, „wie
       eine Art Brennglas“. Bude glaubt, nun sei der richtige Zeitpunkt, das
       Miteinander in Berlin neu zu gestalten. Etwa nach einem Modell wie der
       15-Minuten-Stadt, deren Ziel es ist, dass man innerhalb des städtischen
       Raumes die Orte des Arbeitens, des Konsums, der Kultur und der Bildung
       einfach und schnell erreichen könne. Ja, das sei extrem gedacht, „aber dass
       wir eine Veränderung der Stadtkultur hin zu einer Ermöglichung eines
       gemeinsamen Lebens brauchen, dass das ein Impuls städtischer Politik werden
       muss, das scheint mir unübersehbar. Was natürlich nicht heißt, dass dieses
       Leben gleichförmig werden muss. Es ist jetzt einfach eine andere Art des
       Experimentierens notwendig. Und ich glaube, das kann Berlin. Berlin ist die
       Stadt des Experiments schlechthin.“
       
       Corona als Chance also? „Wenn ich um das Amt des Regierenden Bürgermeisters
       antreten würde, würde ich sagen: Wir sollten die Situation ernst nehmen,
       die uns durch die Pandemie gegeben ist. Und versuchen, für Berlin, einer
       der attraktivsten Städte der Welt, eine Antwort auf daraus resultierende
       Fragen zu finden. Nicht Homogenität, nicht hegemoniale Dominanz bestimmter
       Bereiche ist das Ziel. Sondern es geht um den Versuch, einen anderen Klang
       in die Stadt zu bringen, einen neuen Sound.“
       
       Würde Bürgermeister Heinz Bude also sagen: Corona könnte Berlin sogar zu
       einer besseren Stadt machen?
       
       „So ist es.“
       
       28 Feb 2021
       
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