# taz.de -- Polizeikritisches Theaterstück in München: Deutsche Pässe, deutsche Pässe
       
       > Eine Geschichtsstunde in Albumlänge. „The History of the Federal Republic
       > of Germany as told by Fehler Kuti und Die Polizei“ in den Münchner
       > Kammerspielen.
       
 (IMG) Bild: Hochenergetische Konzertperformance in den Münchner Kammerspielen
       
       „There’s no such thing as society“, die Gesellschaft gibt es nicht. Wer
       hat’s gesagt? Richtig; der Satz stammt aus einem Interview, das Margaret
       Thatcher 1987 gegeben hat. Der Satz ist berühmt-berüchtigt, er garantiert
       Beißreflexe. Hand aufs Herz, aus dem Mund beispielsweise eines Punkmusikers
       klänge er im Akt einer tollkühnen Selbstermächtigung anders, als er es im
       Kontext der dritten Amtszeit der ehemaligen britischen Premierministerin
       tut.
       
       Nach der „Iron Lady“ ist eine ganze Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik
       benannt: Das Wort Thatcherismus steht für Neoliberalismus, welcher nicht
       zwingend liberal sein muss, für Kopfsteuer und Zechenschließungen.
       
       Noch einmal einen anderen Sound kriegte der Satz am Wochenende in den
       Münchner Kammerspielen, als dort vor einem leeren Zuschauerraum eine
       hochenergetische Konzertperformance über die Bühne ging und online zu
       verfolgen war: Der Anthropologe, Dramaturg und Musiker [1][Julian Warner]
       hatte zu einer Geschichtsstunde in Albumlänge eingeladen, zu elf Songs und
       45 Minuten unter dem sperrigen Titel „The History of the Federal Republic
       of Germany as told by Fehler Kuti und Die Polizei“.
       
       Thatchers Satz fiel gleich am Anfang, als Gegenrefrain eines Liedes, dessen
       Mantra „Deutsche Pässe, Deutsche Pässe“ lautete. Das amtliche Dokument
       könnte einmal an seine Grenzen stoßen, meint Kuti in seinen Versen vom
       Bundespass, denn: „There’s no such thing as society.“
       
       ## Groove mit Tuba und Trompete, Xylofon und Elektronik
       
       Der Soundtrack zur Lektüre ist seinerseits eine spezielle Mischung aus
       Groove und Sperrigkeit: Die Musiker Markus Acher, Micha Acher, Cico Beck,
       Theresa Loibl und Sascha Schwegeler von der Experimentalpop-Band The
       Notwist und aus deren Umfeld spielen durchaus tanzbar auf, es gibt einen
       Schlagzeuger und gleich zwei Perkussionisten, gedämpfte Tuba und Trompete,
       Xylofon und Elektronik.
       
       [2][Fehler Kuti], das Pseudonym verweist auf den nicht makellosen
       Afrobeat-Pionier Fela Kuti, singt dazu schon mal im Falsett, aber der Funk
       dieses Sextetts atmet dennoch eine gehörige Eckigkeit. Eckig können auch
       die Bewegungen Fehler Kutis auf der Bühne sein, wenn er vom Tanzschritt in
       einen Laufrad-Groove kippt. Mit seinem Barett erinnert der dunkel gelockte
       Kuti ein wenig an einen Befreiungskämpfer aus Afrika oder Lateinamerika.
       Das ist ein Kompliment.
       
       Die Geschichtsstunde weiß gelegentlich zu nerven, ein Blick auf ihre Themen
       mag begründen, warum sie das auch tun muss. Rassismus bei der Polizei hat
       es bei Spiegel Online Stand letzten Sonntag in die Rubrik „Für Kinder
       erklärt“ geschafft. Leitmotiv von Fehler Kutis Abend ist eine mehrmals
       aufgerufene Erfahrung, der Moment, von Zivilpolizei am Münchner Bahnhof
       mitgenommen worden zu sein und im Grunde bereits geahnt zu haben, dass
       genau das passieren wird.
       
       Auf die Frage nach dem Grund der Schikane erhielt er die Antwort: „Wir
       beschützen Deutschland vor denen, die uns unseren Wohlstand neiden.“ Als
       der Satz das erste Mal fällt, kommt es zu einem interessanten Versprecher,
       wenn Kuti (oder zitiert er die Staatsmacht?) anstelle von „Wohlstand“
       zuerst „Reichtum“ sagt. Daraufhin intoniert die Band „professional help
       from professional people“. Oder „for professional people“? Ein bitterer
       Jingle ist es in beiden Fällen. „Blue Lives Matter“ heißt es später.
       
       ## Exorzismus der Polizei
       
       In den Abend ist ein böser, ein treffender Stachel eingebaut: Was, wenn wir
       mit den besten Absichten selbst zur Polizei geworden sind? Was, wenn die
       offensive Behauptung unserer ja vorhandenen, zu hütenden Diversitäten und
       Identitäten uns defensiv gemacht hat? Die Performance beinhaltet eine
       Dystopie, schickt ihren Helden aus dem 50. Stockwerk eines Wohnsilos auf
       lebensgefährliche Schwarzfahrt mit der U-Bahn. Der Abend mündet in einen
       Exorzismus der Polizei, einen Befreiungschoral.
       
       Ein Problem bleibt: Mit der Polizei alleine ist kein Staat zu machen und
       auch keine Kritik. Mehr Songs wie der, in dem Fehler Kuti den 28. Mai 1984
       aufgreift, als 250.000 Demonstranten die damalige Bundeshauptstadt Bonn für
       die 35-Stunden-Woche belagerten, könnten die Geschichtsstunde noch
       ausbauen.
       
       Die Pophistorie ist voll von Stücken, in denen – aus Gründen – die Cops,
       die Bullen, die Boys in Blue schlecht wegkommen. Demgegenüber soll hier zum
       Abschluss eine Empfehlung stehen, nämlich der göttlich obszöne „Cocksucker
       Blues“ der Rolling Stones, starring „a lonesome schoolboy“ und „a young
       policeman“. Der rare Song ist von 1970, dem Jahr, als Margaret Thatcher
       Bildungsministerin wurde und befand, die britischen Schüler kämen auch ohne
       Gratismilch gut aus.
       
       3 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Robert Mießner
       
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