# taz.de -- Autor über türkisch-deutsche Beziehung: „Wertschätzung ist nicht einklagbar“
       
       > Im Zentrum von Akın Şipals „Mutter Vater Land“ steht eine Fernbeziehung
       > zwischen Wanne-Eickel und Istanbul. Am 17. Juni feiert das Werk Premiere.
       
 (IMG) Bild: Distanzen: Eine Fernbeziehung lässt sich gut coronakonform inszenieren
       
       taz: Herr Şipal, Ihr Stück „Mutter Vater Land“ spielt in der Vergangenheit,
       beginnt und endet aber mit dem Blick ins Jahr 2063. Sind Prolog und Epilog
       für die Hoffnung zuständig? 
       
       Akın Şipal: Alles, was in dieser Zukunftsvision eine Rolle spielt, sind
       Fliehkräfte, die sowieso wirken. Insofern ist diese Szene mit Hoffnungen
       verbunden, oder einem Hinweis, auf das, was sein könnte. Ich glaube ehrlich
       gesagt nicht, dass alle Dinge passieren, von denen dort die Rede ist. Aber
       es ließ sich so zeigen, welche Ressourcen und welche Kräfte eigentlich
       unter den Erzählungen dieser Länder liegen: Deutschland und der Türkei.
       
       An manchen Stellen wirkt es, als wollten Sie eine Botschaft vermitteln. Ist
       das so? 
       
       Was es auf jeden Fall gibt, ist ein Anliegen. Es war von Anfang an die Idee
       gewesen, einen deutsch-türkischen, dramatischen Bildungsroman zu schreiben
       im doppelten Sinne: Einerseits wollte ich das Aufwachsen und Heranreifen
       einer jungen Hauptfigur mit türkisch-deutscher Familiengeschichte zeigen,
       in der Bildung, besonders Kunst und Literatur, zentrale Themen darstellen.
       Die Familienmitglieder finden durch Kunst und Literatur zusammen, stoßen
       sich aber auch ab.
       
       Und warum will dieser Bildungsroman auf die Bühne und ein Theaterstück
       sein? 
       
       Zum einen: Es hat einfach so angefangen. Ich habe nicht gesagt, ich
       schreibe jetzt ein Stück über meine Familiengeschichte, das wird mein
       nächstes Drama. Ich habe Szene für Szene einfach aufgeschrieben, und sie
       gesammelt. Das waren oft sehr kleine Szenen, nur fünf, sechs Repliken,
       Miniaturen mit zwei, drei Figuren. Dabei habe ich gemerkt, dass in diesen
       Dialogen sofort kristallklar diese Konflikte zutage traten. Das waren
       sozusagen Theaterszenen par excellence, von vornherein. Das war mir beim
       Schreiben so noch nie passiert.
       
       Es gibt auch monologische Passagen … 
       
       Ja, aber die sind später gekommen. Als erstes waren wirklich diese klaren
       Theaterszenen da, die für mich auch etwas von Traum-Szenen haben: Sie
       hatten so einen Nachhall, als hätte ich sie schon vorher in meinem Kopf
       gehabt. Manche habe ich zwei- oder dreimal geschrieben – weil sie immer
       wieder gekommen sind. Das waren so prototypische Situationen, die mich
       beschäftigt haben.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Die Aussprache zwischen Vater und Sohn, die Dialoge zwischen der Mutter und
       der Tochter, die ihr Kind in der Türkei allein zurücklässt, um nach
       Deutschland zu gehen und zu arbeiten. Diese Szenen waren so klar für mich!
       Das ist das Eine: Form und Inhalt sind da zusammengefallen, ohne dass ich
       selbst daran noch hätte lange drehen müssen.
       
       Und das Andere? 
       
       Ich habe gemerkt: Es ist mir wichtig, dass diese Geschichten auf der Bühne
       gespielt werden. Ich will nicht, dass das türkisch-deutsche Verhältnis auf
       politische Konflikte reduziert wird. Für mich ist dieser Hintergrund
       wichtig, einer Familie – meiner Familie – die sich mit Kunst beschäftigt
       und Literatur und über beide Länder verteilt lebt. Die Ehe zwischen dem
       Istanbuler Schriftsteller-Großvater und der in Breslau geborenen Großmutter
       ist ja eine über 60 Jahre währende Fernbeziehung zwischen Istanbul und
       Wanne-Eickel.
       
       Solche Stücke gibt es wirklich selten… 
       
       Die türkisch-deutsche Beziehungsgeschichte ist vielschichtig und
       multidimensional. Ich habe das Gefühl, da verpufft so viel – zum Beispiel
       das Lebenswerk meines Großvaters. Der hat noch nicht einmal einen Nachruf
       bekommen, in Deutschland! Es hat hier keiner Notiz davon genommen, dass er
       gestorben ist. [1][Das Goethe-Institut in Istanbul hat noch nicht einmal
       kondoliert].
       
       Dabei hat er so viel übersetzt …! 
       
       Er hat unendlich viel für den Transfer deutscher Kultur in die Türkei
       getan. Aber so ergeht es vielen Übersetzer*innen: Ihre Arbeit erfährt zu
       wenig Wertschätzung!
       
       Er ist vergangenes Jahr gestorben – war das ein Grund, das Stück zu
       schreiben? 
       
       Nicht wirklich. Er ist ja erst gestorben, als ich schon mit dem Schreiben
       begonnen hatte. Aber mein Großvater spielt einerseits natürlich eine Rolle
       in diesem Familiengefüge. Er spielt auch eine Rolle in der Konstruktion des
       Stücks, da er eben auch Schriftsteller war und autobiographisch geprägte
       Romane geschrieben hat. Ich spiele auch deshalb mit dem Genre der
       Autofiktion, um seine literarische Praxis aufzunehmen. Zugleich war er sehr
       wichtig für den deutsch-türkischen Austausch in Kunst und Literatur.
       
       Als Figur im Stück macht er sich einen point d’honneur daraus, dass sein
       Opus Magnum nicht übersetzbar ist … 
       
       Genau. Im Stück überspitze ich das natürlich. „[2][Sırrımsın Sırdaşımsın]“
       heißt der Roman, auf den ich da anspiele. Ich weiß nicht, ob er wirklich
       unübersetzbar ist, aber mein Großvater hat gerade in diesem Roman eine
       sprachliche Dichte gesucht und gefunden, die es Übersetzer*innen nicht
       leicht machen dürfte.
       
       Wäre das Stück eine Art Abrechnung mit denen, die ihn ignoriert haben? 
       
       Nein. Es ist schon so, dass ich das Gefühl hatte, ihm einen Raum geben zu
       sollen – einen deutschsprachigen literarischen Raum, in dem er auftreten
       kann, weil er den verdient hat. Aber ich denke nicht, dass man
       Wertschätzung einklagen kann. Da wir als Familie jedoch seinen Nachlass
       verwalten, fühle ich mich für sein Lebenswerk verantwortlich. Ich wünsche
       mir, dass weiter in beide Richtungen übersetzt wird und die bestehenden
       Verbindungen nicht durch das aufgeheizte politische Klima so sehr vergiftet
       werden, dass der Austausch stockt. Was türkische Lyrik betrifft sind
       zentrale Werke nicht übertragen worden.
       
       Das schadet der Beziehung? 
       
       Das sind sozusagen ungehobene Schätze, die auch Teil der türkisch-deutschen
       Beziehungsgeschichte sind. Viele türkische Literaten sind durch [3][die
       zahlreichen Akademiker*innen] geprägt, die vor den Nazis geflohen sind
       und an türkischen Hochschulen gelehrt haben.
       
       … und nach dem Krieg kamen da auch Nazi-Profs unter: Ihr Großvater ist
       ausgerechnet [4][an einen von ihnen] geraten. Ist das eine der echten
       historischen Figuren Ihres Stücks? 
       
       Ja, absolut.
       
       Wir erzählen hier meistens die Gastarbeiter-Geschichte. 
       
       Die muss auch erzählt werden, aber sie muss um die anderen Kapitel der
       Beziehungsgeschichte ergänzt werden!
       
       Es gibt eine Reihe von Diskriminierungssituationen, wie die in der Kneipe
       mit dem Filmprofessor [5][von der Hamburger Hochschule für bildende
       Künste]. Sind das Szenen von denen Sie sagen würden, das habe ich so
       erlebt? 
       
       Es sind teilweise Dinge, die ich so erlebt habe, aber eben nicht alle. Ich
       habe Szenen zur Grundlage genommen, die ich erlebt habe, die ich bei
       anderen Mitmenschen, also bei Verwandten, Freunden oder Mitschülern, erlebt
       habe. Die Diskriminierungserfahrungen haben leider alle einen wahren Kern,
       aber für mich war entscheidend, sie noch einmal zu überspitzen um mit
       dieser Macht-Ohnmacht-Situation umzugehen, ohne sie aus einer Opferhaltung
       zu erzählen.
       
       Also sollte ich besser nicht fragen, wer nun dieser peinliche Prof ist? 
       
       Da muss ich Sie enttäuschen: Das ist keine reale Person, sondern eine aus
       verschiedenen Erfahrungen und Erzählungen zusammengesetzte Bühnenfigur.
       
       Gleichzeitig gibt es diese Szene, in der klar wird, das ist eine veritable
       Konjunktiv-Orgie, dass dieser ganze kulturelle Aufwand nicht vor Barbarei
       schützt, sondern im Gegenteil sie erst produziert. 
       
       Die Szene ist ambivalent. Die von der Hauptfigur heraufbeschworenen Tataren
       sprechen eine Turksprache, die sich vom heutigen Türkisch der Hauptfigur
       unterscheidet, es gibt Missverständnisse; für die Tataren ist [6][das
       Reiten von Pferden essentiell], die Hauptfigur hingegen hat Angst vor
       Pferden. Die imaginierten Hilfstruppen aus der eigenen Vergangenheit tragen
       letztlich nicht zur Verbesserung der Situation bei. Aber ja; die Hauptfigur
       reproduziert etwas, dass sie eigentlich überwinden will. Es macht Spaß und
       gleichzeitig leidet sie darunter. Es ist durch und durch widersprüchlich.
       
       Klingt kompliziert … 
       
       Das ist es aber nicht. Ich kann natürlich nur für mich sprechen. Aber das
       ist das Spannungsfeld in dem ich mich eigentlich immer bewege: Einerseits
       spreche ich gerne über türkisch-deutsche Geschichte, andererseits ist es
       problematisch, wenn ich immer dazu befragt werde.
       
       Weil es diskriminierend ist? 
       
       Nein. Nur läuft man, je mehr man sich mit seiner eigenen Geschichte
       befasst, Gefahr, da hängen zu bleiben. Es ist beides. Es lässt sich daraus
       Zerstörung ableiten. Und man kann davon auch zehren, es verwenden – und
       etwas Eigenes daraus machen.
       
       7 Jun 2021
       
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