# taz.de -- Sexualisierte Gewalt in Deutschland: Kaum Verurteilungen von Tätern
       
       > Vergewaltigungen werden selten zur Anzeige gebracht. Und wenn doch, führt
       > es in der Regel nicht zur Verurteilung des Täters. Wo liegt das Problem?
       
 (IMG) Bild: „Nein heißt Nein“-Demo vor dem Gerichtsgebäude zur Unterstützung von Gina-Lisa Lohfink, Juni 2016
       
       Es sollte ein lustiger Abend werden. Im Frühjahr 2013 war Nina Fuchs mit
       Freund:innen unterwegs, sie tranken, tanzten in Clubs. Später am Abend
       lernte sie neue Leute kennen. Dann hören ihre Erinnerungen auf. Sie setzen
       erst wieder ein, als Fuchs in einem Park liegt, zwei Männer über ihr, ihre
       Unterhose hängt zwischen ihren Beinen. Sie ist benommen und kann sich nicht
       wehren.
       
       Am nächsten Tag erstattet sie Anzeige und gibt zu Protokoll: eine
       Vergewaltigung unter Einfluss von K.-o.-Tropfen. Die Mittel können nicht
       mehr nachgewiesen, die DNA-Spuren eines Täters jedoch gesichert werden. Die
       Tat ist mittlerweile über sieben Jahre her, die mutmaßlichen Täter wurden
       gefasst, doch bis heute gibt es keinen Prozess.
       
       Dass Vergewaltiger für ihre Taten verurteilt werden, kommt nur in den
       seltensten Fällen vor. Der Kriminologe Christian Pfeiffer, der seit
       Jahrzehnten zu diesem Thema forscht, kam bei einer Untersuchung zu einem
       dramatischen Ergebnis: Von hundert Frauen, die vergewaltigt werden, erlebt
       nur etwa eine Betroffene die Verurteilung des Täters. So auch Nina Fuchs.
       Woran liegt es, dass Vergewaltigungen so selten vor Gericht kommen – nicht
       einmal dann, wenn der Fall so eindeutig zu sein scheint, wie es bei Fuchs
       war?
       
       Um die von Pfeiffer genannte Zahl nachvollziehen zu können, muss man einen
       Blick in die Dunkelfeldforschung werfen. Nur 15 Prozent derjenigen, die
       eine Vergewaltigung erleben, erstatten Anzeige. Das geht aus einer Erhebung
       von 2011 hervor, mit der auch Pfeiffer seine Aussage begründet. [1][Laut
       Zahlen des Landeskriminalamts Niedersachsen von 2017] sind es sogar nur 5
       Prozent. Aktuelle Zahlen für das gesamte Bundesgebiet liegen nicht vor. Das
       Bundeskriminalamt will diese mit der bisher [2][größten Dunkelfeldstudie
       zur Sicherheit in Deutschland] im kommenden Jahr liefern.
       
       ## Scham, Angst und Traumata
       
       Warum Betroffene, im Regelfall Frauen, keine Anzeige erstatten, hat
       verschiedene Gründe. Vor allem wenn der Täter aus dem Nahbereich stammt,
       also der (Ex-)Partner, Vater, Freund oder ein Bekannter ist, kommt es
       selten zu einer Anzeige, sagt Bianca Biwer der taz. Biwer ist
       Bundesgeschäftsführerin beim Weißen Ring, einem Opferhilfeverein, der seit
       40 Jahren Beratung sowie finanzielle, juristische und psychotherapeutische
       Unterstützung für Betroffene anbietet. „Wenn Frauen ihren Täter gut kennen,
       sorgen sich manche, sie würden sein Leben zerstören. Doch auch das
       Schamgefühl hindert viele, eine Anzeige zu erstatten. Und zuletzt muss man
       festhalten, dass solch ein Verfahren so anspruchsvoll ist, dass nicht alle
       Betroffenen das leisten können. Ihre Geschichte wieder und wieder erzählen
       und durchleben zu müssen, kann sehr traumatisierend sein“, sagt sie.
       
       Auch Nina Fuchs wollte keine Anzeige erstatten, es erschien ihr im ersten
       Moment wie eine nicht überwindbare Hürde, sagt sie. Am nächsten Morgen
       überzeugte ihre Schwester sie, es doch zu tun. 90 Minuten wurde sie auf der
       Polizeistation befragt, es folgte eine Tatortbegehung und eine
       rechtsmedizinische Untersuchung mit Blut- und Urinprobe. „Die untersuchen
       jeden Millimeter deines Körpers, jede einzelne Körperöffnung und überall
       werden Proben genommen, es war wirklich unangenehm“, sagt Fuchs. Wunden
       oder blaue Flecken werden mit einem Millimeterband daneben abfotografiert.
       Bei Fuchs sind es unter anderem blaue Flecken am Oberarm, die bei einer
       Vergewaltigung als typische Halteverletzungen gelten.
       
       Wenige Tage später geht Fuchs noch einmal zur Polizei, weil sie in ihrer
       Tasche eine Sonnenbrille gefunden hat – ein mögliches Beweismittel, denkt
       sie. Wieder wird sie von einem Polizisten befragt, danach bricht sie
       zusammen. „Im Nachhinein waren die Befragungen durch die Polizei für mich
       das Traumatisierendste an dem gesamten Prozess. Ich hatte durchgehend das
       Gefühl, dass mir nicht geglaubt wird und habe wirklich null Empathie
       gespürt.“
       
       Auch dem Weißen Ring berichten Betroffene immer wieder von wenig sensiblen
       Beamten. „Als Zeugin im Verfahren wird deine Glaubwürdigkeit ständig
       infrage gestellt, das ist eine schwierige Situation. Ich glaube, dass
       Beamte vielfach einfach noch nicht gut genug geschult sind im Umgang mit
       traumatisierten Personen“, sagt Biwer. Ignaz Raab, der Leiter des
       Kommissariats für Sexualdelikte in München, arbeitet seit 17 Jahren mit
       Betroffenen von Vergewaltigung. Er ist sich bewusst, wie herausfordernd das
       Verfahren für Betroffene sein kann. „Wir arbeiten so, dass wir den Opfern
       erst einmal grundsätzlich glauben. Allerdings ist es auch unsere Aufgabe,
       detailliert nachzufragen und auch mal nach links und rechts zu schauen, ob
       alles stimmig sein kann“, sagt er. Detaillierte Nachfragen, die
       Untersuchung und eine Tatortbegehung – all das sei nötig bei den
       Ermittlungen, so Raab.
       
       ## Verurteilungsraten sinken
       
       Die Zahl der Anzeigen schwankt über die Jahre hinweg, doch insgesamt lässt
       sich eine Steigerung feststellen, was auf Gesetzesänderungen zurückzuführen
       ist: 1997 das Verbot der Vergewaltigung in der Ehe, 2016 das [3][neu
       eingeführte Sexualstrafrecht „Nein heißt Nein“], aber auch die
       #MeToo-Bewegung. Die Verurteilungsrate aber sinkt. „In den 90er Jahren lag
       sie noch bei über 20 Prozent, von 2014 bis 2016 ist sie auf 7,5 Prozent
       gesunken“, sagt Pfeiffer. Dabei ist die Rate stark bundeslandabhängig: So
       liege sie in Sachsen bei 21,4 Prozent, in Berlin dagegen bei 3,4
       Verurteilten pro 100 Anzeigen.
       
       Fälle von sexualisierter Gewalt stellen Polizei und Justiz vor eine
       Herausforderung. Im Regelfall steht Aussage gegen Aussage, meist gibt es
       wenige bis keine Zeugen und Beweismittel. Bei Einsatz von K.-o.-Mitteln
       gestaltet sich der Prozess noch schwieriger: Betroffene haben
       Erinnerungslücken, die Mittel sind in der Regel nur sechs bis zwölf Stunden
       nachweisbar. Verlässliche Studien, wie häufig sie bei Sexualdelikten
       eingesetzt werden, fehlen. Biwer, Pfeiffer und Raab bestätigten jedoch,
       dass ihnen Fälle unter Verabreichung von K.-o.-Tropfen bekannt sind, auch
       wenn Raab sagt, es seien Einzelfälle. Bei Fuchs kam die rechtsmedizinische
       Untersuchung zu spät, die Mittel konnten nicht nachgewiesen, die Täter
       nicht ermittelt werden; die Ermittlungsarbeit wurde nach zehn Monaten
       eingestellt.
       
       Vier Jahre später bekommt Fuchs Post von der Staatsanwaltschaft: Ein
       möglicher Täter wurde gefunden. Doch auch dieses Ermittlungsverfahren wird
       nach Monaten wieder eingestellt. Die Staatsanwältin begründet das in einem
       Schreiben, das der taz vorliegt, mit den Erinnerungslücken der Betroffenen.
       Fuchs’ Anwalt legt Beschwerde ein – ohne Erfolg. Sie setzen auf ein
       Klageerzwingungsverfahren, doch auch damit gelingt es nicht, einen
       Prozess zu erkämpfen.
       
       ## Erstvernehmung mit Kamera
       
       Dass Fälle ohne Prozess eingestellt werden oder dass es in einem
       Gerichtsverfahren nicht zu einer Verurteilung kommt, führt Pfeiffer auch
       auf die Arbeit der Polizei zurück. Für eine eventuelle
       Glaubwürdigkeitsuntersuchung der Betroffenen sei es wichtig, dass die
       Erstvernehmung nicht schriftlich festgehalten, sondern gefilmt werde.
       „Unsere Hypothese ist, wer als Staatsanwalt nur eine Kurzfassung liest,
       wird davon nicht so emotional betroffen wie bei dem zeitlich aufwendigeren
       Anschauen der Videoaufnahme“, sagt Pfeiffer. Im Video werden Emotionen und
       Ergriffenheit der Betroffenen stärker sichtbar. Diese Hypothese wird er nun
       gemeinsam mit Theresia Höynck und Patrik Schmidt von der Universität Kassel
       sowie der Psychologin Bettina Zietlow in einer Studie untersuchen.
       
       Eine Erstvernehmung der Betroffenen per Videokamera hält auch Biwer für
       unerlässlich. Damit könnte nicht nur die Glaubwürdigkeit der Betroffenen
       gesichert werden, sondern es vereinfache auch den Prozess: Das Erlebte
       müsste nicht wieder und wieder erzählt werden.
       
       Der Einsatz von Videokameras ist in Deutschland noch nicht
       selbstverständlich. Seit 2019 ist er bei schweren Straftaten zwar erlaubt,
       doch nicht alle Polizeistationen sind hinreichend technisch ausgestattet
       und ausgebildet. In welchem Umfang Videovernehmungen bisher eingesetzt
       werden, ist nicht bekannt, da jede Staatsanwaltschaft selbst entscheidet,
       welche Vernehmungsart eingesetzt wird. Im Münchner Kommissariat gibt es
       zwar ein Videovernehmungszimmer und mittlerweile auch mobile
       Vernehmungstechnik. Bei Sexualdelikten werde die polizeiliche Vernehmung
       aber noch schriftlich festgehalten, die richterliche Befragung finde dann
       per Video statt, sagt Raab. Es werde aber daran gearbeitet, alle
       Dienststellen technisch so auszustatten.
       
       Für Opfer einer Vergewaltigung wäre es ein großer Gewinn, wenn sich dieses
       Vernehmungsverfahren durchsetzt. Für Nina Fuchs kommt es zu spät. Aufgeben
       will sie dennoch nicht. Mithilfe [4][einer Petition] und [5][einem
       Crowdfunding] schafft sie Aufmerksamkeit für ihren Fall, im Juli hat sie
       Verfassungsbeschwerde eingereicht. Wenn das scheitert, will sie vor den
       Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. „Mir ist bewusst, dass
       die Verurteilung des Täters unwahrscheinlich ist, doch es würde mir allein
       schon helfen, wenn ich nach all den Tränen, der Zeit und Energie, die ich
       hierein gesteckt habe, einen fairen Prozess bekomme.“
       
       24 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /tmp/mozilla_erica.zingher0/180905_Kernbefundebericht2017.pdf
 (DIR) [2] https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Forschung/ForschungsprojekteUndErgebnisse/Dunkelfeldforschung/SKiD/skid_node.html
 (DIR) [3] /Nein-heisst-nein-im-Sexualstrafrecht/!5342784
 (DIR) [4] https://www.change.org/p/generalstaatsanwalt-reinhard-r%C3%B6ttle-bitte-verhindern-sie-einstellung-des-verfahrens-im-vergewaltigungsfall-trotz-dna-beweisen
 (DIR) [5] https://de.gofundme.com/f/bundesverfassungsgericht-und-egmr-neue-hoffnung
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Carolina Schwarz
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen
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