# taz.de -- Nach dem Brand in Moria: Die Dynamik hinter dem Elend
       
       > Die humanitäre Katastrophe von Lesbos ist auch eine Folge griechischer
       > Politik. Doch das entlastet andere EU-Staaten nicht von ihrer
       > Mitverantwortung.
       
 (IMG) Bild: Menschen am Rande der Straße zum ausgebrannten Flüchtlinglager Moria am 10. September
       
       Noch während [1][das Flüchtlingslager Moria] in der Nacht zum Mittwoch
       brannte, wurde über europäische und [2][deutsche Verantwortung] gesprochen.
       Völlig zu Recht: Die EU hat die Rechtsgrundlagen für Moria geschaffen, es
       wurde als Internierungslager und Registrierungszentrum mit europäischem
       Geld bezahlt und von EU-Agenturen mit betrieben. Die Diskussion in
       Deutschland dreht sich vor allem darum, dass Innenminister Horst Seehofer
       die über die bisherigen Zusagen hinausgehende Umsiedlung von Flüchtlingen
       blockiert. Auch dies völlig zu Recht: In den Lagern dort darf niemand
       bleiben müssen.
       
       Diese Fokussierung ging aber teils so weit, dass der Eindruck entstand,
       [3][Griechenland selbst hätte mit dem Flüchtlingselend auf seinen Inseln
       eigentlich gar nichts zu tun]. Das ist keineswegs der Fall.
       
       Kein Land der Welt hat proportional mehr Geld für die Flüchtlingsversorgung
       bekommen als Griechenland. Zwischen 2015 und Januar 2020 flossen dafür 2,23
       Milliarden Euro aus Brüssel nach Athen. Zwar kamen in diesem Zeitraum rund
       eine Million Flüchtlinge in das Land, die meisten aber reisten schnell
       wieder aus [4][oder wurden von den Behörden illegal in die Türkei
       zurückgeschleppt]. Tatsächlich aufgenommen, und sei es nur für ein
       Asylverfahren, wurden in Griechenland seit 2015 weniger als 150.000
       Menschen. Zum Vergleich: Der Türkei stellte die EU 6 Milliarden Euro für
       fast vier Millionen Flüchtlinge in Aussicht. Griechenland hätte Ressourcen,
       um die Menschen würdig und angemessen unterzubringen und zu versorgen. Es
       hat sich politisch dafür entschieden, das nicht zu tun. Die humanitäre
       Katastrophe von Lesbos ist auch eine Folge dieser Entscheidung.
       
       Das entlastet andere EU-Staaten keineswegs von ihrer Mitverantwortung. Es
       ist aber eben auch so, dass Griechenland sehr wohl Handlungsspielräume
       hatte und hat. Und diese Spielräume nutzt es so, dass die Flüchtlinge dort
       seit vielen Jahren unter absolut unzumutbaren Umständen leben müssen. Das
       ist keineswegs nur der 2019 gewählten rechten ND-Regierung anzulasten,
       sondern auch der bis dahin regierenden linken Syriza – auch wenn die sich
       jetzt größte Mühe gibt, alles auf die ND zu schieben. Der EU-Türkei-Deal
       und die damit verbundene Entscheidung, Ankommende erst mal auf den Inseln
       festzuhalten, fiel in die Amtszeit von Syriza-Ministerpräsident Alexis
       Tsipras.
       
       Dahinter stecken Motive, die keine griechische Spezialität sind, sondern so
       ähnlich auch in anderen Transitstaaten zu beobachten sind.
       
       Das erste ist die Abschreckung: Die katastrophalen Lager sollen anderen die
       Lust nehmen, ebenfalls nach Griechenland zu kommen. Das hat viel damit zu
       tun, dass Griechenland als Außengrenzen-Staat bis heute nach europäischem
       Recht für Asylverfahren, Aufnahme und Versorgung aller zuständig ist, die
       über das Land in die EU kommen. Diese Regelung hat das kleine Land ohne
       eigenes Verschulden in objektive Nöte gebracht. Und deshalb versucht der
       Staat diese Zahl zu drücken – unter anderem durch [5][absichtsvoll
       produziertes Elend] unter den bereits Angekommenen.
       
       Das zweite Signal, das mit den Bildern aus den Lagern gesendet werden soll,
       richtet sich an den Rest der EU. Die griechische Regierung will kein Geld
       aus Brüssel, um die Versorgung der Flüchtlinge bezahlen zu können. Sie
       will, dass Flüchtlinge umgesiedelt und unter allen EU-Staaten aufgeteilt
       werden.
       
       Letzteres ist legitim. Und es deckt sich mit dem Interesse der meisten
       Flüchtlinge vor Ort, die ebenfalls weiterwollen, es aber nach EU-Recht
       nicht dürfen. Man geht in Athen, nicht zu Unrecht, davon aus, dass die
       Berichte und Bilder aus den Lagern wie Moria in Ländern wie Deutschland
       weit stärkeren politischen Druck für die Flüchtlingsaufnahme entfalten, als
       wenn die Regierung Horst Seehofer oder Ursula von der Leyen einfach darum
       bittet.
       
       All das wiederum entlastet die griechische Regierung nicht. Aber ohne diese
       Überlegungen zur Kenntnis zu nehmen, kann die Dynamik des Konflikts nicht
       verstanden werden.
       
       Noch wichtiger als die kurzfristige Aufstockung der Aufnahmeplätze ist
       deshalb, [6][welche Rolle Deutschland] jetzt bei der Aushandlung des
       EU-Asylsystems einnimmt. Denn bislang ist Teil des deutschen Programms für
       seine laufende EU-Ratspräsidentschaft, dauerhafte „closed centers“ an den
       EU-Außengrenzen einzurichten, um dort Asyl-Vorprüfungen durchzuführen.
       Kommt Ihnen bekannt vor? Kein Wunder: Im Grunde ist es genau das, was es in
       Moria schon gab, nur dass dort künftig nicht nur Asylanträge für
       Griechenland, sondern auch für andere EU-Staaten vorab geprüft werden
       sollen. Es beendet die Internierung in Lagern nicht, sondern baut diese
       aus.
       
       Die griechische Regierung ist allerdings auch keinen Deut
       menschenfreundlicher: Migrationsminister Notis Mitarakis sagte am Mittwoch,
       dass das abgebrannte Lager Moria nicht wieder aufgebaut, sondern durch eine
       „geschlossene“ Einrichtung ersetzt werden soll.
       
       10 Sep 2020
       
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