# taz.de -- Prozess zum Mord an Walter Lübcke: Todesschuss in drei Versionen
       
       > Im Mordfall Walter Lübcke gibt es drei verschiedene Geständnisse des
       > Angeklagten. Erfand Ex-Verteidiger Frank Hannig eines davon?
       
 (IMG) Bild: Frank Hannig, Ex-Anwalt des Hauptverdächtigen Stephan E. im Januar 2020
       
       Frankfurt/Main taz | Stephan E. würdigt seinen früheren Anwalt keines
       Blickes, dreht sich nicht um, als Frank Hannig in den Saal tritt. Auch
       Hannig, geröteter Kopf, graues Jackett, schaut nur zu den Richtern, als er
       sich an den Zeugentisch setzt. „Ich heiße Frank Hannig, 50 Jahre, bin
       Rechtsanwalt, verheiratet, komme aus Dresden“, beginnt er.
       
       All dies ist den Anwesenden im Saal 165 des Oberlandesgericht
       Frankfurt/Main hinlänglich bekannt. Denn Hannig war hier bis Juli selbst
       Beteiligter im [1][Prozess zum Mord an Walter Lübcke]. Als
       Pflichtverteidiger des Hauptangeklagten Stephan E. stellte Hannig Anträge,
       gab den Richtern Paroli, besprach sich mit seinem Mandanten. Dann wurde er
       entpflichtet. Weil er Anträge gegen den Willen von Stephan E. stellte. Der
       Anwalt musste seine Robe ablegen und den Saal verlassen.
       
       Am Dienstag nun ist Hannig wieder da – in neuer Rolle. Als Zeuge. Und, wenn
       es schlecht läuft, demnächst als Beschuldigter wegen Anstiftung zu einer
       falschen Verdächtigung.
       
       Es ist eine der inzwischen zahlreichen Volten in diesem seit Juni laufenden
       Großprozess. In der Nacht zum 2. Juni 2019 war Walter Lübcke, der Kasseler
       Regierungspräsident, mit einem Kopfschuss vor seinem Haus im kleinen Istha
       bei Kassel getötet worden. Zwei Wochen später wurde Stephan E.
       festgenommen, ein Kasseler Rechtsextremist mit langer Vorstrafenliste und
       zwei Kindern. Die Ermittler hatten eine DNA-Spur von ihm am Hemd von Lübcke
       gefunden. Der 47-Jährige gestand den Mord und führte sie zur vergrabenen
       Tatwaffe, einem Rossi-Revolver. So viel ist klar.
       
       ## Welche Version stimmt denn nun?
       
       Was aber genau in der Tatnacht geschah, ist inzwischen längst nicht mehr so
       klar. Und der Prozess in Frankfurt hat dies bisher auch nicht zu klären
       vermocht, eher im Gegenteil. Daran hat auch Frank Hannig seinen Anteil.
       
       Denn inzwischen gibt es gleich drei Geständnisse von Stephan E., drei
       mögliche Versionen wie Walter Lübcke starb. In seinem ersten Geständnis
       hatte E. – kurz nach der Festnahme und ohne Anwalt – noch alle Schuld auf
       sich genommen: Er habe sich allein zum Haus von Lübcke begeben und habe den
       65-Jährigen dort erschossen. Das Motiv: lang aufgestaute Wut über eine
       Ansage des CDU-Politikers an pöbelnde Geflüchteten-Gegner auf einer
       Bürgerversammlung 2015: Sie könnten ja Deutschland auch verlassen, wenn sie
       die hiesigen Werte nicht teilten, hatte Lübcke damals gesagt.
       
       Dann aber zog E. sein Geständnis zurück – und wartete mit Version zwei auf:
       Er sei nicht allein am Tatort gewesen, sondern mit dem Mitbeschuldigten
       Markus H., einem Freund und Gesinnungskameraden. Dieser sei es gewesen, der
       Lübcke erschossen habe, aus Versehen, nachdem man den Politiker eigentlich
       nur bedrohen wollte. Im Prozess folgte dann Version Nummer drei: Es seien
       zwar beide am Tatort gewesen, in dieser Version aber will Stephan E. doch
       wieder selbst geschossen haben.
       
       Seitdem dreht sich der Prozess darum, welche dieser Versionen denn nun
       stimmt. Und welchen Anteil die Verteidiger an diesen Geständnissen haben.
       Denn Stephan E. erklärte auch, dass es seine früheren Anwälte waren, die
       ihm die ersten zwei Geständnisse vorgaben. Beim ersten habe ihn sein
       früherer Verteidiger Dirk Waldschmidt, ein Szeneanwalt und seit Sommer 2019
       entpflichtet, angehalten, Markus H. außen vor zu lassen – im Gegenzug
       würden „Kameraden“ seiner Familie finanziell helfen. Beim zweiten
       Geständnis sei es Hannig gewesen, der ihm vorschlug, Markus H. als Schützen
       zu benennen – um den bisher Schweigenden zu einer Aussage zu provozieren.
       
       Es ist dieser Vorwurf, wegen dem Hannig am Dienstag als Zeuge aussagen
       muss. Die Erwartungen sind hoch. Denn der Dresdener Anwalt ist nicht nur
       politisch einschlägig bekannt, stand schon bei Pegida auf der Bühne. Er ist
       auch sendungsbewusst. Schon vor dem Prozessstart lud Hannig zu einer
       Pressekonferenz, um das zweite Geständnis seines Mandanten zu verkünden.
       Später kommentierte er auf seinem Youtube-Kanal die Verhandlungstage. Auch
       am Montag filmte er ein Video von sich, auf einer Bank an einem Bach im
       Wald, mit Zigarre. Er suche gerade etwas Ruhe vor seinem kommenden Auftritt
       am Oberlandesgericht, sagte Hannig. Als Zeuge sei er dann ja „in der Hand
       des Gerichts“, davor habe er „durchaus auch ein bisschen Schiss“.
       
       Am Dienstag im Gerichtssaal aber gibt sich Hannig plötzlich wortkarg. Er
       erscheint mit einem renommierten Wiesbadener Rechtsanwalt. Und dieser gibt
       zu Protokoll, dass Hannig von seinem umfassenden Aussageverweigerungsrecht
       Gebrauch machen werde. Sonst laufe dieser Gefahr, sich selbst zu belasten.
       Der Anstiftung zur Falschverdächtigung nämlich.
       
       Nach einem Hin und Her mit Richter Thomas Sagebiel gibt Hannig zumindest
       preis, wie er im Juli 2019 zum Anwalt von Stephan E. wurde: Ein Kasseler
       Justizbediensteter habe ihn angerufen und gesagt, dass E. dringend einen
       Anwalt brauche, „und zwar einen wie mich“. Darauf habe er den
       Festgenommenen angeschrieben und das Mandat bekommen. Mehr aber will Hannig
       nicht sagen.
       
       Ausgestanden ist die Sache für den Anwalt damit aber nicht. Und auch nicht
       für den ersten Anwalt Waldschmidt. Der hatte bereits Anfang September
       ausgesagt – und bestritten, Stephan E. ein Geständnis vorgegeben zu haben.
       Er habe dem 47-Jährigen vielmehr zum Schweigen geraten. Als dieser doch
       aussagte, habe es ihn „aus den Wolken geholt“.
       
       ## Hanning droht schlimmstenfalls ein Berufsverbot
       
       Doch zumindest Hannig wird auch von Mustafa Kaplan belastet, dem aktuellen
       Verteidiger von Stephan E. Der Kölner war einst NSU-Opferanwalt, dann
       vertrat er den türkischen Präsidenten gegen den ZDF-Satiriker Jan
       Böhmermann. Anfang Juli habe ihm Hannig gestanden, das zweite Geständnis
       von E. erfunden zu haben, erklärte Kaplan im Prozess. Als Strafverteidiger
       dürfe er ja lügen, habe Hannig behauptet. Kaplan sagte am Dienstag er sei
       „verwundert“ gewesen, wie offen sein damaliger Mitverteidiger seine Lüge
       einräumte.
       
       Die zuständige Staatsanwaltschaft Kassel führt zu Hannig bisher einen
       Prüfvorgang. Man warte derzeit weitere Informationen aus dem Prozess ab,
       stehe in Kontakt mit der Bundesanwaltschaft, sagte ein Sprecher der taz.
       Käme es tatsächlich zu Ermittlungen und einer Verurteilung, könnte das
       schmerzhaft für Hannig werden: mit Strafen bis hin zum Berufsverbot.
       
       Das Gericht widmet sich am Nachmittag vorerst noch einer anderen Frage: der
       nach möglichen Mitwissern. Als Zeugen sind zwei frühere Kollegen von
       Stephan E. geladen, Timo A. und Jens L., die mit ihm bei einem Kasseler
       Bahntechnikhersteller arbeiteten. Beiden verkaufte Stephan E. auch Waffen.
       E. behauptete, die beiden teilten seine Einstellung. Jens L. soll zudem
       Schmiere gestanden haben, als E. seinen Tatrevolver zusammen mit anderen
       Waffen auf dem Firmengelände vergrub – was dieser am Dienstag bestreitet.
       
       Auch sonst spielen die Männer ihre Gesinnung herunter. Man habe schon
       Merkels Flüchtlingspolitik kritisiert, nicht alles aber sei ernst gemeint
       gewesen. Von den Mordplänen habe man erst recht nichts mitbekommen, sie
       hätten Stephan E. gar nicht wirklich gekannt. Gegen Jens L. wurde erst
       kürzlich Anklage wegen Verstößen gegen das Waffengesetz erhoben. Timo A.
       erhielt bereits im Frühjahr einen Strafbefehl von 3.000 Euro wegen
       unerlaubten Waffenbesitzes.
       
       ## Rückkehr zur Einzeltäter-Theorie?
       
       Die Frage aber, die sich stellt, ist: Wussten die Männer auch von den
       Mordplänen gegen Walter Lübcke? Und wenn ja: wer noch? Wie groß ist das
       Netzwerk um Stephan E.? Auch diese Frage konnte der Prozess bisher nicht
       beantworten.
       
       Für die Anklage ist klar, dass jedenfalls der Mitangeklagte Markus H.
       dazugehörte. Laut Zeugen soll er über Gewalt gegen Lübcke sinniert haben,
       mit Stephan E. ging er zu Schießübungen und AfD-Demos. Beide löschten nach
       dem Mord an Lübcke ihre Chats. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm deshalb
       psychische Beihilfe zum Mord vor.
       
       Aber war er auch beim Mord dabei, wie Stephan E. behauptet? Am Tatrevolver
       und Tatort fanden sich jedenfalls nur DNA-Spuren von Stephan E., nicht aber
       von Markus H. Und E.s Aussagen dazu, wie sich Markus H. am Tatort bewegt
       haben soll, sind widersprüchlich. Auch eine Belastungszeugin gegen den
       Mitangeklagten präsentierte sich zuletzt wenig glaubwürdig. Als ein
       Verteidiger, von Markus H. am Dienstag fordert, sein Mandant müsse endlich
       aus der Haft entlassen werden, reagiert Richter Sagebiel bemerkenswert
       verständig. Der Senat habe die Haftfrage im Blick, sagt er. „Das wird in
       Kürze auf den Tisch kommen.“
       
       Wird Markus H. womöglich demnächst aus der U-Haft entlassen? Reicht es
       nicht mal zu einer Verurteilung wegen Beihilfe? Dann bliebe am Ende doch
       nur Stephan E., [2][der Einzeltäter]. Es wäre die Rückkehr zum Geständnis
       Nummer eins.
       
       Stephan E. schweigt dazu inzwischen wieder. In sich gekehrt starrt er im
       weißen Hemd und Anzug am Dienstag in den Saal. Ihm gegenüber sitzen die
       Witwe von Walter Lübcke und dessen jüngerer Sohn. Für sie wäre die Wendung
       zurück zur Einzeltäter-Version eine Ernüchterung. Denn die Familie hatte
       vor Prozessbeginn erklärt, sie wolle Aufklärung – und eine gerechte Strafe
       für die Täter. Und erst kürzlich noch verfassten sie ihre Zwischenbilanz:
       Für sie stehe fest, dass beide Angeklagten, Stephan E. und Markus H., den
       Mord an ihrem Mann und Vater „seit Langem gemeinsam geplant und auch
       gemeinsam durchgeführt haben“.
       
       22 Sep 2020
       
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