# taz.de -- Die neue Moral beim Reisen: Paradigmenwechsel
       
       > Reisen ist in Verruf geraten. Eine neue besinnliche Bescheidenheit wird
       > propagiert – und das Weltenbummeln auf seine Kommerzialisierung
       > reduziert.
       
 (IMG) Bild: Das Glück Daheim
       
       Meine Freundin Regina, Rechtsanwältin, Anfang 60, war bis vor Kurzem eine
       passionierte Weltenbummlerin, die auch bei drei Fernreisen im Jahr nie
       sparen musste. Nachdem sie ein Leben lang die Welt bereist hat, propagiert
       sie nun leidenschaftlich das Wandern, den Outdoor-Ausflug vor der Haustür.
       Jene, die eine Flugreise auch nur ins Auge fassen, straft sie unerbittlich
       mit dem Wort Flugscham ab. Genauso vehement wie sie bislang ihr Vielreisen
       als absolutes „must“ in Bezug auf Weltoffenheit und Toleranzerfahrung
       verteidigte, findet sie nun, dass das Reisen überschätzt wird. Das meint
       auch [1][meine Kollegin in der taz.]
       
       Und die Zeit behauptet: [2][„Das Reisen ist das neue Rauchen.“] Jedenfalls
       fällt es immer mehr aus dem Verhaltenskanon aufgeklärter Bürgerlichkeit.
       Hinzu kommt: Selbstgenügsamkeit ist das Gebot in Zeiten des angeordneten
       Corona-Stillstands. Wie schön es sei, nicht mehr in die stressigen Flieger
       zu steigen, sondern stattdessen ein gutes Buch zu lesen, erklärt mir
       Regina. Auch das könne in andere Kulturen, andere Welten entführen,
       tiefgründiger gar. Man solle sich einfach den Daheimbleibenden zuwenden.
       Kochen und Gärtnern lernen, sich auf die kleinen Dinge besinnen!
       
       Das ist schön! Und man sollte unbedingt etwas davon für sein ganzes langes
       Leben entwickeln – mich machen diese Ratschläge jedoch zunehmend aggressiv.
       Besänftigungsstrategien, die Einschränkungen unter Corona schönreden und
       Erfahrungen wie das Reisen in ferne Länder nachträglich entwerten.
       
       Klar wird das Reisen im industriellen Tourismus, der immer neue,
       überflüssige Angebote kreiert, überschätzt. Ein Lifestyle wie heute veganes
       Essen.
       
       Der ausufernde Warencharakter des Tourismus ist im überschwappenden
       Overtourism unübersehbar. Und Flugscham sollte angesichts der Klimakrise
       jeden erröten lassen, der dreimal im Jahr nur so zur Abwechslung eine
       Fernreise bucht. Klimaverantwortung ist der notwendige Paradigmenwechsel.
       Das sehe ich ähnlich wie Regina.
       
       Dennoch verteidige ich den Wert des Reisens: das warme Meer in der Karibik,
       die überbordende Natur des Dschungels, neue Gerüche, neue
       Geschmackserfahrungen. Aber nicht nur diese sinnliche Erweckung, auch die
       Untiefen anderer Gesellschaften, andere Regeln, andere Normen, politische
       Bedingungen. Die oft entspannteren sozialen Beziehungen, mehr Humor – das
       Reisen hat nicht nur ganz banal meinen Horizont erweitert, sondern mich
       auch Demut gelehrt: Mein – möglicherweise privilegiertes – Leben ist auch
       nur ein Entwurf.
       
       Nervend ist vor allem der moralische Unterton dieses Paradigmenwechsels zur
       anmaßenden Bescheidenheit, die viele plötzlich geläuterte Zeitgenossen an
       den Tag legen. Die Welt soll wieder schrumpfen auf ein überschaubares Maß.
       Nationale Grenzen werden aufgewertet aus Angst vor infektiösen Begegnungen.
       Selbst regional wird ausgegrenzt: Menschen mit Zweitwohnsitz in
       Mecklenburg-Vorpommern sollten wegbleiben. Die Welt hat man entweder schon
       gesehen, oder sie ist keinen Aufbruch wert. Und ohnehin: Andere Länder,
       andere Kulturen seien völlig überschätzt, was in Zeiten der Globalisierung
       und der Erosion, die sie in der Gesellschaft auslöst, nicht ganz von der
       Hand zu weisen ist.
       
       Die Anstrengungen von weltweiten Projekten, die versuchen, den Tourismus
       nachhaltiger und menschlicher zu machen und sich eine Existenzgrundlage
       aufzubauen, hat ohnehin nie jemand groß interessiert. Auch nicht die
       fatalen Folgen des Zusammenbruchs der Tourismusindustrie etwa in Tunesien,
       wo sich inzwischen Tag für Tag Hunderte Flüchtlinge übers Meer nach Europa
       aufmachen. Man darf wieder unter sich sein, ohne ausgrenzend zu wirken.
       Gemütlich in seiner kleinen sicheren Welt. Früher nannte man das spießig.
       
       17 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Die-steile-These/!5699811&s=waltraud+schwab/
 (DIR) [2] https://www.zeit.de/kultur/2020-07/reisen-tourismus-klimaschutz-backpacking-selbstverwirklichung-goethe-fontane
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Edith Kresta
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Aufgeschreckte Couchpotatoes
 (DIR) Reisen
 (DIR) Klima
 (DIR) Aufgeschreckte Couchpotatoes
 (DIR) Kleidung
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Aufgeschreckte Couchpotatoes
 (DIR) Taxi
 (DIR) Reiseland Spanien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Nachruf auf eine Freundin: Ungebrochene Reiselust
       
       Etwas ausprobieren, was man vorher so nie gemacht hat. Bewegungsfreiheit
       und intensive Körperlichkeit. Das ist das Versprechen, dem wir nachreisen.
       
 (DIR) Gore-Tex-Erfinder gestorben: Uniformiert, aber frei
       
       Das Alternativmilieu hat Robert W. Gore viel zu verdanken. Ohne sein
       wasserabweisendes Gewebe ließe sich der Traum vom Landleben nicht erfüllen.
       
 (DIR) Karibik-Tourismus in der Coronapandemie: Schnelle Erholung nicht in Sicht
       
       Die Coronakrise deckt auf, dass das tourismusfixierte Entwicklungsmodell
       eine Einbahnstraße ist. Das fällt vielen Inseln auf die Füße.
       
 (DIR) Reisebeschränkungen in der EU: Alarm ohne Plan
       
       Die EU warnt vor steigenden Coronazahlen. Doch eine gemeinsame Strategie
       bei Reisebeschränkungen fehlt. Jedes Land macht seins. Fünf Beispiele.
       
 (DIR) Reisen und Flugscham: Alte Ziele, neue Wege
       
       Der Sündenfall beim Reisen ist unumkehrbar. Verzicht wird überall
       gefordert. Doch es geht nicht darum, ob wir reisen, sondern wie wir reisen.
       
 (DIR) Aufgeschreckte Couchpotatoes: Die Ausweitung der Warenzone
       
       Je weniger Regeln umso besser, so das Credo App-verwöhnter Modernisierer.
       Auch die Bundesregierung plant Fahrdienste zu liberalisieren.
       
 (DIR) Kolumne Aufgeschreckte Couchpotaoes: Nie wieder Barcelona!
       
       Es stimmt: Die Stadt Barcelona phantastisch, sie ist eine Reise wert. Doch
       der Massentourismus hat sie mittlerweile unausstehlich gemacht.