# taz.de -- Geflüchtete in Sachsen: Charmeoffensive in Freiberg
       
       > Vor fünf Jahren nahmen Bewohner*innen der sächsischen Kreisstadt
       > ankommende Geflüchtete mit Flaschenwürfen in Empfang. Wie ist die
       > Stimmung heute?
       
 (IMG) Bild: Zwischen Nikolaikirche und Theater: Wie friedlich Freiberg an diesem Sommertag wirkt
       
       Wer in Freiberg lebt, kennt sich – vom Grüßen, Sehen, manchmal auch vom
       Wegsehen. Sich aus dem Weg zu gehen, ist schwierig in dieser
       41.000-Einwohner-Stadt, die nicht ganz klein ist, aber auch nicht groß,
       sondern irgendwas in der Mitte, aber sie liegt ja auch in der Mitte von
       Sachsen, zwischen Dresden und Chemnitz, von daher passt das. Durch die
       gepflegte Altstadt mit Wallanlagen und Schloss schlängeln sich
       mittelalterliche Gassen, über den Obermarkt wacht Otto der Reiche in
       Bronze, über den Untermarkt der Dom mit seiner wertvollen Silbermannorgel.
       
       [1][Amir Nikou] ist einer der 80 Sängerinnen und Sänger des Domchors. Der
       ausgebildete Tenor ist 41 Jahre alt und stammt aus dem Iran. Er wirkt wie
       einer, der auf der Straße nicht wegsieht, sondern grüßt, und wenn er
       erzählt, was er alles so macht, strahlt seine Stimme sogar durchs Telefon:
       Er ist Mitbegründer der Bürgerbühne, singt zusätzlich zum Domchor im
       Gemeindechor Petri-Johannis, ist Dolmetscher für Geflüchtete und
       Asylbewerber und Teil der Kampagne #gesichtzeigen, mit der hundert
       Freiberger und Freibergerinnen für eine tolerante weltoffene Stadt werben.
       
       Amir Nikou ist eins der wenigen Gesichter mit Migrationshintergrund. Er
       sagt: „Ich versuche, ein Vorbild zu sein.“ Denn Freiberg ist nicht ganz so
       weltoffen, wie es gerne wäre.
       
       Vor fünf Jahren sorgte der Name der Stadt bundesweit für Schlagzeilen. Am
       Abend des 25. Oktober 2015 wurde in Freiberg ein Sonderzug mit etwa 700
       Geflüchteten aus Bayern erwartet. Sie sollten in Busse umsteigen, um auf
       Unterkünfte im Land Sachsen verteilt zu werden. [2][Ab dem späten
       Nachmittag versammelten sich bis zu 400 Menschen am Bahnhof], um durch eine
       Sitzblockade die Weiterfahrt der Busse zu verhindern. Die Polizei, mit 200
       Einsatzkräften vor Ort, musste Schlagstöcke und Pfefferspray einsetzen, um
       den Weg für die Busse freizuräumen, begleitet von Beschimpfungen, Flaschen-
       und Apfelwürfen.
       
       Offizielle Bilanz: mehrere leicht verletzte Beamte, verschiedene
       Strafanzeigen – und ein großer Imageschaden für die Stadt. Der sächsische
       Justizminister wird ein Jahr später auf Anfrage der Grünen erklären,
       politisch motivierte Kriminalität habe es bei den Ausschreitungen nur in
       einem Fall gegeben, nämlich einen Hitlergruß.
       
       Zum Zeitpunkt der Ausschreitungen wohnt Amir Nikou schon eineinhalb Jahre
       in Freiberg. Er fährt zufällig mit dem Rad am Bahnhof vorbei, wo einige
       Freunde aus der iranischen Gemeinde beim Unterstützerkomitee
       mitdemonstrieren. Sie fordern ihn auf, sich ihnen anzuschließen, aber er
       lehnt ab. Er habe gesagt: „Das ist euer Land“, erzählt er, nicht weil er
       sich Deutschland nicht verbunden fühlt, sondern weil er damals noch keine
       deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. „Ich fand, dass ich kein Recht dazu
       habe.“
       
       Im Jahr 2012 hatte Nikou den Iran verlassen, um in Italien Gesang zu
       studieren. Während er in seiner Heimat als Christ zu einer verfolgten
       Minderheit gehört, die ihren Glauben nur im Geheimen praktizieren kann,
       entdeckt er in Italien, was es heißt, seine Religion offen ausleben zu
       können. Doch genau das wird schließlich zum Problem. Freunde warnen ihn vor
       einer Rückkehr, sein Studium kann er nicht fortsetzen, weil ihm die Papiere
       fehlen, er hängt in der Luft.
       
       Er verbringt ein paar Monate bei Freunden in Hamburg, währenddessen werden
       Bekannte im Iran verhaftet, weil sie Christen sind. Nach sieben Monaten
       gibt er die Hoffnung auf, zurückkehren zu können, und entscheidet sich,
       einen Asylantrag zu stellen. Nach drei Wochen im Asylbewerberheim in
       Chemnitz landet er am 21. März 2014 in Freiberg.
       
       Seither bereichert er das kulturelle Leben der Stadt. Er spielte schon den
       „Luther aus Teheran“, sang Schuberts „Winterreise“ und wird als nächstes
       Humboldt verkörpern. Obwohl er sein Studium nicht beenden konnte, wirkt er
       zufrieden. Seit einem Jahr macht Nikou eine Ausbildung zum Erzieher, auch
       dort kann er seine musischen Talente einbringen. „Ich versuche, positiv zu
       sein.“ Integration vormachen, vorleben, verkörpern.
       
       Ja, es gebe „Unfreundlichkeit“ in Freiberg, formuliert er vorsichtig. Aber
       er habe vor allem Freundlichkeit und Unterstützung erfahren. Als ihm
       kurzfristig eine Abschiebung drohte, halfen ihm Menschen aus der
       Kirchengemeinde, jetzt will er etwas zurückgeben.
       
       Ob er sich in Freiberg voll integriert fühlt? „Ich habe mich nie verletzen
       lassen“, sagt Nikou, „ich war immer selbstbewusst in mir.“ Vielleicht rührt
       diese innere Ruhe aus seinem Glauben. Vielleicht geht es aber auch gar
       nicht anders, wenn man in einer Stadt lebt, in einem Land, in dem viele
       Menschen gegen einen sind, weil man nicht von hier kommt, vielleicht sogar
       eine andere Hautfarbe hat. Ist Amir Nikous unerschütterlicher Optimismus,
       sein positives Denken seine Überlebensstrategie?
       
       Bei den Kommunalwahlen 2019 wurde die AfD stärkste Kraft im Freiberger
       Stadtrat, gefolgt von der CDU und den Freien Wählern. Der parteilose
       Oberbürgermeister Sven Krüger regiert mit den Stimmen eines inoffiziellen
       Rechtsbündnisses, das neben der FDP und den Freien Wählern von einer CDU
       mitgetragen wird, die rechter ist als die CDU Sachsens. In den „Freiberger
       Thesen“ hatte der CDU-Ortsverband Ende 2017 die Bundeskanzlerin für ihre
       Asylpolitik kritisiert und sie sowie Generalsekretär Tauber zum Rücktritt
       aufgefordert. Der CDU-Ortsvorsitzende Holger Reuter schloss damals in einem
       MDR-Interview eine Koalition mit der AfD nicht aus.
       
       Ebenfalls 2017 hatte OB Krüger publikumswirksam eine Rechnung über 736.200
       Euro ans Bundeskanzleramt geschickt – so viel habe die Stadt die
       Integration der 1.700 anerkannten Geflüchteten und Asylbewerber im Jahr
       2016 gekostet. Im Jahr 2018 verließ er seine Partei, die SPD, und
       verkündete via Facebook, er empfinde angesichts der Politik der Großen
       Koalition ein „Fremdschämen“. Im selben Jahr versuchte er, [3][eine
       Zuzugssperre für Geflüchtete und Asylsuchende beim Landkreis zu erwirken] –
       und scheiterte.
       
       Zu verdanken ist das auch der Rechtsaufsichtsbeschwerde, die Jana Pinka
       erfolgreich bei der Landesdirektion einlegte. „Mein Lebenswerk“, sagt die
       Stadt- und Kreisrätin der Linken mit leichter Ironie und echtem Stolz,
       während sie im Café Momo einen frisch gebrühten orientalischen Mokka
       trinkt. „Der Antrag kam, als gar kein Zuzug mehr stattfand.“
       
       Bis 2019 saß die 56-Jährige für die Linke im sächsischen Landtag. Sie ist
       herzlich, direkt und der Typ hartnäckige Abgeordnete, „ich war schon immer
       die Querdenkerin“. Pinka hat zahlreiche Anfragen im Landtag gestellt,
       Beschwerden eingereicht zu dem, was auf die Ereignisse 2015 folgte.
       Beschimpfungen auf der Straße, Anfeindungen in den sozialen Netzwerken –
       sie ist froh, dass sie jetzt „wieder zum Fußvolk“ gehört. Es ist ruhiger
       geworden für sie.
       
       „Die CDU ist dafür verantwortlich, dass die AfD so erstarkt ist“, sagt
       Pinka. „Jetzt sind sie die Getriebenen.“ Getrieben wie auch OB Krüger, von
       dem sie sagt, „er sollte ein bisschen mehr Rückgrat zeigen“. Sie klingt
       fast mitleidig. „Er war 2015 noch nicht lange im Amt und sicherlich von der
       Situation etwas überfordert.“ Doch das ist fünf Jahre her – seine Haltung
       hat sich eher versteift.
       
       Muaiad Ibrahim, ein alter Bekannter von Pinka, kommt im lachsfarbenem Hemd
       auf einen Kaffee vorbei, er hat Urlaub. Der promovierte Jurist aus Syrien
       koordinierte 2015 in der [4][Gesellschaft für Strukturentwicklung und
       Qualifizierung (GSQ)] die Unterbringung der ankommenden Geflüchteten für
       den Landkreis Mittelsachsen. „Ich war froh, dass ich helfen konnte, den
       Neuankömmlingen die deutsche Kultur und ihre Werte entgegenzubringen“, sagt
       er. „In den Ämtern hier gibt es kaum Leute mit Migrationshintergrund.“
       
       Heute arbeitet Ibrahim als Koordinator [5][des Bunten Hauses, eines
       Mehrgenerationentreffs]. Dort bieten sie Tandemsprachkurse, Volkstanzkurse,
       Nähkurse für Geflüchtete an. „Basisarbeit“, sagt Ibrahim. „Und die braucht
       wirklich Zeit.“ Er rechnet mit mindestens einer Generation, die älteste
       seiner vier Töchter hat gerade Abitur gemacht. Bei seiner Arbeit für die
       GSQ agierte er oft als Vermittler zwischen den Kulturen: „Wenn ich auf die
       Menschen zugehe, kann ich Ängste abbauen. Es stimmt nicht, dass alle Leute
       Ausländer hassen. Aber es gibt viel Propaganda.“
       
       Ibrahims Job bei der GSQ endete im Jahr 2017. Im Februar 2016 begleitete er
       in einem Bus Geflüchtete nach Clausnitz, [6][der von rechten
       Demonstrant*innen blockiert und attackiert wurde]. „Es war schrecklich“,
       sagt Ibrahim, aber: „Dies war Clausnitz und nicht Freiberg.“ Ähnlich wie
       Amir Nikou sieht er sich dem Positiven und der Integration „von beiden
       Seiten“ verpflichtet. „Wenn wir über die Deutschen reden, dann dürfen wir
       sie auf keinen Fall als rechtes Pack darstellen“, sagt er. „Das entspricht
       nicht der Wahrheit. Mein Dank an dieser Stelle gebührt den vielen
       Ehrenamtlern aus Freiberg, die unsere Arbeit erleichtern. Schreiben Sie
       das!“
       
       An Freibergs Stadtmauer hängt eine Aufschrift aus dem Jahr 1554: „Das Heil
       der Stadt ist die Eintracht der Bürger.“ Darunter gibt ein moderner
       Durchbruch den Blick auf ein innerstädtisches Parkhaus frei.
       
       Außerhalb der Stadtmauer, in der Johannisvorstadt, eine Viertelstunde
       Gehzeit vom Zentrum entfernt, liegt das Gemeindehaus St. Johannis. Es ist
       Wohnort und Wirkungsstätte von Pfarrer Michael Stahl. Ein klassischer
       20er-Jahre-Bau, in dessen Garten zu DDR-Zeiten ein Glockenturm gebaut
       wurde. Die Gemeinde führt das Sankt im Namen, weil das Gelände früher zu
       einem katholischen Stift gehörte. Der Gemeindesaal, von hundert auf zehn
       Stühle reduziert, wird gerade für das Seniorentreffen am Nachmittag
       hergerichtet. Licht fällt rechts und links durch moderne bleiverglaste
       Oberlichtfenster. Über der Eingangstür versteckt sich die silberne Orgel.
       
       Stahls Gemeinde ist fusioniert, also groß. 2.400 Mitglieder. Obwohl erst
       seit gut einem Jahr im Amt, ist der gebürtige Erzgebirgler, Jahrgang 1978,
       sofort ins Zentrum des Geschehens katapultiert worden. Er gehört zu den
       Mitbegründern des im letzten Jahr entstandenen Aktionsbündnisses
       [7][„Freiberg für alle“], das die Plakataktion #gesichtzeigen gestartet
       hat. Es geht um „Empowerment“, erklärt Stahl die Idee des Netzwerks. „Wir
       wollen helfen, Menschen darin zu unterstützen, in ihrem Umfeld Ideen und
       Haltung zu entwickeln.“ Mit der Plakataktion hatten sie „von Anfang an das
       Ziel, positiv für etwas zu werben“, sagt Stahl. Auch das eine
       Charmeoffensive. Herz statt Hetze.
       
       Schon Stahls Vorgänger, Pfarrer Michael Tetzner, hatte eine iranische
       Glaubensgruppe innerhalb der Petri-Johannis-Gemeinde betreut, zu der 2015
       auch Amir Nikou dazu kam. „Am Anfang ging es um praktische
       Flüchtlingshilfe“, erklärt Stahl. „Das ist kein drängendes Thema mehr.“ Der
       Punkt für ihn ist jetzt: „Wie ergeht es der Zivilgesellschaft, wenn die AfD
       mit ihren politischen Leitbildern weiter an Einfluss gewinnt? Sie führt
       einen klassischen Kulturkampf und besetzt Themen, bei denen es darum geht,
       rassistische Kriterien salonfähig zu machen.“ Diesen Kulturkampf führt sie
       teilweise in der Kirche und teilweise gegen sie. Da, wo es Pfarrer wie
       Stahl gibt.
       
       [8][Im März 2019 hatte sich eine Auseinandersetzung der Stadt mit dem
       Theater zugespitzt.] Anlass war die „Dialog“-Reihe des Theaters, ein
       Debattenformat, bei dem die Autorin Liane Bednarz, eine Expertin für die
       neue Rechte, [9][ihr Buch „Die Angstprediger]. Wie rechte Christen
       Gesellschaft und Kirchen unterwandern“ vorstellen und diskutieren sollte.
       Kirchenmann Michael Stahl war als Gast der Diskussionsrunde eingeladen,
       moderieren sollte den Abend der FAZ-Journalist Stefan Locke. Zwei Monate
       vor den Landtagswahlen machte die AfD Druck, bis die Stadtspitze
       schließlich entschied, die Diskussion aus dem Theater in den Festsaal der
       Stadt zu verlegen.
       
       Für September hat Pfarrer Stahl die Autorin Bednarz erneut eingeladen. Ihm
       liegt das Thema am Herzen. „Wir wollen den Dialog aufnehmen“, sagt Stahl.
       „Was ist konservativ? Was ist neurechts? Diese Unterschiede muss man
       herausarbeiten.“ Aber dieses Mal wird die Kirche die Veranstalterin sein,
       und die ist autark. Die Landeskirchenleitung stehe hinter ihm, versichert
       Stahl.
       
       Mit Blick auf die USA fürchtet er, dass evangelikale und konservative
       Christen für autoritäre und neurechte Positionen sein könnten und solche
       Einflüsse auch nach Sachsen ausstrahlen. Wo setzt eine solche Beeinflussung
       oder auch Unterwanderung an? „Wenn man Nationen zur göttlichen Ordnung
       erklärt“, nennt er ein Beispiel. „Patriotismus kann ich dagegen als
       konservative Position gelten lassen.“
       
       Von der Johannisvorstadt durch die Wallanlagen zurück in die Altstadt ist
       es nicht weit. In den Auslagen der Geschäfte warten Plauener Spitze,
       Schultüten aus Frottee, Räuchermännchen und Holzspielzeug aus dem
       Erzgebirge auf touristische Kundschaft, die zu Coronazeiten dünn gesät ist.
       Auch [10][das Mittelsächsische Theater am Buttermarkt] liegt da wie
       ausgestorben.
       
       Intendant Ralf-Peter Schulze steht, nicht im typischen Schwarz der
       Regisseure, sondern leger in Jeans und Hemd gekleidet, in seinem
       Intendantenzimmer mit Blick auf die Nikolaikirche und sagt: „Die Stadt
       müssen wir immer wieder gewinnen. Wir haben eine integrative Aufgabe,
       Menschen unterschiedlichster Prägung zu erreichen. Ohne unsere Haltung zu
       verlieren.“ Von Haltung ist in dieser Stadt viel die Rede.
       
       Schulze, Jahrgang 1955, geboren in Weimar, mit Theatersozialisation in
       vielen ostdeutschen Städten, ist seit 2011 der künstlerische Intendant des
       Mittelsächsischen Theaters, das auch eine Philharmonie und Oper hat und
       eine Dependance in Döbeln. Das Stammhaus am Buttermarkt trägt auf der
       Fassade die Inschrift „Die Kunst gehört dem Volke“, noch aus der DDR-Zeit.
       
       Der Intendant führt seine Gäste in den Theatersaal mit den geschwungenen
       Rängen, wo gerade zwei Drittel der rot gepolsterten Bestuhlung
       herausgenommen wurde. Dort soll ab September Theater als Salonkultur wieder
       aufleben. „Ich bin irritiert über die Spontaneität der Politik, was die
       Abstandsregeln angeht“, spottet Schulze. Bis zum 31. Dezember ist sein Haus
       mit den etwa 180 Festangestellten in Kurzarbeit.
       
       Im Februar waren Girlanden über die Gassen gespannt, die mit „Sein oder
       Nichtsein“ für einen Theaterbesuch warben. Nicht Shakespeares Hamlet,
       sondern die Lubitsch-Komödie. Jetzt im Juli verteilt Schulze von der
       Theaterschneiderei gefertigte Schutzmasken, die diese Inschrift tragen. Um
       Sein oder Nichtsein ging es schon öfter für das Theater, zumindest um seine
       Existenz als ein Ort der Freiheit der Kunst und der gesellschaftlichen
       Debatte.
       
       Ein AfD-Stadtrat hatte sich in einem Facebook-Post beschwert, dass im
       Programmheft zu „Sein oder Nichtsein“ ein Text aus einem Buch von Niklas
       Frank abgedruckt war. Der Sohn von Hitlers Generalgouverneur Hans Frank hat
       mehrfach gegen die AfD-Rhetorik Stellung bezogen. „Wir haben die
       Blauäugigkeit verloren“, sagt Schulze. „Der Kulturkampf von rechter Seite
       ist in vollem Gange. Es geht um existenzielle Rechte.“
       
       Blauäugig oder gut gemeint waren die Schminkaktionen auf dem Marktplatz,
       die Musik- und Schauspieldarbietungen, die es im Herbst 2015 auch als
       Gegenreaktion auf die Vorkommnisse im Bahnhof gab. Als im Dezember die
       „Bühne der Weltoffenheit“ als Gegenaktion zu einer AfD-Kundgebung
       stattfand, wurde es schon deutlich ungemütlicher, erinnert sich Schulze.
       „Man hat sich öffentlich sortiert.“
       
       Das Theater durfte keine öffentlichen Mittel für die „Bühne der
       Weltoffenheit“ aufwenden und die Theaterleute durften dort nur als
       Privatpersonen auftreten. „,Was darf Theater' wurde schon hier zum Thema“,
       sagt Schulze. „Theater werden für bestimmte Stücke angefeindet. Begriffe
       wie Meinungsfreiheit, Toleranz, Demokratie, Menschenrechte haben wir
       schärfer gestellt, um auch gerade den rechten Umdeutungsversuchen eine
       Haltung entgegenzusetzen.“
       
       Am Bahnhof war Schulze 2015 nicht. „Die Ausschreitungen hielt ich für eine
       Entgleisung“, erinnert er sich. „Wir haben damals noch nicht daraus
       geschlossen, dass dies ein gesamtgesellschaftliches Bild ist. Es wurde aber
       schnell klar, wie wichtig es wird, Gesicht zu zeigen.“
       
       Anselm Peischl, der für die Grünen im Kulturausschuss sitzt, gehörte im
       Jahr 2015 zu dem kleinen Willkommenskomitee, das „eigentlich zuerst“ am
       Bahnhof war. Dann seien plötzlich die Gegner*innen der Merkel’schen
       Flüchtlingspolitik aufgetaucht: normale Leute – heute würde man sagen:
       Wutbürger –, einige stadtbekannte Neonazis und, vermutet Peischl, Externe
       aus der rechten Szene. „Die Situation war sehr stressig, aber kein
       Gewaltexzess“, sagt der 30-Jährige. „Doch es war das erste Mal, dass so
       unterschiedliche Gruppen von Menschen zusammenkamen. Bis dahin kannten wir
       nur die NPD-Demos. Und was den Flüchtlingen und uns entgegenschlug, kann
       man schon als blanken Hass bezeichnen.“
       
       Von der neuen Offensive #gesichtzeigen des Aktionsbündnisses Freiberg für
       alle ist Peischl nicht überzeugt. „Das ist nett, aber ändert nichts“, sagt
       er. „Die AfD hat es hingekriegt, bürgerlich zu erscheinen. Und die
       Gegenrede ist noch immer sehr verhalten.“
       
       Der Kulturkampf macht sich an Kleinigkeiten fest, die nicht klein sind. Es
       geht um Umdeutung und Deutungshoheit, es geht um das Verschieben von
       Grenzen des Sagbaren und Machbaren. Peischl ist mit seinem Projekt, eine
       Art Jugendclub aufzuziehen, gescheitert. „Als hätte man die nächste
       Antifa-Ausbildungsstätte errichten wollen“, stöhnt er. „Dabei ging es um
       junge Kultur, Begegnungsorte und kreative Freiräume.“
       
       Ein Antrag der SPD, mehr Bürgerbeteiligung zu schaffen und die
       Stadtratssitzungen öffentlich zu streamen, wurde im Juli abgelehnt. Als
       „Freiberg für alle“ im Juni sein neues Magazin der Kampagne #gesichtzeigen
       herausbrachte, lagen die Hefte an kommunalen Stellen aus. Die AfD
       beschwerte sich. Kurz darauf waren sie verschwunden.
       
       Theaterintendant Ralf-Peter Schulze sagt: „Das Bild von Freiberg ist
       diverser heute. Die Stadt ist sensibler, der Mut gewachsen. Und die das
       spüren, sind aggressiver geworden.“ Pfarrer Michael Stahl ahnt, dass „die
       alten Reflexe zu Migration sich jederzeit wieder bedienen lassen. Immer,
       wenn es kein anderes Thema gibt.“
       
       Gerade gibt es ein anderes Thema: Corona. An einem Montagabend im Juli
       steht ein versprengtes Grüppchen von etwa 30 Menschen auf dem Obermarkt.
       Sie sind gegen Maskenpflicht und gegen den angeblichen Impfzwang, fordern
       „freie Entfaltung der Persönlichkeit“. Wie viele Akteure und wie viele
       Publikum sind, ist nicht genau auszumachen. Aber es wird geklatscht.
       
       Amir Nikou hat inzwischen seine Einbürgerung beantragt, am Donnerstag hat
       er „ein dickes Buch“ mit Dokumenten, Zeugnissen und Empfehlungsschreiben
       bei den Behörden abgegeben. Er möchte ein vollwertiges Mitglied der
       Gesellschaft sein und wählen gehen. Und demonstrieren können, wenn es
       darauf ankommt.
       
       8 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://site.freibergfueralle.de/gesichtzeigen-amir-nikou
 (DIR) [2] /Neue-Angriffe-auf-Fluechtlinge/!5245043&s=freiberg/
 (DIR) [3] /Aufnahmestopp-im-saechsischen-Freiberg/!5484302&s=Jana+Pinka/
 (DIR) [4] https://www.gsq-freiberg.de/
 (DIR) [5] http://freiberg.cjd-chancen.de/
 (DIR) [6] /Angriff-auf-Fluechtlingsbus-in-Clausnitz/!5277063
 (DIR) [7] https://site.freibergfueralle.de/freibergfueralle
 (DIR) [8] /AfD-macht-Druck-auf-Kulturinstitutionen/!5591620&s=freiberg/
 (DIR) [9] https://www.droemer-knaur.de/buch/liane-bednarz-die-angstprediger-9783426277621
 (DIR) [10] https://www.mittelsaechsisches-theater.de/
       
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