# taz.de -- Folgen der Katastrophe in Beirut: Nicht die letzte Erschütterung
       
       > Wenn sich die Trauer der Libanesen in Wut verwandelt, werden sehr
       > wahrscheinlich starke politische und soziale Erschütterungen folgen.
       
 (IMG) Bild: Nur noch eine Trümmerlandschaft: Blick auf den Hafen von Beirut
       
       Der Begriff „grob fahrlässig“ lässt sich eigentlich nicht steigern. Aber im
       Fall der [1][Explosion, die weite Teile Beiruts erschüttert] und im Hafen
       und dessen benachbartem Viertel Verwüstung angerichtet hat, müsste
       eigentlich eine noch gröbere Bezeichnung erfunden werden, um die Handlungen
       der Verantwortlichen zu beschreiben.
       
       Bei einem der blutigsten Anschläge in der US-Geschichte vor 9/11 auf das
       Gebäude einer US-Bundesbehörde 1995 in Oklahoma waren 168 Menschen ums
       Leben gekommen. Die beiden Attentäter benutzten für ihre Bombe eine Mixtur
       [2][mit Ammoniumnitrat].
       
       Am Ort der Explosion, im Hafen von Beirut, waren über 2.700 Tonnen dieses
       Stoffes gelagert. Die Chemikalie kann bei Hitze Gase bilden und sich bei
       Verunreinigung, etwa mit Öl, selbst entzünden. Das Ammoniumnitrat war
       jahrelang vollkommen unsachgemäß gelagert worden. Inkompetenz und
       wahrscheinlich Korruption wurden gestern in Beirut zum Massenmörder.
       
       Dass das Ganze wohl kein Anschlag war, macht es für die Libanesen nicht
       weniger politisch. Für sie ist es ein weiterer Beweis dafür, dass sie
       inzwischen in einem völlig gescheiterten Staat leben. Die einstige Schweiz
       des Nahen Ostens, als die sich der Libanon einst gerne vermarktet hat, ist
       nur noch ein Schatten ihrer selbst.
       
       Bereits vergangenes Jahr gingen die Libanesen monatelang gegen
       Misswirtschaft und Korruption auf die Straße. Das Land erlebte eine
       Wirtschaftskrise bisher unbekannten Ausmaßes. [3][Dann kam Covid-19], das
       Desaster wurde zur Katastrophe. Der damalige Sozialminister Ramzi
       Musharrafieh warnte bereits im Frühjahr, dass drei Vierte[4][l der
       Libanesen nicht mehr ohne finanzielle Unterstützung] oder andere Arten von
       Hilfslieferungen über die Runden kommen.
       
       Auf Facebook tauchten in den letzten Monaten vermehrt Seiten auf, auf denen
       [5][Libanesen auch wegen ihrer fast täglich weiter abstürzenden Währung
       begannen], Waren zu tauschen. Nach dem Motto: „Ich habe ein paar schicke
       Frauenschuhe und brauche dringend Kinderkleidung.“ Die Verzweiflung hat
       viele Gesichter.
       
       Am 3. Juni 2020 schoss sich der 61-jährige Ali Al- Hiq mitten auf der
       Beiruter Einkaufsstraße Al-Hamra mit einer Pistole in den Kopf. Neben ihm
       auf dem Boden lag eine libanesische Flagge, ein polizeiliches
       Führungszeugnis, das ihm Unbescholtenheit attestiert, und eine
       Abschiedsnotiz: „Nicht ich bin ein Ungläubiger, der Hunger ist der
       Ungläubige.“
       
       Die Verzweiflung ist überall im Land zu spüren. Doch die völlig
       zerstrittene politische Elite und die regierenden Familienclans sind
       unfähig, die Krise zu meistern. Sie arbeiten immer noch in den überkommenen
       konfessionellen Schemata und versuchen, sich durch den üblichen Kuhhandel
       untereinander durch die Krise zu schmuggeln.
       
       In dieser angespannten Situation hat die Explosion nicht nur eine
       unglaubliche Zahl von Toten und Verletzten hinterlassen und das Leben
       Tausender Familien zerstört, sie hat auch die ohnehin wackligen Grundfesten
       des politischen Systems im Libanon erschüttert. Schon am Mittwoch sprachen
       die Libanesen davon, dass sie wieder auf die Straße gehen wollen. Der Ärger
       über Misswirtschaft, Nachlässigkeit und Korruption dürfte seit gestern
       keine Grenzen mehr kennen.
       
       Die Regierung rief einen zweiwöchigen Ausnahmezustand aus, wohl nicht nur
       um die Scherben zusammenzukehren, sondern auch in Erwartung dessen, was
       geschieht, wenn sich die Trauer der Libanesen in Wut verwandelt. Insofern
       war die gestrige Explosion nur der Anfang. Ihr werden sehr wahrscheinlich
       mindestens so starke politische und soziale Erschütterungen folgen.
       
       5 Aug 2020
       
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