# taz.de -- Krieg um Berg-Karabach: Dem Hass trotzen
       
       > Die Beziehungen zwischen Aserbaidschan und Armenien sind vergiftet.
       > Friedensaktivist*innen aus beiden Ländern wollen die Gräben überwinden.
       
 (IMG) Bild: Eine Frau in ihrem zerstörten Haus in Tovuz im Norden Aserbaidschans
       
       Baku/Jerewan taz | Diese neue Eskalation verstört mich. Ein Friedensprozess
       in naher Zukunft? Nein, da ist jetzt nur Hoffnungslosigkeit“, schreibt
       Sevinj Samadzade in einer WhatsApp-Nachricht vom Donnerstag.
       
       Das Tête-à-Tête findet in einem Café im Zentrum der aserbaidschanischen
       Hauptstadt Baku statt. Der Name des Etablissements tut nichts zur Sache.
       Denn hier trifft sich bei Latte macchiato, hausgemachtem Gebäck und
       Limonade auch die Opposition. Oder das, was von ihr übrig geblieben ist.
       Unter Staatschef Ilham Alijew, der die Südkaukasusrepublik mit seinem
       Familienclan seit 2003 eisern im Griff hat, sitzen derzeit mehrere Dutzend
       Personen aus politischen Gründen ein.
       
       Erst vergangene Woche wurden wieder sechs Oppositionspolitiker im Zuge von
       Protesten für ein militärisch härteres Vorgehen gegen den Nachbarn Armenien
       festgenommen. Mit „der fünften Kolonne abrechnen“ nennt Alijew das, wenn
       seine Schergen Demonstrant*innen in Polizeibusse zerren und an einen
       unbekannten Ort bringen.
       
       Als Sevinj Samadzade das Café betritt, schauen einige Gäste von ihren
       Laptops auf und nicken der jungen Frau kurz zu. Ihr Vorname bedeute Glück,
       sagt die 25-Jährige und lächelt. Glück, das sie in ihrem Leben nicht immer
       hatte.
       
       ## Militärische Konfrontation
       
       Sevinj Samadzade stammt aus Towuz, einer Region in Norden Aserbaidschans,
       die an Georgien und Armenien grenzt. Dieser Tage ist die Region Schauplatz
       einer erneuten militärischen Konfrontation zwischen Aserbaidschan und
       Armenien. Seit dem Ausbruch des Krieges um Berg-Karabach Anfang der 1990er
       Jahre sind die beiderseitigen Beziehungen von tief sitzendem Hass geprägt.
       
       Samadzade wächst als Halbwaise auf, ihr Vater stirbt mit 35 Jahren an einem
       Herzinfarkt, oder wie sie sagt: „an gebrochenem Herzen wegen der
       Schießereien, die er wohl nicht mehr ertragen hat“. Nach ihrem
       Schulabschluss zieht sie nach Baku. Sie macht einen Bachelor in
       Internationalen Beziehungen, es folgt ein mehrmonatiger Studienaufenthalt
       in den USA. In San Diego nimmt sie an einem Programm über Friedens- und
       Konfliktforschung teil.
       
       Seit ihrem 14. Lebensjahr sei sie Aktivistin und Feministin, erzählt sie.
       Zunächst widmet sie sich Genderfragen. Seit 2013 engagiert sie sich in der
       Friedensarbeit und organisiert über internationale Netzwerke Workshops. Das
       klingt einfacher, als es ist, da Aktivist*innen wie Samadzade in
       Aserbaidschan legal keine Nichtregierungsorganisation gründen dürfen. Die
       Teilnehmer*innen kommen zu gleichen Teilen aus Armenien und Aserbaidschan,
       die Workshops selbst finden in Georgien statt. Das ist der einzige Ort im
       Südkaukasus, wo sie direkt zusammenkommen können.
       
       ## Effektive Feindpropaganda
       
       Viele Aseris begegnen dann zum ersten Mal jemandem aus Armenien und
       umgekehrt. „Die Feindpropaganda ist effektiv“, sagt Samadzade. Das sei auch
       daran zu erkennen, dass das Thema Berg-Karabach bei den Gesprächen in der
       Regel ausgespart werde. „Aber beim Abschied fließen immer Tränen. Das ist
       jedes Mal beeindruckend.“
       
       Zwar gilt Georgien als sicherer Ort, doch mit geschützten Räumen ist das in
       Zeiten von Social Media so eine Sache. Im Überschwang gepostete Fotos
       können schnell zum Verhängnis werden. Sofort machen dann wüste
       Schimpftiraden von „Vaterlandsverräter*innen“ die Runde. In Aserbaidschan
       hatten einige Workshopteilnehmer*innen nach ihrer Rückkehr aus Georgien
       auch schon mal einen außerplanmäßigen Termin bei der Universitätsleitung.
       
       „Eins weißt du ganz genau: Die Regierung ist offiziell nicht auf deiner
       Seite. Deshalb müssen auch wir vieles unausgesprochen lassen.“ Selbst
       einige der sogenannten Peace-Builder und die politische Opposition stünden,
       wenn die Kampfhandlungen wieder aufflammten, wie ein Mann hinter der
       Regierung, sagt Sevinj Samadzade. Die Regierung nutze den Konflikt und die
       Militarisierung, um die Zivilgesellschaft unter Kontrolle zu halten.
       
       Sie selbst sei oft von inneren Konflikten zerrissen. Warum tut sie sich das
       alles trotzdem an? „Für mich“, sagt Sevinj Samadzade, „ist meine Tätigkeit
       zwangsläufig. Ich bin direkt davon betroffen, alle sind das.“ Und plötzlich
       sind sie wieder da, die Bilder von der Frontlinie im April 2016. Von Toten
       auf den Straßen und traumatisierten Menschen, die ihre Angehörigen verloren
       haben. Von Kindern, die an Epilepsie, Diabetes und anderen Erkrankungen
       leiden. Und von Frauen, die wieder in alte Rollenmuster zurückgeworfen
       werden in einem Krieg, den die Männer unter sich ausmachen.
       
       ## Hoffnung auf ein menschlicheres Leben
       
       „Ich will mein Möglichstes tun, damit sich diese Situation ändert“, sagt
       Samadzade. Dazu müssten vor allem auch junge Aseris miteinbezogen werden
       und ihre Visionen artikulieren. „Unsere Gesellschaft muss sich von Gewalt
       frei machen, wir müssen uns diesen Konflikt aneignen. Das kann nicht in
       erster Linie die Aufgabe internationaler Organisationen sein“, sagt sie.
       Ihre Vision ist schnell auf den Punkt gebracht: ein Frieden, der mehr ist
       mehr als die Abwesenheit von Krieg. „Gerechtigkeit, weniger Korruption und
       ein menschlicheres Leben für alle.“
       
       Die Bereitschaft in der Gesellschaft, etwas zu verändern, muss dazu wachsen
       – und das dürfte dauern. „Ich träume davon“, sagt Sevinj Samadzade noch,
       „dass ich irgendwann an die Grenze nach Berg-Karabach gehe. Und da werden
       dann keine Soldaten mehr stehen.“
       
       Drei Minuten zu Fuß von dem Café entfernt befindet sich eine Buchhandlung.
       Die hintere Wand verdeckt ein Plakat mit dem Bild des ehemaligen
       Präsidenten Heydar Alijew, der 2003 gestorben ist. Daneben steht in großen
       Lettern: „Mein Ziel ist, den Stolz und die Werte meines Volkes zu
       verteidigen.“ Die Regale darunter sind mit den Weisheiten der
       Alijew-Familie gefüllt. Heydar bringt es auf 46 Bände, Sohn Ilham auf 86.
       Eine andere Abteilung hält Publikationen in verschiedenen Sprachen über den
       Krieg in Berg-Karabach bereit. „Der Genozid der Armenier an Muslimen, Juden
       und Christen seit 1918“ lautet ein Titel, „Zeugnisse eines
       Kriegsverbrechens – Armenien auf der Anklagebank“ ein anderer.
       
       Auf einer Anhöhe außerhalb von Baku herrscht gespenstische Stille. Şəhidlər
       Xiyabanı heißt der Ort, was „Allee der Märtyrer“ bedeutet. Hier sind die
       Opfer des Berg-Karabach-Krieges bestattet. Schnurgerade reihen sich die
       Gräber aneinander, Vor- und Nachname, Geburts- und Sterbedatum sowie das
       Konterfei der Getöteten sind in Stein gemeißelt. Einige Spaziergänger*innen
       gehen die Allee entlang, halten inne mit gesenktem Kopf. Jemand legt eine
       rote Nelke nieder.
       
       ## Gräber, auch jenseits der Grenze
       
       Gräber, so weit das Auge reicht, auf einer 20 Hektar großen Fläche. Einige
       Steinplatten schmücken frische Blumen. Jerablur heißt das Areal auf einem
       Hügel am Rand der armenischen Hauptstadt Jerewan. Hier ruhen etwa 1.000
       Soldaten, gestorben im Krieg um Berg-Karabach, vielleicht auch mehr, viele
       gelten als vermisst. Auf einem Platz erhebt sich eine Kirche. An der Wand
       lehnt ein Mann, unschlüssig, ob er sie betreten soll.
       
       Die Taxifahrt ins Zentrum dauert 20 Minuten. Bauten aus rosa-gelben
       Tuffsteinen bilden einen Ring, in dessen Mitte Wasser aus Fontänen eines
       Brunnens in die Höhe schießt. Im Frühjahr 2018 demonstrierten hier
       Hunderttausende während der Samtenen Revolution wochenlang für Nikol
       Paschinjan, der heute Premierminister ist.
       
       Die Cafés sind gut besucht. Buchhandlungen präsentieren Bestseller,
       darunter „Aserbaidschanischer Vandalismus gegen das armenische Kulturerbe“
       oder „Das Tagebuch von Arzach – grün und schwarz – Weder Krieg, noch
       Frieden“ – eine 520-seitige Kriegsdokumentation. Arzach ist der armenische
       Name für die Region Berg-Karabach.
       
       Das Kulturcafé „Mirzoyan – Library“ ist nur zehn Minuten zu Fuß vom Platz
       der Republik entfernt. Viele Revolutionär*innen sind Stammgäste in diesem
       alten zweistöckigen Haus. In einer separaten Bibliothek sitzen
       Künstler*innen, Journalist*innen und Politiker*innen zusammen. Und
       Menschen, die jung und kreativ sind oder sich dafür halten.
       
       Lilit Gizhlarjan verbringt ihre Abende oft hier. Seit sechs Jahren setzt
       sich die 27-Jährige dafür ein, dass Armenier*innen und
       Aserbaidschaner*innen sich treffen und austauschen können. „Imagine“ heißt
       die internationale Nichtregierungsorganisation, für die Lilit Gizhlarjan
       dieses Programm koordiniert. „Imagine“ ist eine Anspielung auf den
       gleichnamigen Song von John Lennon. Sie beginnt leise zu summen: „Stell dir
       vor, es gäbe keine Länder, das ist gar nicht so schwer. Nichts, wofür es
       sich zu töten oder zu sterben lohnt …“
       
       Sie lächelt, dieses Lied ist so etwas wie ihre Hymne geworden. „Warum gibt
       es in unseren Ländern so viel Hass?“, fragt sie und überlegt kurz. „Es ist
       viel einfacher, eine Person zu hassen, in deren Augen man nicht geblickt
       hat“, sagt sie dann.
       
       Lilit Gizhlarjan ist 17 Jahre alt, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben
       Menschen aus Aserbaidschan bei einem Workshop in der georgischen Hauptstadt
       Tiflis begegnet. „Das war mir unangenehm. Ich hatte Angst und die ganze
       Zeit nur einen Gedanken im Kopf: dass der Feind mir noch nie so nahe
       gekommen war“, erzählt sie. Ihr „Todesurteil“ unterschreibt sie schon an
       der Hotelrezeption. Da erfährt sie, dass sie ihr Zimmer mit einer
       Aserbaidschanerin teilen muss.
       
       Heute kann sie darüber lachen. Mittlerweile erfahren die Teilnehmer*innen
       schon vorher, das der „Feind“ im selben Zimmer untergebracht wird und die
       Nachtruhe durch lautes Schnarchen empfindlich stören könnte. Doch diese
       Hürde könnten nicht alle nehmen, sagt Lilit Gizhlarjan. Viele sagten ihre
       Teilnahme ab, weil sie noch nicht dazu bereit seien.
       
       Lilit Gizhlarjan ist in dem Dorf Verin Karmiraghbyur, auf Deutsch Obere
       Rote Quelle, in der Region Tawusch geboren und aufgewachsen. Der Name geht
       wahrscheinlich auf eine Quelle zurück, die einem rötlichen Sandstein
       entspringt. Von hier sind es nur sechs Kilometer bis zur
       armenisch-aserbaidschanischen Grenze.
       
       Nach ihrem Abitur zieht Lilit Gizhlarjan nach Jerewan und studiert
       Romanistik. Das Fach Spanisch schließt sie mit einem Master ab.
       Mittlerweile spricht sie sechs Sprachen, um, wie sie sagt, viele Menschen
       erreichen zu können.
       
       ## Das Gebirge endet nicht am Stacheldraht
       
       Enthusiasmus scheint eine ihrer Stärken zu sein. Trotz vieler Rückschläge
       glaubt sie immer noch an Dialog, Frieden und offene Grenzen. „Das Gebirge
       in meinem Dorf endet nicht dort, wo der Stacheldraht beginnt“, sagt sie.
       „Seine mächtigen Ausläufer geben auch auf der anderen Seite der Landschaft
       ihr Gesicht.“ Trotz ihres Optimismus wird eine Lösung des Konflikts
       wahrscheinlich noch lange hinter den Bergen verborgen bleiben.
       
       „Aserbaidschaner*innen und Armenier*innen, wir kennen uns gegenseitig fast
       nicht mehr“, sagt sie. „Wir wissen nur das, was uns in unseren Ländern
       erzählt wird – in der Schule, im Fernsehen und in Büchern“. Propaganda gebe
       es überall. Doch Fakten seien Fakten. „In Baku und in Sumgait wurden
       Armenier*innen vergewaltigt, ausgeraubt und getötet“, sagt sie. „Doch warum
       lassen wir nicht auch Aserbaidschaner*innen von ihrem Schmerz erzählen?“
       Für einen Friedensprozess sei Zuhören genauso wichtig, wie sich selbst zu
       reflektieren.
       
       Ihr Vater und ihr Onkel sprächen kaum vom Krieg. Wenn sie doch einmal ein
       paar Worte darüber verlören, tasteten sie sich ganz vorsichtig an dieses
       Thema heran. „Ich bin mit den Geschichten meines Großvaters groß geworden“,
       sagt sie. So habe er einmal erzählt, wie sein aserbaidschanischer Freund
       aus dem Nachbardorf ihn besucht habe, wie Armenier*innen zum Einkaufen auf
       den Markt am Bahnhof im aserbeidschanischen Tovuz gefahren seien. Doch das
       alles ist lange her. Heute gehen in der Region zu beiden Seiten der Grenze
       wieder Geschosse auf Dörfer nieder.
       
       Lilit Gizhlarjan ist in ihr Heimatdorf gefahren, um jetzt an der Seite
       ihrer Eltern zu sein. „Ich bin traurig, enttäuscht, aber nicht
       verzweifelt“, sagt sie am Telefon. Manchmal müsse sie in diesen Tagen auch
       an das Lied von John Lennon denken. Ihr jüngerer Bruder soll in einer Woche
       nach zwei Jahren Militärdienst wieder nach Hause kommen. Sofern kein Krieg
       ausbricht.
       
       24 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Oertel
 (DIR) Tigran Petrosyan
       
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