# taz.de -- Coronakrise in Brasilien: Die koloniale Maske der Stille
       
       > In Brasilien verbreitet sich das Coronavirus rasant. Die Regierung bleibt
       > untätig. Die Präsident Bolsonaro treu ergebenen Eliten plündern den
       > Staat.
       
 (IMG) Bild: Demonstrant in São Paulo
       
       Der erste [1][durch das Coronavirus in Brasilien bekannte Todesfall] ist
       der von Cleonice Gonçalves. Cleonice, eine Schwarze Frau, arbeitete als
       Haushaltshilfe. Sie arbeitete für eine Hausherrin, die im März in den
       italienischen Alpen Ski fahren war. Als diese Frau in ihre Wohnung in einem
       der teuersten Stadtviertel des Landes zurückkehrte, kannte sie bereits ihre
       Diagnose. Trotzdem beschäftigte sie Cleonice über das Wochenende. Cleonice
       begann sich schlapp zu fühlen. Als die Hausherrin das bemerkte, rief sie
       ein Taxi, das Cleonice zu ihrer Familie bringen sollte, die in zwei Stunden
       Entfernung am Stadtrand von Rio de Janeiro lebt. Cleonice starb wenige
       Stunden später.
       
       Anfang Juni, [2][während der Quarantäne], beschäftigte die Hausherrin Sari
       Corte Real in ihrer Wohnung in einem Luxusviertel von Recife im Nordosten
       des Landes die Haushaltshilfe Mirtes Souza, ebenfalls eine Schwarze Frau.
       Mirtes ist die zweite Generation ihrer Familie: Schon ihre Mutter hatte die
       eigene Familie damit ernährt, es anderen Familien mit schweißtreibender
       Arbeit gemütlich zu machen. Weil Mirtes auch während der Pandemie arbeiten
       musste, hatte sie keinen Ort, an dem sie ihren Sohn Miguel Otávio lassen
       konnte. Sie nahm ihn mit zur Arbeit.
       
       An diesem Mittag Anfang Juni war die Hausherrin mit Maniküre beschäftigt.
       Sie wies Mirtes an, die Hunde auszuführen. Miguel blieb in der Wohnung. Als
       die Hausherrin begann, das 5-jährige Kind anstrengend zu finden, steckte
       sie es unbeaufsichtigt in den Aufzug und schickte es in den neunten Stock,
       dort befand sich ein Spielbereich für Kinder. Miguel ging, geriet an einer
       Brüstung aus dem Gleichgewicht und fiel aus dem neunten Stock, gerade als
       seine Mutter vom Spaziergang wiederkam. Sari musste auf die Polizeiwache,
       zahlte eine Kaution in Höhe von 5.000 Euro und durfte zurück nach Hause.
       
       Seither haben sich bedeutende Teile der Wählerschaft von Präsident Jair
       Bolsonaro, die Militärpolizisten und Milizen (verantwortlich für die
       Demütigung schutzbedürftiger sozialer Gruppen), im gesamten Land verteilt.
       Bei all den Rückschritten während Bolsonaros Amtszeit fällt besonders die
       Polizeigewalt auf, die höchste in der Geschichte des Landes. Die
       brasilianische [3][Polizei tötet so viel wie noch nie] – das macht eine
       Debatte über den historischen Genozid der Schwarzen Bevölkerung dringlicher
       denn je. Schon 2016 wurde alle 23 Minuten ein junger Schwarzer Mensch
       ermordet. Diese Realität ist nicht in Quarantäne, sie hat sich nicht
       verändert.
       
       ## Extreme Polizeigewalt
       
       Der 13-Jährige João Pedro spielte an einem Tag im Mai mit seinen Cousins im
       Garten, um Abstandsregeln einzuhalten, als Schüsse aus einem Polizeigewehr
       seinen Körper durchbohrten. Sein Haus, in dem nicht vorbestrafte Menschen
       ein ruhiges Leben führten, wurde von 72 sogenannten verlorenen Kugeln der
       Polizei getroffen, vermeintlich versehentliche Querschläger.
       
       Währenddessen trauern die indigenen Bevölkerungen um ihre Angehörigen, die
       getötet wurden, als sie ihre Ländereien verteidigten und gegen den Export
       von Soja und Rindfleisch protestierten. Die Kraft der Grundbesitzer in
       Brasilien spiegelt sich direkt in der Anzahl ihrer Vertreter im
       Nationalkongress. Vertreter, die Bolsonaro treu ergeben sind, die
       verantwortlich für den Putsch sind, durch den die linke Präsidentin Dilma
       Rousseff 2016 ihres Amtes enthoben wurde. Die verantwortlich sind für einen
       Diskurs, der Tote produziert. 2019 haben Indigene um Paulo Guajajara
       geweint, sie nannten den bekannten indigenen Umweltaktivisten ihren „Hüter
       des Waldes“.
       
       An den im Namen der Landwirtschaft in Flammen stehenden Grenzgebieten des
       Amazonas werden indes unter Indigenen sukzessive immer mehr Fälle des
       Coronavirus bekannt. Das ist besorgniserregend. Inmitten all dieser
       Gefahren und Angriffe widerstehen die Indigenen tapfer und ohne viel
       Unterstützung von außen.
       
       Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen wie diese in Brasilien verdienen
       eine viel sichtbarere Reaktion aller Länder, die sich Demokratien nennen,
       die sich aber lieber mit staatlichen Unternehmen und Ressourcen
       beschäftigen, die die brasilianische Regierung zu Kolonialpreisen verkauft.
       Im Mai, inmitten der Pandemie, sprach der Wirtschaftsminister davon, die
       öffentliche Nationalbank zu verkaufen.
       
       ## Postkolonialer Kampf
       
       Seine Regierung ist eine, die unzählige brasilianische Unternehmen an
       US-amerikanisches, europäisches, arabisches oder chinesisches Kapital
       verkauft hat. An Länder, die angesichts von Bolsonaros Brutalitäten gerne
       betonen, wie grauenhaft das sei, die aber wenig sagen, wenn er die Kasse
       des Landes öffnet, um die blutverschmierten Reichtümer zu verkaufen.
       
       Im antikolonialen Kampf muss dieser Zynismus dekonstruiert werden.
       Geschichten wie die in diesem Text erzählen ein wenig über dieses Land,
       können es aber nicht ansatzweise zusammenfassen. Von Lélia González, der
       großen Stimme des Schwarzen Feminismus in Brasilien und Pionierin in der
       Kommunikation transnationaler feministischer Bewegungen, haben wir gelernt,
       dass wir nicht nur den Schmerz teilen, sondern auch die Kämpfe und den
       Widerstand. Eine Bewegung, die längst nicht mehr aufgehalten werden kann.
       Mit meinen Büchern, von denen drei derzeit unter den meistverkauften des
       Landes sind, ehre ich das Wissen, das so lange unsichtbar gemacht wurde,
       und die Leben, die den Schwarzen, karibischen und lateinamerikanischen
       Bevölkerungen verwehrt wurden, und die Stimmen, die durch die koloniale
       Maske der Stille erstickt wurden, die aber jetzt immer lauter werden und
       Veränderungen vorantreiben, die diese Welt bald kennenlernen wird.
       
       Mit unserer grenzüberschreitenden Gemeinschaft werden wir aus der aktuellen
       Realität in Brasilien eine Geschichte der Überwindung von faschistischen
       Bewegungen und Ungleichheiten machen, die unsere Gesellschaft so sehr
       prägen. Wir machen weiter.
       
       Aus dem Portugiesischen von Simon Sales Prado.
       
       23 Jun 2020
       
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