# taz.de -- Frauenrevolution im Sudan: Nach dem Sturz
       
       > Um gegen das Regime zu protestieren, verbündeten sich Frauen und Männer
       > im Sudan. Beseitigten sie mit der Diktatur auch die Ungleichheit?
       
       Die Boxhandschuhe liegen noch an der Wand, Bayan Ali und ihre
       Mitkämpferinnen wärmen sich mit Liegestützen und Springübungen auf.
       US-amerikanischer Pop dröhnt, einige Jungs versuchen, durch die Fenster
       einen Blick ins Innere zu erhaschen.
       
       Bayan Ali ist klein und zierlich, eine der fittesten hier. Sie ist 21 Jahre
       alt. Seit März letzten Jahres kommt Bayan Ali zweimal wöchentlich hierher,
       zum Frauentraining ins Kampfsportzentrum Muqatel – „Kämpfer“ auf Deutsch –
       im Herzen der sudanesischen Hauptstadt Khartum. Damals war ihre Universität
       geschlossen, die Revolution gegen den Diktator Omar al-Baschir in vollem
       Gange, und für Ali, die sagt, sie könne nicht einfach zu Hause sitzen und
       nichts tun, war das Thaibox-Training neben den täglichen Demonstrationen
       eine willkommene Beschäftigung.
       
       Die Frauengruppe startete im November 2018, vor nicht einmal zwei Jahren
       also und trotzdem in einer anderen Zeit. Trainer Muhammad al-Munir hatte
       sie ins Leben gerufen. Er sagt, er möchte jedem und jeder die Möglichkeit
       geben, Kampfsport zu lernen. Denn auf der Matte, sagt al-Munir, spielten
       Herkunft, Geschlecht und sozialer Status keine Rolle. Heute spricht er
       entspannt darüber.
       
       Dabei ist es noch nicht so lange her, da hätten die Frauen und ihr Trainer
       für das, was sie machen, verhaftet werden können – und sogar ausgepeitscht.
       Unter dem alten Regime war Kampfsport, quasi per Gesetz verordnet, nichts
       für Frauen. Weil sie in Hosen trainieren, manche ohne Kopftuch und dann
       auch noch mit einem fremden Mann im selben Raum.
       
       Frauen in Hosen, Frauen rauchend, Frauen bei Vernissagen 
       
       Dreißig Jahre lang regierte der Machthaber Omar al-Baschir den Sudan mit
       äußerster Härte: Oppositionelle verschwanden, das Regime schürte Hass
       zwischen den Volksgruppen. Wegen seiner Rolle im Bürgerkrieg in Darfur 2003
       wird al-Baschir vom internationalen Strafgerichtshof in Den Haag per
       Haftbefehl gesucht. Die sudanesische Übergangsregierung hatte seine
       Auslieferung Anfang des Jahres in Aussicht gestellt.
       
       Frauen litten besonders unter „Keizan“, wie das Regime landläufig genannt
       wird. Diverse Gesetze hatten unter dem Vorwand der Scharia darauf
       abgezielt, sie aus dem öffentlichen Raum und dem gesellschaftlichen Leben
       zu verbannen: So waren etwa auf der Straße das Kopftuch Pflicht und Hosen
       verboten. Um zu arbeiten oder ins Ausland zu reisen, brauchten Frauen die
       Einwilligung eines männlichen Vormunds. Der Sudan ist eines von sechs
       Ländern weltweit, das die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von
       Diskriminierung der Frau (CEDAW) nicht unterschrieben hat. Die Kontrolle
       über die Frauen war das einfachste Mittel für den Machthaber, um die
       Gesellschaft zu disziplinieren.
       
       Als im Dezember 2018 nach einer Erhöhung des Brotpreises Massenproteste
       gegen das Regime ausbrachen, waren die Frauen an vorderster Front dabei,
       bei vielen Protestzügen machten sie mehr als die Hälfte der Teilnehmenden
       aus. Dann, im April 2019, ging ein Bild viral, das die damals 22-jährige
       Architekturstudentin Alaa Salah zeigte, wie sie im traditionellen Gewand
       und mit erhobenem Zeigefinger auf einem Autodach über der Protestmenge
       stand. Nun war die sudanesische Revolution auch in den internationalen
       Medien vor allem eines: eine Frauenrevolution.
       
       Omar al-Baschir stürzte im April 2019. Im Juli wurde eine
       Übergangsregierung gebildet, die je zur Hälfte aus Militär und den „Kräften
       für Freiheit und Wandel“ (FFC) bestand, einer Koalition
       zivilgesellschaftlicher Parteien und Organisationen. Die Veränderungen sind
       seither auf der Straße zu sehen: Frauen ohne Kopftuch in den zentralen
       Quartieren Khartums, Frauen in Hosen, Frauen in T-Shirts. Frauen als Gäste
       bei Vernissagen und Ausstellungen, ganz selbstverständlich neben Männern.
       Rauchend, in den Gärten der Kulturzentren. Alltäglichkeiten, die nach drei
       Jahrzehnten Repression viel für den Sudan bedeuten.
       
       Im Mai dieses Jahres hat der Ministerrat ein Gesetz angenommen, das
       weibliche Genitalverstümmelung unter Strafe stellt. Stimmt auch der
       Souveräne Rat dem Gesetz zu, kann Beschneidung künftig mit drei Jahren
       Gefängnis bestraft werden. Hat die Revolution also nicht nur einen Diktator
       entfernt, sondern auch Gleichberechtigung gebracht?
       
       Es ist der Sommer nach den Protesten, vor einem Jahr also, Bayan Ali sollte
       den Sudan als erste Kampfsportlerin im Ausland vertreten. Sie wollte an
       einem Thaibox-Wettkampf in den Vereinigten Arabischen Emiraten teilnehmen.
       Es wäre eine gute Erfahrung, dachte Ali, doch sie brauchte die Einwilligung
       ihres Großvaters. Bei ihm lebt Ali, während ihre Eltern in Saudi-Arabien
       arbeiten. Und der sah die Sache ganz anders: Kampfsport sei nichts für
       Frauen, sagte er seiner Enkelin. Erst recht nicht, wenn Ali Ärztin werden
       wolle. Was für ein Bild das abgeben würde, eine Ärztin, die Menschen hilft,
       und gleichzeitig Kampfsport beherrscht? Er wollte sie nicht gehen lassen.
       
       In der Antwort, die sie ihm daraufhin gab, steckt das Kerndilemma jeder
       Revolution, die gegen Unterdrückung, für Gerechtigkeit und Freiheit kämpft:
       „Wie können wir den Sudan ändern, wenn wir uns nicht auch dafür einsetzen,
       dass Frauen alles tun können, was sie wollen?“ Oder anders gefragt: Führen
       der Sturz der Diktatur und die Transformation zur Demokratie auch
       automatisch zu einer gerechteren Gesellschaft?
       
       Der Großvater stammt aus dem Quartier al-Burri, das in Khartum als
       Epizentrum der Revolution gilt. Und natürlich war auch er für den Sturz des
       Regimes, für „Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit“, wie ein bekannter
       Slogan besagt. Doch dass seine Enkelin für den Kampfsport nach Abu Dhabi
       reisen wollte, ging ihm zu weit: „Das ist gegen die Tradition“, sagte er
       ihr.
       
       Das ist ein Phänomen, das sich in der Vergangenheit immer wieder zeigte,
       bei der Revolution für die Unabhängigkeit Ägyptens ebenso wie während des
       Arabischen Frühlings von 2011. Nach der Euphorie auf der Straße, wo Frauen
       und Männer geeint gegen das Regime kämpfen, sollen die gesellschaftlichen
       Verhältnisse zwischen den Geschlechtern zurückkehren zum Status quo.
       Zumindest, wenn es nach den meisten Männern geht.
       
       Frauen kämpfen in den Köpfen der Väter, Brüder, Ehemänner 
       
       Doch viele Frauen im Sudan sind nicht bereit, das Feld wieder zu räumen.
       Ihr Kampf ist nicht zu Ende, er findet jetzt nur an neuen Fronten statt:
       gegen die patriarchalen Strukturen in den Köpfen ihrer Väter, Großväter,
       Brüder und Ehemänner. Gegen Politiker, die sich zwar für die politische
       Beteiligung von Frauen aussprechen, aber ihnen dafür nicht Platz machen.
       Und, noch immer, gegen die konterrevolutionären Kräfte, die hinter den
       Kulissen alles versuchen, um das Rad der Revolution zurückzudrehen.
       
       Die Dämmerung taucht das Sportfeld in ein rötliches Licht. Plastikstühle
       stehen vor einer Bühne, ein Zug von Menschen schreitet, sudanesische
       Flaggen schwenkend, über den Rasen. Zum heutigen Internationalen Tag gegen
       Gewalt an Frauen haben einige Organisationen eingeladen. Fast täglich, so
       hat man das Gefühl, finden in Khartum politische Treffen und Workshops,
       Kunstausstellungen und Konzerte statt. Das allein wirkt nach dreißig Jahren
       unter al-Baschir wie eine Befreiung.
       
       Auf einem der Stühle sitzt Susan Hassan al-Shawiya. Sie ist eine der
       Gründerinnen von Mansam, einem Verbund von Frauen, der sich mit der
       Revolution gebildet hat und für Frauenanliegen lobbyiert. „Wir wollten
       damals als Frauen die Revolution unterstützen“, sagt al-Shawiya. „Wir
       wissen, wie brutal das Regime gegen junge Männer vorgeht, die
       demonstrieren.“ Sie hofften, ihnen durch ihre Anwesenheit Schutz zu bieten.
       
       Jetzt, in der Übergangsphase, setzen sie sich vor allem dafür ein, mehr
       Frauen in diverse politische Gremien zu bringen. Unter anderem haben sie
       erreicht, dass in der neuen Regierung vier Ministerinnen sitzen. Das zivile
       Parteibündnis FFC sprach sich schon im Dezember 2018 für eine
       40-Prozent-Frauenquote in allen politischen Gremien aus. In der Deklaration
       bei der Bildung der Übergangsregierung ein halbes Jahr später war die Quote
       zumindest noch fürs Parlament festgehalten. Die Realität ist bis heute noch
       weit davon entfernt. Auch manche Aktivistinnen sind skeptisch angesichts
       der Fixierung einiger Gruppen auf die Frauenquote. „Ich befürchte, für
       viele Parteien ist eine Quote der einfachste Weg zu zeigen, dass sie sich
       für Frauen einsetzen“, sagt Hala al-Karib von der
       Menschenrechtsorganisation Siha, die sich besonders für die Stärkung von
       Sudanesinnen aus marginalisierten Gesellschaftsschichten einsetzt.
       
       Al-Karib wehrt sich gegen die Vorstellung, dass mehr Frauen in der Politik
       automatisch zu mehr Gleichberechtigung in der Gesellschaft führten. Wahre
       Repräsentation, sagt sie, müsse die Diversität der sudanesischen Frauen
       miteinbeziehen. „Wer sind denn diejenigen, die am meisten von einer Quote
       profitieren? Es sind Frauen aus der Khartumer Mittel- und Oberschicht.“
       Dabei lebten siebzig Prozent der Sudanesinnen und Sudanesen außerhalb des
       Großraums Khartum und ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
       Die Situation der Frauen in Konfliktgebieten wie Darfur sei kaum zu
       vergleichen mit jener der Menschen in der Hauptstadt. Bis heute müssen
       viele von ihnen fürchten, vergewaltigt zu werden, wenn sie nur zum
       Wasserholen ihr Haus verlassen.
       
       Statt Quoten einzuführen, solle die Regierung auf der Gesetzesebene
       ansetzen: diskriminierende Gesetze abschaffen, die Ratifizierung der
       UN-Frauenrechtsresolution vorantreiben und konkrete Maßnahmen ergreifen, um
       Frauen zu fördern. „An den Universitäten schließen jedes Jahr Hunderte
       Ingenieurinnen ab“, sagt al-Karib. „Aber viele finden keinen Job. Manche
       Firmen sagen, dass sie keine Frauen einstellen könnten, weil sie keine
       Toiletten für Frauen hätten.“
       
       Eine Stunde aus dem Zentrum Khartoums herausgefahren, liegt das Quartier
       al-Hajj Yussif. Nach und nach weichen die mehrstöckigen Gebäude flachen
       Lehmbauten, statt Autos verstopfen irgendwann fast nur noch Tuktuks die
       Straßen.
       
       Hier lebt Rayan Mahmud zusammen mit ihrer Familie. Ihre Eltern sind vor
       Jahrzehnten vor dem Krieg aus den Nubabergen in die Hauptstadt geflohen.
       Seither leben sie, wie fast alle Bewohner dieses Quartiers, als Flüchtlinge
       im eigenen Land. Sie kämpfen mit Armut, denn Arbeit gibt es in al-Hajj
       Yussif kaum. Nicht wenige der jungen Männer schließen sich den Rapid
       Support Forces an, jener berüchtigten Miliz, die vergangenen Sommer an
       einem Massaker gegen Protestierende beteiligt war.
       
       „Jeder hatte seine ganz persönlichen Beweggründe, warum er an der
       Revolution teilnahm“, sagt Rayan Mahmud. Bei der 21-jährigen
       Medizinstudentin war es die doppelte Diskriminierung, die sie auf die
       Straße trieb: „Weil ich eine Frau bin. Und wegen meiner dunklen Hautfarbe.“
       
       Im letzten Jahr war sie auf der Suche nach einem Praktikum in einem
       Krankenhaus. Statt einer Stelle bekam sie zunächst viel Ablehnung zu
       spüren. „In einem Spital sagte mir der Verantwortliche, dass sie keine
       Frauen einstellen würden.“ In anderen, glaubt Mahmud, sei sie aufgrund
       ihrer Hautfarbe nicht genommen worden. Rassismus und Diskriminierung, vor
       allem vonseiten der arabischstämmigen Sudanesen aus dem Norden gegenüber
       den Schwarzafrikanerinnen aus dem Süden des Landes, sind noch immer weit
       verbreitet.
       
       Als der Aufstand im Dezember 2018 begann, nahm Rayan Mahmud wochenlang an
       den Demonstrationen teil, ohne ihrer Familie davon zu erzählen. Sie war
       sich sicher, dass ihr Vater es nicht erlauben würde, aus Angst, es könnte
       ihr etwas geschehen. Doch Mahmud war das egal. Sie setzte große Hoffnungen
       in die Revolution: Sie glaubte fest daran, dass die neue Einheit zwischen
       Männern und Frauen, zwischen Leuten aus allen Regionen des Landes über die
       Proteste hinaus halten würde.
       
       Zusammen mit anderen jungen Frauen in ihrem Quartier gründete sie eines der
       Widerstandskomitees in al-Hajj Yussif. Diese Komitees entstanden während
       der Revolution überall, sie brachten die Aktivistinnen und Aktivisten
       zusammen. In al-Hajj Yussif etwa bauten sie neue Wasserleitungen und zogen
       Stromkabel zu den Häusern, nachdem das Regime ihnen Wasser und Strom
       abgestellt hatte. Es war nur eine von vielen Bosheiten, mit denen Keizan
       versuchte, die Menschen dafür zu bestrafen, dass sie sich auflehnten. Die
       Protestierenden hielten zusammen.
       
       Doch dann wurden Mahmud und andere Frauen aus dem Komitee geworfen. Anlass
       war eine Wahl im Quartier darüber, wer im Komitee sitzen soll. Eine Gruppe
       von Männern argumentierte gegen die Frauen. „Sie meinten, wir Frauen
       könnten am Abend ja ohnehin nicht mehr das Haus verlassen. Dabei stimmt das
       gar nicht“, sagt Mahmud.
       
       ## Die Einheit verging mit den Demonstrationen
       
       Die junge Frau blieb stur. Sie und die anderen Gründerinnen stellten sich
       zur Wahl, und Mahmud ist sich sicher, dass sie gewählt wurde: Die Wahl
       erfolgte per Handzeichen. Alle konnten die abgegebenen Stimmen sehen.
       Trotzdem fehlte ihr Name am Ende auf der Liste der Gewählten.
       
       Mahmud glaubt, dass die Männer, die dahintersteckten, von Anhängern des
       alten Regimes instrumentalisiert wurden. Sie sollten die Frauen loswerden:
       ein konterrevolutionärer Putsch. „Sie wissen, dass sie uns nicht bestechen
       können, deswegen wollten sie uns raus haben“, sagt sie. „Denn wir Frauen
       haben zu sehr unter dem Regime gelitten, als dass wir uns jetzt von ihm
       kaufen lassen.“
       
       Mahmud ist enttäuscht von der Revolution. Zwar zeugen in al-Hajj Yussif bis
       heute Wandmalereien von dem Wandel, in dem sich das Land nach dreißig
       Jahren Diktatur befindet. Doch das Gefühl der Einheit, das sie während der
       Demonstrationen spürte, sagt sie heute, mag sich nicht mehr einstellen. Sie
       sagt, es habe sich kaum etwas geändert. Selbst wenn sie studieren, würden
       sie später ja doch nur im Haushalt verschwinden, sobald sie heirateten.
       Mahmuds Strategie ist deswegen pragmatisch: vorerst nicht zu heiraten.
       
       Bayan Ali, die Thaiboxerin, konnte ihren Großvater am Ende doch noch von
       der Reise ins Ausland überzeugen. Einerseits, weil sich ihr Vater nach
       einer familieninternen Abstimmung einverstanden erklärte. Andererseits,
       indem Ali dem Großvater erklärte, mit Kampfsport könne sie sich im Notfall
       gegen Übergriffe auf der Straße verteidigen, und das leuchtete ihm wiederum
       ein. Das war der eine Erfolg. Der andere: Bayan Ali kehrte aus Abu Dhabi
       mit einer Bronzemedaille zurück.
       
       Diese Recherche wurde finanziell durch den Medienfonds „real21 – Die Welt
       verstehen“ unterstützt
       
       19 Jun 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Meret Michel
 (DIR) Muhammad Salah
       
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