# taz.de -- Isolation in der Coronakrise: Sperrt uns ein!
       
       > Belasten die Älteren die jüngere Generation in der Corona-Krise über die
       > Maßen? Einige taz-LeserInnen wollen in die freiwillige Selbstisolation.
       
 (IMG) Bild: Aus Rücksicht auf die Jungen: Manche Ältere wollen jetzt zu Hause bleiben
       
       Manchmal ist die Entstehungsgeschichte eines Artikels für sein Verständnis
       unerlässlich. Diese geht so: Vor zwei Wochen schrieb ich [1][einen
       Kommentar für die taz]. Ich regte an, die psychisch wie ökonomisch
       belastenden Kontaktsperren, Schulschließungen und Arbeitsverbote im
       [2][Kampf gegen das Coronavirus] doch bitte wissenschaftlich begleitend auf
       ihre erwünschten wie unerwünschten Effekte hin zu erforschen und die
       Effekte gegeneinander abzuwägen (nebenbei sparte ich nicht an Selbstmitleid
       mit mir, meinen Kindern, unserem ganzen gedownlockten Leben).
       
       Derweil lieferte sich mein Mann, ein ins Homeoffice verbannter
       Staatsrechtler, mit seinen Uni-Kumpels auf [3][verfassungsblog.de] eine
       kultivierte Argumenteschlacht zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Wir
       diskutierten die Grenzen unserer gesettelten Akademikersolidarität mit
       Millionen vor allem älteren Menschen, die neuerdings „Risikogruppe“ heißen.
       Und für die im Fall einer Infektion mit dem Virus die Wahrscheinlichkeit,
       daran unter fürchterlicher Atemnot zu sterben, viel größer ist als für uns.
       Wir rechneten mit Schelte.
       
       Und dann kam das.
       
       Samstag, 28. März 2020, 13.55 Uhr, das E-Mail-Postfach meldet einen
       Eingang: „Sehr geehrte Frau Haarhoff, sehr geehrte Damen und Herren, ich
       bin 81 Jahre alt, mein Mann 79, wir sind beide völlig klar im Kopf.“ So
       beginnt die Zuschrift der taz-Leserin Marianne Erlenbruch aus dem
       Rheinisch-Bergischen Kreis. Nach Lektüre des Kommentars, schreiben die
       Erlenbruchs, wollen sie gern mitteilen, was ihnen auf der Seele liegt: „Wir
       sind nicht damit einverstanden, dass eine Masse von […] jungen
       MitbürgerInnen […]), alleinerziehenden Müttern, Familienmüttern und
       -vätern, eine Unzahl Erwerbstätiger einseitig dafür zur Verantwortung
       gezogen werden, dass wir Alten überleben.“
       
       Einseitig dafür zur Verantwortung gezogen werden, dass wir Alten
       überleben?! Was Marianne Erlenbruch und ihr Mann Günther da per Leserbrief
       verlangten, war nicht weniger als die Aufhebung des staatlich verordneten
       Stillstands und das Ende der Rücksichtnahme auf ihre Generation – zu ihrem
       Schaden. Wie das?
       
       Ich gestehe, dass ich auch die folgenden Sätze ihres Briefs mehrmals las:
       „Dass Unmengen von Menschen in die Vernichtung ihrer materiellen Existenz
       getrieben werden durch Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Insolvenz etc. Während
       wir, die Alten von heute, die reichste Rentner- und Pensionärsgeneration
       sind, die Deutschland je hatte! Die Alten, die luxuriöse Kreuzfahrten
       machen und in eigenen Immobilien leben. Die über Alterseinkünfte verfügen,
       die oftmals exorbitant über dem mageren Einkommen alleinerziehender Mütter
       liegen. Die den Jungen eine klimaverwandelte Erde hinterlassen, auf der
       diese kaum noch überleben können. Wir schämen uns für unsere reiche
       Altengeneration, die die Jungen über jedes erträgliche Maß hinaus
       belastet.“
       
       Die Erlenbruchs, radikale Verfechter einer bizarren Einzelmeinung?
       Auszuschließen war das nicht. Aber dann meldeten sich weitere Menschen
       jenseits der 75 – Bekannte, Freunde, Verwandte, alles nicht repräsentativ,
       schon klar. Und es kam eine zweite E-Mail. „Mein 81-jähriger Vater“,
       schrieb Thorsten Kingreen, ein Kollege meines Manns, „hat es seinen Enkeln
       gegenüber gerade am Telefon noch drastischer formuliert: Wie können wir
       Alten allen Ernstes von euch Jungen Solidarität und Verzicht auf
       Lebensplanungen einfordern, zu der wir selbst beim Klimaschutz nie bereit
       waren?“
       
       Ich griff zum Hörer.
       
       „Kingreen!“ Die Stimme hellwach, der Ausdruck präzise, der Ton aufgeräumt.
       Keine Frage: Auch Christian Kingreen, 81 Jahre alt, niedergelassener
       Hautarzt mit eigener Klinik in Hagen seit 1970, ist, um es mit den
       Erlenbruchs zu formulieren, „völlig klar im Kopf“. Bis Mitte März, erzählt
       der Arzt, habe er noch operiert, aber dann hätten er und die drei anderen
       Kollegen beschlossen, in den Notbetrieb zu gehen; das Risiko der
       Praxisschließung war zu hoch. Für Kingreen und seine Frau Hildegund, 79,
       ein Anlass, auch die eigene Situation grundsätzlich zu reflektieren, ihr
       bisheriges Leben zu überdenken – und einen weitreichenden Entschluss zu
       fassen, der mehr sein soll als ein Symbol: „Wir haben uns bis auf Weiteres
       in freiwillige Quarantäne begeben.“
       
       Als Arzt wusste er: „Es wird die Zahl der schweren Infektionen verringern,
       wenn die Gruppe der über 75-jährigen zu Hause bleibt, und je mehr Alte dies
       tun, desto früher können die Jungen wieder raus.“ Als Großvater dachte er:
       „Ich kann die Solidarität der Jungen nicht verlangen.“ Als Bürger entschied
       er: „Ich muss jetzt Verantwortung übernehmen, was meiner Generation bislang
       eher wenig und in der Klimapolitik jedenfalls überhaupt nicht gelungen
       ist.“
       
       Fahrrad fahren? Spazieren gehen? Selbst im Supermarkt schauen, worauf man
       Lust hat? Ist alles nicht mehr; der Ausgang der Kingreens endet jetzt an
       ihrem Grundstückszaun, die Einkäufe erledigen die Kinder und die Enkel,
       Unterhaltungen sind nun auf Telefonate reduziert. Besonders seiner Frau,
       sagt Christian Kingreen, falle das Leben in der Selbstisolation schwer, und
       dabei hätten sie es noch gut mit eigenem Garten und vor allem der
       Gewissheit, dass sie gerade zwar allein, aber bestimmt nicht einsam sind
       mit sechs Kindern und elf Enkelkindern, die sich um sie sorgen.
       
       Wie lange hält man das eigene Weggesperrtsein aus? Er wisse es nicht, sagt
       Kingreen, aber was er wisse, sei, dass es bei seiner Entscheidung auch um
       Scham gehe, er klingt jetzt nachdenklich: „Scham für eine Not, auch wenn
       man keine Mitschuld daran trägt.“ Für Corona könne freilich weder er noch
       irgendwer sich schämen, wohl aber für den Zustand, in dem er und seine
       Generation den Planeten den Nachfolgenden überließen.
       
       Und deshalb, sagt Christian Kingreen, soll es bei dem selbst gewählten
       Verzicht allein nicht bleiben. Wenn es nach ihm geht, dann sollen
       diejenigen Alten, die es sich dank ihres Vermögens leisten können,
       freiwillig einen finanziellen Beitrag leisten, um die wirtschaftliche
       Katastrophe abzumildern, unter der insbesondere die Jungen nach der
       Pandemie leiden werden. „Ich denke an eine Stiftung, ‚Alt für Jung nach
       Corona‘, oder vielleicht einen Fonds, aus dem dann in Ausbildung,
       Weiterbildung und Beschäftigung investiert werden könnte.“
       
       Die Erlenbruchs, die Leserbriefschreiber aus dem Rheinisch-Bergischen
       Kreis, wären sofort dabei. „Wir appellieren an alle Verantwortlichen:
       Sorgen Sie dafür, dass auch wir Alten einen substanziellen Beitrag leisten,
       um diese Krise bewältigen zu helfen! Das Mindeste ist, dass WIR ALTEN uns
       längere Zeit zu Hause isolieren und dass sie die Jungen und sehr Jungen
       bald wieder hinauslassen und dass all diejenigen RentnerInnen und
       PensionärInnen, die über üppige Renten, Pensionen und Einnahmen aus
       Vermögen, Vermietung und Verpachtung verfügen, finanziell herangezogen
       werden.“ So hatten sie es in ihrer E-Mail geschrieben.
       
       Jetzt, am Telefon, sagt Marianne Erlenbruch, sie fände eine Kürzung auf 60
       Prozent fair, nicht pauschal und nicht bei allen Rentnern, aber bei
       pensionierten Lehrern wie ihrem Mann und ihr allemal. Französisch und
       Deutsch hat sie unterrichtet, Deutsch und Geschichte er; den Jüngeren
       Wissen zu vermitteln, aber vor allem mit ihnen zu diskutieren und immer
       wieder zu hinterfragen, was Gerechtigkeit sei, das haben sie beide geliebt
       an ihrem Beruf, sagt Marianne Erlenbruch. Drei Kinder haben sie selbst
       großgezogen, fünf Enkelkindern fühlen sie sich verpflichtet. „Wir dürfen
       die Jungen nicht ausquetschen“, sagt Marianne Erlenbruch, „wir Alten sind
       nur noch ein paar Jahre auf der Erde, aber unsere Enkel und Urenkel werden
       mit der kaputten Wirtschaft leben.“
       
       Jeder Einzelne, sagt Marianne Erlenbruch, trage Verantwortung – für sein
       Verhalten, aber auch dafür, sich selbst vor Gefahren zu schützen. „Wir
       Alten können nichts dafür, dass wir gefährdeter sind als andere, aber wir
       können verzichten.“ Deswegen geht Günther Erlenbruch jetzt beispielsweise
       nur noch einmal pro Woche einkaufen.
       
       Es sind lange, nachdenklich machende, aber auch sehr fröhliche Gespräche am
       Telefon mit Christian Kingreen in Hagen und mit Marianne Erlenbruch im
       Rheinisch-Bergischen Kreis, und kaum hat man aufgelegt, denkt man, dass man
       noch so gern so viel mehr über sie erfahren würde, über ihre Leben, und vor
       allem würde man sie gern sehen, sie besuchen fahren, persönlich mit ihnen
       sprechen. Ach, Corona. Aber ein Foto wenigstens?
       
       E-Mail vom 4. April, 13.49 Uhr. „Liebe Frau Haarhoff, wir haben die
       Photofrage in unseren Herzen bewegt und eine Nacht darüber geschlafen. Ein
       aktuelles Photo von uns wollen wir wirklich nicht in einer Zeitung haben,
       aber ich schicke Ihnen eines unserer Lieblingsphotos von uns beiden, als
       wir ein junges Liebespaar waren. Es passt doch prima zu unserem Anliegen:
       ein altes Ehepaar, das auch einmal jung war, setzt sich für die Jungen ein,
       die nicht über alle Maßen für die Alten in die Pflicht genommen werden
       sollen.“
       
       10 Apr 2020
       
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