# taz.de -- Brasilianischer Politiker im Exil: „Ich würde es wieder tun“
       
       > Der brasilianische Politiker Jean Wyllys spuckte einst Jair Bolsonaro ins
       > Gesicht. Der taz erzählt er, wie dieser Tag sein Leben verändert hat.
       
 (IMG) Bild: Wyllys bei einer Konferenz über die Exilbewegung aus Brasilien im Februar 2019
       
       Seit einem Jahr ist [1][Jair Bolsonaro] Präsident Brasiliens, seit einem
       Jahr lebt Jean Wyllys im Exil. Die Geschichte des rechtsextremen
       Präsidenten und die des linken Politikers sind eng miteinander verwoben:
       Bolsonaro ist mitverantwortlich, dass Wyllys sich gezwungen sah, ins Exil
       zu gehen. Dass Bolsonaro heute Präsident ist, das liegt auch an Wyllys.
       
       Am 17. April 2016 ist es unübersichtlich im brasilianischen
       Nationalkongress. Es ist der Tag, an dem [2][über die Amtsenthebung der
       linken Präsidentin Dilma Rousseff abgestimmt] wird. Rousseff wird
       vorgeworfen, Haushaltspläne zu ihren Gunsten manipuliert zu haben. Sie
       spricht von politischer Verfolgung, von einem Putsch. Auf Leinwänden wird
       die mehrstündige Sitzung übertragen, landesweit schauen Menschen dabei zu,
       wie die stimmberechtigten Abgeordneten nacheinander an das Mikrofon treten.
       
       Unter ihnen sind auch die Abgeordneten Jean Wyllys und Jair Bolsonaro.
       Bolsonaro stimmt für die Amtsenthebung. Seine Stimme widmet er einem
       mittlerweile verstorbenen Offizier, der während der brasilianischen
       Militärdiktatur als Folterer bekannt wurde. Als Bolsonaro den Namen des
       Folterers ausspricht, grölen einige Abgeordneten, um ihm zuzustimmen. Als
       politische Gefangene war auch Rousseff während der Militärdiktatur
       gefoltert worden.
       
       Kurz darauf ist Wyllys an der Reihe. Er trägt einen roten Schal, schreit in
       das Mikrofon, um neben all den Zwischenrufen gehört zu werden. Wyllys
       stimmt gegen die Amtsenthebung. Nachdem er vom Pult tritt, läuft er an
       Bolsonaro vorbei und spuckt dem heutigen Präsidenten ins Gesicht. „Ich
       würde es sofort wieder tun“, sagt Wyllys rückblickend am Telefon.
       Mittlerweile lebt er in den USA, auf Einladung lehrt und forscht er an der
       Universität Harvard. Er ist gegangen, weil er sich in Brasilien nicht mehr
       sicher fühlen konnte. Jean Wyllys ist der erste amtierende brasilianische
       Politiker, der sich seit der Militärdiktatur gezwungen sah, ins Exil zu
       gehen.
       
       ## Feindbild und Gefahr
       
       Die ersten Morddrohungen kamen schon 2010 mit seinem Eintritt ins
       Parlament, mit der Zeit wurden sie häufiger, brutaler, konkreter. Im
       November 2016 erreicht ihn diese Nachricht: „Du kannst beschützt werden,
       aber deine Familie nicht. Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie es
       sich anfühlen wird, auf die enthaupteten, vergewaltigten Körper deiner
       Angehörigen zu blicken?“ Wenige Tage später kommt eine Nachricht mit
       Adressen von Familienangehörigen, den Nummernschildern ihrer Autos,
       Einzelheiten über ihr Privatleben.
       
       Als die Präsidentschaftswahlen näher rücken, werden aus Worten Taten.
       Wyllys erzählt, dass er auf der Straße verunglimpft und bedrängt wurde.
       Unbekannte nannten ihn am helllichten Tag einen Pädophilen, sagten,
       Bolsonaro werde ihn bald fertigmachen. Trotzdem bittet der Abgeordnete erst
       nach dem Mord an [3][Marielle Franco] um Polizeischutz. Die bisexuelle
       Schwarze Stadträtin und ihr Fahrer wurden am 14. März 2018 im Zentrum Rio
       de Janeiros mit mehreren Schüssen getötet. Franco und Wyllys waren eng
       befreundet.
       
       Als der Abgeordnete am Tag nach dem Mord dessen Aufklärung fordert, hat er
       verquollene Augen. Später wird er sagen, er habe die ganze Nacht geweint.
       Franco gehörte wie er selbst zu den vielversprechenden Stimmen unter den
       blassen, heterosexuellen Gesichtern der brasilianischen Politik. Was
       würde die Mörder von Marielle nun davon abhalten, auch ihn zu töten?
       
       Der Polizeischutz teilte den Stadtplan in grüne, gelbe und rote Flächen
       ein: Rote waren für Wyllys verboten, gelbe riskant, nur in grünen Gebieten
       durfte er sich bewegen. Nach drei Monaten bekam er einen
       Nervenzusammenbruch. Es ist der Abend der Mondfinsternis, des Blutmondes.
       Weil seine Leibwächter bei Einbruch der Dunkelheit freihaben, kann Wyllys
       nicht aus seiner Wohnung. Auf die Straße gehen, in den Himmel blicken:
       Lebensgefahr.
       
       ## „Fora da Curva“
       
       Etwa zur selben Zeit denkt Wyllys erstmals darüber nach, sein Amt
       niederzulegen, vielleicht das Land zu verlassen. Andererseits stehen die
       Wahlen an, er fühlt sich als einziger offen homosexueller Abgeordneter der
       LGBTQ-Gemeinde verpflichtet. Wer würde dafür sorgen, dass der Mord
       aufgeklärt wird? Wer würde von seiner Abwesenheit profitieren?
       
       Ein Blick zurück: 2010 gelingt Jean Wyllys unerwartet der Einzug in das
       Parlament. Damals ist er aus „Big Brother“ bekannt, er hatte bei der
       Sendung gewonnen. Als Abgeordneter macht er sich schnell einen Namen, setzt
       sich für LGBTQ-Rechte ein, denkt rassismuskritisch und intersektional,
       beherrscht den Umgang mit sozialen Netzwerken. Wyllys wird mehrfach
       ausgezeichnet, zwei weitere Male gelingt ihm die Wiederwahl. Er sei „um
       ponto fora da curva“, sagt Wyllys, jemand, der nicht in gesellschaftliche
       Kategorien passt, der bisher in dieser Position nicht denkbar war.
       
       Wohl auch deswegen kam der Hass von allen Seiten. Von Rechten, die sich
       daran stören, wie er Rousseff verteidigte. Von alten Linken, die seine
       Radikalität als bedrohlich empfanden. Von paramilitärischen Gruppen, die
       seinem Engagement gegen Polizeigewalt ein Ende setzen wollten. Von
       religiösen Fundamentalisten, die sich an seinem queeren Aktivismus stören.
       Dass er für derart konträre Gruppen zur Zielscheibe wurde, führt Wyllys auf
       seine Homosexualität zurück.
       
       „Homosexuell zu sein bedeutet, dass du dich permanent in einem Kampf mit
       der Welt um dich herum befindest“, sagt Wyllys. Das lässt sich ablesen,
       wenn er von dem Tag erzählt, an dem er Bolsonaro ins Gesicht gespuckt hat.
       Er spricht nicht von einem Angriff, sondern von einer Reaktion. „Auf
       jahrelange Demütigungen, auf Fake News, auf Hass, auf Homophobie.“ Wenige
       Augenblicke zuvor habe Bolsonaro ihn im Vorbeigehen beleidigt, betont
       Wyllys. Darüber spreche aber kaum jemand.
       
       ## Ständig bedroht
       
       Auch später, während seiner Kampagne, hat der heutige Präsident Wyllys’
       Sexualität instrumentalisiert, den Hass auf Homosexuelle bedient, um
       konservative Gruppen zu mobilisieren. Obwohl Wyllys nie
       Präsidentschaftskandidat war, konnte so zwischenzeitlich der Eindruck
       entstehen, er sei Bolsonaros größter Gegner. Als Wyllys bekannt gab,
       Brasilien zu verlassen, twitterte Bolsonaro „Grande dia“ – großer Tag.
       
       „Ein LGBT geht, aber der nächste kommt“, kommentierte David Miranda
       darunter. [4][Miranda ist der Nachfolger von Jean Wyllys.] Wie Wyllys war
       auch Miranda ein Freund Francos, wie Wyllys ist auch er homosexuell, wie
       Wyllys wurde auch er deswegen zur Zielscheibe. Als klar wird, dass Miranda
       das Mandat übernehmen wird, teilen Bolsonaro und seine Söhne gezielt eine
       Desinformation, wonach Miranda das Mandat gekauft habe. Etwa zur selben
       Zeit erhält der neue Abgeordnete die erste Morddrohung. Seit Oktober steht
       auch Miranda unter Polizeischutz.
       
       Wyllys ist nicht der Einzige, der sich dieser Bedrohung [5][nicht mehr
       länger aussetzen konnte.] Auch Debora Diniz lebt im Exil, eine
       Anthropologin, die sich bis vor das oberste Gericht für das reproduktive
       Selbstbestimmungsrecht insbesondere armer Frauen eingesetzt hatte. Oder der
       Schriftsteller Anderson França, der über soziale Ungerechtigkeiten
       schreibt. Und die feministische Philosophin Marcia Tiburi, deren Lesungen
       von bewaffneten Männern gestürmt wurden. Der Guardian spricht von einer
       neuen Generation politischer Exilierter in Brasilien.
       
       Offiziell verkündet Jean Wyllys sein Exil am 24. Januar 2019. Mit
       Bolsonaros Wahlsieg sei ihm klar geworden, dass er das Land würde verlassen
       müssen. Bolsonaro steht für all das, was Franco zum Verhängnis wurde, was
       Miranda nun verfolgt, was Wyllys, Tiburi, Diniz und França aus dem Land
       getrieben hat: die Homophobie, die Misogynie, die toxische Männlichkeit,
       der Rassismus und der Hass. Unter Bolsonaro wird die Opposition zum Feind.
       Jean Wyllys aber möchte kein Märtyrer sein.
       
       28 Jan 2020
       
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