# taz.de -- Streitgespräch der SPD-Chefanwärtinnen: Eine wird gewinnen
       
       > Klara Geywitz und Saskia Esken wollen beide SPD-Co-Chefin werden: Ein
       > Gespräch über Männerbünde, Feminismus und die Zukunft der SPD.
       
 (IMG) Bild: Wer führt die SPD ins neue Jahr? Klara Geywitz und Saskia Esken im Paul-Löbe-Haus
       
       taz: An der SPD-Spitze haben immer Männer lange durchgehalten, die den
       Zampano gaben. Jetzt soll ein moderat auftretendes Team die SPD führen.
       Kann das gut gehen? 
       
       Saskia Esken: Die SPD war nach dem Rücktritt von Andrea Nahles geschockt,
       auch davon, wie das gelaufen ist. Nahles zeigt jetzt übrigens, wie man
       damit umgehen kann, Ex-Vorsitzende zu sein: Sie grätscht nicht von der
       Seitenlinie herein. Grund dafür hätte sie.
       
       War der Nahles-Rücktritt ein heilsamer Schock für die SPD? 
       
       Klara Geywitz: Es gab bei uns zu viele einsame Entscheidungen von starken
       Männern. Widerspruch galt schnell als prinzipieller Anschlag auf die
       Autorität der Führung. Das Team, das die SPD führen wird, muss das ändern.
       Viele Frauen sagen: Der Stil in der Politik ist mir zu hart, die
       Auseinandersetzung zu persönlich. Wenn Frauen mehr Lust auf Politik
       bekommen sollen, brauchen wir eine neue Kultur des Umgangs.
       
       Esken: Eine abweichende Meinung darf nicht gleich als mangelnde Solidarität
       gelten. Solidarität bedeutet vielmehr, nicht mit persönlichen Angriffen zu
       arbeiten. Wir haben in der Gesellschaft etwas verlernt, mit
       unterschiedlichen Meinungen engagiert und dennoch fair umzugehen.
       
       Ist Andrea Nahles für Sie ein Vorbild? 
       
       Geywitz: Ich habe an ihr immer bewundert, mit welcher Energie sie sich in
       die Politik gestürzt und harte Konflikte ausgehalten hat. Sie war eine sehr
       gute Arbeitsministerin. Der Mindestlohn war wirklich ein dickes Brett. Als
       Partei- und Fraktionsvorsitzende war sie für viel, zu viel verantwortlich.
       Die Doppelspitze ist auch daher eine gute Idee.
       
       Esken: Andrea Nahles hat als Arbeitsministerin und Parteichefin einen
       tollen Job gemacht. Sie war ja zunächst nicht so begeistert, die
       Überwindung von Hartz IV auf die Tagesordnung der SPD zu setzen, hat sich
       aber von der Basis überzeugen lassen. Das habe ich bewundert. Es war ein
       Beispiel für die neue Kultur, die wir brauchen.
       
       Das klingt alles prima. Typisch ist aber: Frauen werden erst mal hofiert –
       aber wenn es um Macht geht, ist es damit schnell vorbei. Frau Geywitz, wie
       verhindern Sie, dass Sie später die Frau im Willy-Brandt-Haus sind, während
       Vizekanzler Scholz die Linie vorgibt? Haben Sie dagegen einen
       Sicherungsmechanismus? 
       
       Geywitz: Der Sicherungsmechanismus bin ich. Ich kenne mich und kann mir so
       ein Szenario nicht vorstellen.
       
       Ist es klar, dass Scholz Kanzlerkandidat wird? 
       
       Geywitz: Es ist für einen Kanzler nicht schlecht, Regierungserfahrung zu
       haben. Und Olaf Scholz hat in Hamburg ja auch gezeigt, dass er Wahlen
       gewinnen kann. Den Kanzlerkandidaten werden wir aber in einem
       transparenten, nachvollziehbaren Verfahren bestimmen. Dass die Partei das
       aus der Zeitung erfährt …
       
       … so wie bei der Kür von Martin Schulz durch Sigmar Gabriel …
       
       Geywitz: … das darf sich nicht wiederholen.
       
       Frau Esken, und wie wollen Sie verhindern, dass Sie das dekorative
       Salatblatt an Norbert Walter-Borjans ’ Seite werden? 
       
       Esken: Ich habe die Initiative ergriffen und das Duo mit ihm herbeigeführt.
       Und wir arbeiten seitdem miteinander auf Augenhöhe.
       
       Können Sie sich vorstellen, Kanzlerkandidatin zu werden? 
       
       Esken: Wer SPD-Parteivorsitzende werden will, muss sich das auch zutrauen.
       Solange die SPD aber bei 13 und 14 Prozent in Umfragen steht, ist es nicht
       klug, darüber zu sprechen, wer Kanzlerkandidatin wird. Es geht jetzt darum,
       die SPD so aufzustellen, dass sich die Frage überhaupt stellt.
       
       Haben Sie beide sich Männer ausgesucht, die wirklich mit einer Frau auf
       Augenhöhe arbeiten? Selbstverständlich ist das in der SPD ja nicht … 
       
       Esken … nicht in der SPD und nicht in der Gesellschaft. Dort ist es noch
       immer so, dass Männer eher in der aktiven, kämpferischen Rolle, Frauen als
       passiv gesehen werden. Andrea Nahles wurde angekreidet, dass sie derbe
       Scherze machte – bei einem Mann würde das eher bewundert.
       
       Und was ist mit Ihren Partnern für den Parteivorsitz? 
       
       Esken: Norbert Walter-Borjans ist von einer Ministerin zum Staatssekretär
       berufen worden und von einer Ministerpräsidentin zum Minister, und er
       konnte damit gut umgehen. Wir haben auch keine Aufteilung in „Die eine
       macht das Interne, der andere macht die Öffentlichkeit“.
       
       Geywitz: Olaf Scholz kann mit Frauen auf Augenhöhe umgehen. Er hat zwei
       parlamentarische Staatssekretärinnen, die eine ist jetzt
       Bundesjustizministerin. Wir haben intensiv über die Gleichstellung von
       Männern und Frauen gesprochen. Wir haben immer noch große Unterschiede
       zwischen Männern und Frauen bei Löhnen und in der Rente. Olaf und ich
       wollen das nächste Jahrzehnt zum Jahrzehnt der Gleichstellung machen. Und
       er hat da ja auch ein paar konkrete Vorschläge gemacht …
       
       … reine Männervereine sollen Steuerprivilegien verlieren … 
       
       Esken: Ich weiß nicht, ob es so wichtig ist, dass mich der Bart-Klub
       aufnehmen muss, wenn ich das möchte.
       
       Geywitz: Saskia, darum geht es nicht. Frauen dürfen laut Grundgesetz nicht
       diskriminiert werden. Das sollte man nicht lächerlich machen, indem man
       über Bart-Klub-Verbote spricht. Es geht um Vereine, die in ihrer Satzung
       Frauen ausschließen, ohne dass es dafür einen triftigen, inhaltlichen Grund
       gibt.
       
       Sind diese Männervereine und die Tamponsteuerermäßigung nicht nur kleine
       Bonbons, die davon ablenken, was fehlt? Die SPD wollte schon vor
       Jahrzehnten das Ehegattensplitting abschaffen. Aus der bezahlten Teilzeit
       für Eltern ist auch nichts geworden … 
       
       Geywitz: Immerhin werden wir jetzt den Anspruch auf Ganztagsbetreuung für
       die Grundschule angehen. Wir haben auf Druck der SPD die Kita-Betreuung
       stark ausgebaut. Jetzt gibt es die absurde Situation, dass es einfacher
       ist, mit kleinen Kindern Beruf und Familie zu vereinbaren als mit Kindern
       in der Grundschule. Das ist für viele Familien ein Riesenproblem. Wir
       brauchen ein richtiges Entgeltgleichheitsgesetz. Die wenigsten Frauen sind
       in der Lage, wirklich ihren Arbeitgeber zu verklagen. Wir diskutieren in
       vielen Bundesländern das Paritätsgesetz, das für quotierte Listen der
       Parteien sorgt. Wir haben viel erreicht. Nur beim Ehegattensplitting müssen
       wir ehrlich sagen: Das ist in der Großen Koalition nicht umsetzbar.
       
       Esken: Politik für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist keine
       Frauenpolitik. Das soll ja wohl allen Eltern dienen und nicht nur Frauen.
       Das Entgeltgleichheitsgesetz wiederum ist so weich, dass es fast nutzlos
       ist. Die SPD muss klarmachen: Für uns ist die Lohnlücke nicht mehr
       akzeptabel. Die SPD muss das Familiensplitting und damit die steuerliche
       Gleichstellung von Alleinerziehenden wirklich vertreten. Und in
       Verhandlungen sagen: Wir koalieren nur, wenn wir das Familiensplitting
       durchsetzen – sonst nicht. Wir gehen aber in Verhandlungen mit der Haltung:
       Darüber brauchen wir mit den Konservativen gar nicht zu reden. So werden
       wir stumm und nicht erkennbar. Kein Wunder, wenn junge Leute fragen: Wofür
       steht ihr eigentlich?
       
       Hat die SPD entscheidende Fehler gemacht? 
       
       Esken: Leider ja. Die SPD hat sich – so wie andere sozialdemokratische
       Parteien – in der neoliberalen Phase angepasst. Sie hat grundlegende Werte
       verraten und ihre Glaubwürdigkeit verloren. Sie hat den Staat geschwächt,
       Steuern für Reiche gesenkt und dafür die Mehrwertsteuer erhöht. Sie hat die
       Rahmenbedingungen für einen wachsenden Niedriglohnsektor geschaffen und
       zugelassen, dass der Arbeitsmarkt sich spaltet in Rechtlose und jene, die
       noch ordentliche Arbeit haben.
       
       Geywitz: Es war ein Fehler, mit Hartz IV nicht gleichzeitig einen
       gescheiten Mindestlohn einzuführen. Andrea Nahles hat das mit der
       Einführung des Mindestlohns repariert und mit dem Sozialstaatspapier einen
       neuen Ansatz geschaffen, der die Lebensleistungen anerkennt.
       
       Hat die SPD in der Großen Koalition nicht genug durchgesetzt – oder
       verkauft sie ihre Erfolge nur nicht gut genug? 
       
       Geywitz: Wir haben viel durchgesetzt – nicht nur die Grundrente. Hubertus
       Heil entlastet auch Angehörige, die Eltern in Pflegeheimen haben und die
       nun keine Angst haben müssen, deswegen arm zu werden. Das gibt vielen
       Menschen Sicherheit. Wir haben das Bafög erhöht und viele gute
       sozialdemokratische Punkte durchgesetzt. Leider schlägt sich das nicht in
       Wahlergebnissen nieder. Aber wir sind in der Endphase von Angela Merkels
       Kanzlerschaft. Wir müssen jetzt eine SPD-Vision für die Zeit nach dieser
       Groko schaffen. Die darf sich nicht wiederholen.
       
       Wenn Sie SPD-Chefin werden, schließen Sie also definitiv eine Fortsetzung
       der Groko aus? 
       
       Geywitz: Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand in dieser
       Republik 2021 eine Groko anstrebt.
       
       2017 konnte sich die SPD die Groko auch nicht vorstellen. Es kam anders. 
       
       Geywitz: Ich kann mir nicht noch eine Große Koalition vorstellen. Das wäre
       nicht gut. Olaf und ich wollen die SPD so stark machen, dass wir Mehrheiten
       jenseits der Union schaffen.
       
       Frau Esken, verkauft sich die SPD in der Groko zu schlecht? 
       
       Esken: Es geht doch nicht ums Verkaufen. Eine Große Koalition soll große
       Lösungen schaffen, aber das tut sie bislang nicht. Beispiel: Kinderarmut.
       Viele Kinder werden arm geboren und haben wenig Aussicht, dem jemals zu
       entkommen. Wer so aufwächst, wird kein souveräner Staatsbürger. In meiner
       Generation hatten wir die Chance zum Aufstieg durch Bildung und Leistung.
       Das war das Versprechen der SPD. Das gilt nicht mehr – und das regt nicht
       nur mich auf. Da reicht es nicht, den Kinderzuschlag um 15 Euro zu erhöhen.
       Wir brauchen eine Kindergrundsicherung, die allen bedürftigen Kindern
       Sicherheit gibt. Das müssten wir gegenüber der Union durchsetzen.
       Stattdessen drehen wir nur an Schräubchen, nicht am großen Rad. Wir dürfen
       künftig keine Koalition mehr eingehen, ohne diese Probleme ernsthaft
       anzugehen.
       
       Geywitz: Die SPD entwickelt ja gerade ein Modell zur Kindergrundsicherung.
       Kinder haben im Hartz-IV-System nichts zu suchen. Das sind keine kleinen
       Arbeitslosen. Aber die Große Koalition ist kein Bündnis, das die größten
       Probleme lösen kann. Es ist andersrum: Eine Große Koalition ist der
       kleinste gemeinsame Nenner zwischen linkem Flügel der SPD und Konservativen
       in der Union. Nur ein progressives Bündnis kann diese Republik in
       entscheidenden Fragen voranbringen. So wie Willy Brandt 1969 mit der
       sozialliberalen Regierung und Rot-Grün 1998. Wir brauchen eine starke SPD
       und ein anderes Regierungsbündnis.
       
       Mit Grünen und Linkspartei oder Grünen und FDP? 
       
       Geywitz: Das geht beides. Wir sollten eine Koalition mit der FDP nicht
       ausschließen. Wenn wir bei der nächsten Bundestagswahl keine Koalition mit
       der Union wollen und uns den Luxus leisten zu sagen, die FDP ist auch doof,
       dann wird es ein bisschen knapp.
       
       Esken: Es geht nicht um doof, es geht um die Inhalte. Ich will die sozialen
       Unwuchten endlich umkehren, an deren Entstehung wir in den letzten 15
       Jahren beteiligt waren. Und zwar auch mit Blick auf die Zukunft und die
       Gestaltung der Digitalisierung. Mit Union oder FDP geht das offenkundig
       derzeit nicht.
       
       War es ein Fehler der SPD, 2018 in die Große Koalition zu gehen? 
       
       Geywitz: Wir waren in einer Lose-lose-Situation. Die FDP hat sich in die
       Büsche geschlagen. Neuwahlen hätten wohl auch keine anderen Mehrheiten
       ergeben. Im Gegensatz zur FDP wollen Sozialdemokraten Probleme im Land
       lösen. Deswegen sind wir in die Groko gegangen – auch wenn das der SPD
       nicht geholfen hat.
       
       Frau Esken, Sie haben 2018 Merkel zur Kanzlerin gewählt und den
       Koalitionsvertrag unterstützt. War das ein Fehler? 
       
       Esken: Ich habe trotz großer Bedenken am Ende für den Koalitionsvertrag
       gestimmt und auch für ihn geworben. Ich habe die staatspolitische
       Verantwortung gesehen.
       
       War es ein Fehler? 
       
       Esken: Wir hätten die Union in der Verantwortung lassen können. Wir haben
       Ende 2017 lange über eine Minderheitsregierung Merkel debattiert. Die
       Unionsfraktion war dafür nicht offen. Vielleicht waren wir in der Debatte
       über Alternativen zur Groko zu defensiv. Ja, auch ich habe das
       Schadenspotenzial von Seehofers Mission unterschätzt.
       
       Geywitz: Wenn die SPD eine Minderheitsregierung toleriert hätte, hätten wir
       jetzt keine Grundrente. Eine Minderheitsregierung zu tolerieren heißt:
       keine sozialdemokratischen Inhalte im Koalitionsvertrag und keine Minister,
       die dafür sorgen, dass die umgesetzt werden. Ich finde den Charme dieses
       Modells sehr begrenzt.
       
       Esken: Eine Minderheitsregierung muss sich um Mehrheiten für ihre Projekte
       bemühen. Auf der anderen Seite kann das Parlament selbst Projekte
       entwickeln. Es ist also nicht ausgeschlossen, auch bei einer
       unionsgeführten Minderheitsregierung eine Grundrente zu verabschieden.
       
       Ist eine Minderheitsregierung der Union jetzt sinnvoll? 
       
       Geywitz: Im Sommer 2020 hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Stellen
       Sie sich vor: Angela Merkel hat die Regierungschefs Europas zu Besuch, will
       mit denen lieber tagsüber als nachts verhandeln und sagt dann: „Wir müssen
       jetzt ein paar Tage Pause machen. Ich muss gucken, mit welcher
       Oppositionspartei ich dieses Szenario durch den Bundestag bekomme.“
       
       Esken: Das muss die Kanzlerin eben vorher regeln. Das ist ihre
       Verantwortung.
       
       Geywitz: Eine Kanzlerin, die keine Mehrheit im Parlament garantieren kann,
       ist nicht gestaltungsfähig im Sinne deutscher Interessen.
       
       Esken: Das ist sie heute ja auch, sogar außerhalb des Koalitionsvertrags –
       das nennt sich Richtlinienkompetenz. Man kann auch bei Tolerierungen
       Verträge schließen, gerade zur Außenpolitik.
       
       Geywitz: An der Stelle der SPD-Minister sollen also Unionspolitiker rücken.
       Dafür garantieren wir per Rahmenvertrag über wichtige verteilungs- und
       europapolitische Fragen, dass Merkel während der deutschen
       EU-Ratspräsidentschaft verhandlungsfähig ist. Wir haben nichts mehr zu
       sagen – sorgen aber für die Stabilität der CDU-Kanzlerin. Ich kann die
       Schönheit dieses Modells nicht erkennen.
       
       Esken: Nicht Stabilität für eine CDU-Kanzlerin, sondern für Deutschland. Du
       hast ja gefragt, ob Deutschland dann außenpolitisch noch handlungsfähig
       wäre. Zur Koalition muss man sagen: Auch Annegret Kramp-Karrenbauer hat im
       April darüber gesprochen, die Option der Revisionsklausel des
       Koalitionsvertrags zu ziehen. Wir wissen nicht, was beim CDU-Parteitag am
       Wochenende passiert.
       
       Sie lenken ab. 
       
       Esken: Nein, ich wehre mich nur dagegen, dass die gesamte Verantwortung
       immer im Feld der SPD landet. Auch die Union hat Verantwortung. Wir müssen
       uns jetzt nicht klein machen und ausmalen, was Schlimmes passieren kann.
       Ich sage: Die Option Minderheitsregierung ist da. Wir haben uns Anfang 2018
       in die alternativlose Koalition treiben lassen, weil diese Option angeblich
       abwegig war. Jetzt sollen wir die Koalition fortführen müssen, weil die
       Minderheitsregierung wieder abwegig ist.
       
       Geywitz: Ich sage nicht „abwegig“. Sondern: Erreichen wir für unsere Wähler
       mehr mit einer Tolerierung ohne Minister als mit einem Koalitionsvertrag
       mit Ministern?
       
       Esken: Ich strebe keine Minderheitsregierung an. Aber ich will mich nicht
       wieder in die Handlungsunfähigkeit treiben lassen. Neuwahlen sind auch eine
       Option, vor der ich mich nicht fürchte.
       
       Was werden Sie als SPD-Chefin tun, damit die Partei wieder an
       Glaubwürdigkeit gewinnt? 
       
       Geywitz: Wir dürfen vor der Wahl nie versprechen, was wir nicht halten. So
       wie bei der Mehrwertsteuer 2005, die wir nicht erhöhen wollten, aber erhöht
       haben. Und wie bei der Groko 2017, die wir erst ausgeschlossen haben, dann
       doch eingegangen sind. Deswegen bin ich sehr vorsichtig bei großen
       Milliardensummen, die man in dieses und jenes investieren will. Damit weckt
       man hohe Erwartungen. Zweitens: Menschen brauchen lange, um Vertrauen zu
       einer Person zu entwickeln. Deshalb brauchen wir mehr Kontinuität an
       unserer Spitze.
       
       Esken: Wir gewinnen doch keine Glaubwürdigkeit, wenn wir nur das in ein
       Wahlprogramm schreiben, was wir sicher umsetzen können. Dann müssten wir
       ja alle möglichen Koalitionen nach einer Wahl antizipieren und alles
       streichen, was eventuell nicht geht. Niemand wählt uns dafür, dass wir
       unser Wahlprogramm vergessen. Das ist die Selbstverzwergung der SPD. Ich
       will stattdessen mit unseren Mitgliedern, den Gewerkschaften, dem
       Paritätischen, den Umweltverbänden die Vision einer gerechten Zukunft
       entwickeln. Da darf es gern ein bisschen utopisch zugehen.
       
       18 Nov 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Heide Oestreich
 (DIR) Stefan Reinecke
       
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