# taz.de -- Debütroman „Taxi“ von Cemile Sahin: Raffinierte Metafiktion
       
       > Cemile Sahin erzählt in „Taxi“ von einer Frau, die ihren Sohn im Krieg
       > verloren hat und sich eine neue Wirklichkeit bastelt. Ein starkes Debüt.
       
 (IMG) Bild: Sie erzählt über's Erzählen: Cemile Sahin
       
       Man könnte es eine besonders ausgeprägte Form von Eskapismus nennen, die
       die Protagonistin in Cemile Sahins Roman „Taxi“ entwickelt hat.
       
       Rosa Kaplan, eine Frau Anfang 60, hat ihren Sohn Polat im Krieg verloren.
       „Verloren“ ist hier wörtlich zu nehmen, denn ganz genau weiß man nicht, was
       mit ihm an der Grenze zur Kaukasusregion geschehen ist; nur so viel, dass
       er „nach einer Bombenexplosion, die sich gegen 5:30 Uhr am Morgen des
       01.01.2007 ereignete, nicht wiederzufinden“ war. Polat Kaplan gilt
       daraufhin zunächst als vermisst, später erklärt man ihn für tot.
       
       Rosa Kaplan ist nicht bereit diese Wahrheit zu akzeptieren. Sie schreibt
       sich ein Skript nach dem Vorbild amerikanischer [1][Netflix-Serien]. Ihr
       Drehbuch sieht vor, dass ihr Sohn zu ihr zurückkehrt, aufgrund eines
       Kriegstraumas aber eine Amnesie erlitten hat.
       
       Sie braucht nur noch einen Darsteller für den Heimkehrer, und so castet sie
       den Ich-Erzähler von der Straße weg: einen Mann Mitte dreißig, der ihrem
       echten Sohn ähnlich sieht und der seine eigene komplizierte Vorgeschichte
       hat. Aus dessen Sicht wird die Serie nun erzählt, zwei Staffeln lang, eine
       mit acht, eine mit vier Folgen.
       
       ## Making-of einer US-Serie
       
       Der Debütroman Cemile Sahins gehört nicht allein wegen dieses
       Formexperiments zu den Entdeckungen dieser Saison, sondern er überzeugt
       auch im Sound, ist rasant und rough erzählt. Sahin, die 1990 in Wiesbaden
       geboren ist und aus einer kurdischen Familie stammt, hat in London und
       Berlin (wo sie heute auch lebt) bildende Kunst studiert, sie arbeitet als
       Schriftstellerin und Künstlerin, seit Kurzem ist sie auch taz-Kolumnistin.
       
       Wie Geschichten gemacht und erzählt werden, das ist nicht nur in diesem
       Roman ihr Thema, auch in der Arbeit „Center Shift“, die aktuell in der
       Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig zu sehen ist, beschäftigt sie
       dieses Sujet.
       
       In „Taxi“ wird das Making-of einer US-Serie einfach Teil der Erzählung. Als
       Leser hat man ständig das Gefühl, man nehme an der Entstehung einer
       Improv-Serie teil, die Rosa und ihr Sohn-Darsteller nach und nach
       entwickeln.
       
       Denn in der Roman-Realität müssen sie auf die Abweichungen vom Drehbuch
       reagieren, und der Ich-Erzähler muss seine Rolle erst mal lernen. Auch er
       kann sich seiner Geschichte nicht sicher sein: „Wie notwendig ist eine
       Geschichte, bis sie eine echte Geschichte wird? Zu welchen Mitteln greift
       sie. Junge, es ist nicht so, wie es aussieht“ (kursiv im Original).
       
       Aus einem eigentlich schweren Thema wird bei Sahin absurdes Theater, auf
       sehr hohem Niveau. Erst bricht Rosa ihrem Neu-Sohn die Nase, damit er
       seinem Vorbild noch etwas ähnlicher wird, dann wird eine Willkommensparty
       mit bunten Luftballons und Girlanden für ihn gegeben, bei der die Nachbarn
       Frau Batic, Zoran und Zana zu Besuch sind und bei der plötzlich die
       einstige Freundin des echten Polat, Esra, sowie deren Mutter, Esma,
       auftauchen.
       
       ## Zu Besuch auf der Psycho-Party
       
       Diese Szene wird nun fast in Kammerspiel-Manier aus der Perspektive Polats
       erzählt: „Aber mich trifft der Blitz und ich sage: Esra!, weil sie im
       Türrahmen steht, sich versteckt, und an den Rahmen krallt. Als sie mich
       sieht, sackt sie zu Boden und drückt sich mit dem Rücken gegen die Wand.
       Esra ist schön, auch jetzt, so zerkrümelt wie sie ist, bin ich auch. […] Da
       ist Esra und hier bin ich. Und ich sage nichts, aber Esras Mutter Esma
       kreischt. […] Frau Batic steht auch auf und der dicke Zoran und die dünne
       Zana auch, aber Mutter nicht, weil sie schon steht. […]“
       
       Der Roman behält diesen Drive bei, er steuert nach vielen Wendungen – wir
       wohnen einer Fotosession auf dem Friedhof bei, begegnen einem verloren
       Geglaubten, sind Gäste auf einer aus dem Ufer laufenden Psycho-Party –
       zielsicher auf einen starken Plot zu.
       
       Gegen Ende wechselt Sahin noch mal das Genre, es wird eine
       Verwechslungskomödie gegeben. Man versteht dann auch, warum der Romanbeginn
       mit den kurzen, elliptischen Sätzen so sperrig sein muss – der Einstieg
       erscheint einem tatsächlich zunächst als Manko dieses Romans. Darüber sieht
       man aber schnell hinweg, nachdem die Story Fahrt aufnimmt.
       
       Es geht Cemile Sahin in „Taxi“ auch um die Macht der Narrative, das zeigt
       sich an so manchem Gedankeneinschüben des Erzählers. „Ich aber weiß,
       solange man genügend Menschen immer wieder dieselbe Geschichte erzählt und
       nicht von dem abrückt, was man erzählt, können die Leute gar nicht anders,
       als einem nicht zu glauben“, denkt er einmal.
       
       Im Laufe der Erzählung werden wir selbst, die Leser, zu den größten
       Eskapisten, denn es ist ja nicht nur Rosa, die die Realität nicht
       akzeptieren will, es ist nicht nur der Ich-Erzähler, der heilfroh ist, ein
       neues Leben annehmen zu dürfen, um sich seiner eigenen Geschichte nicht
       stellen zu müssen, es sind auch wir, die die Brutalität, die unter all dem
       Geschehen hier immer brodelt, lieber in Form dieser durchgeknallten
       Metafiktion serviert bekommen. So raffiniert hat lange keine/r mehr über
       das Erzählen erzählt.
       
       29 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
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