# taz.de -- Abschied der taz-Israel-Korrespondentin: Es war Liebe
       
       > 30 Jahre lang war unsere Autorin Nahost-Korrespondentin der taz in
       > Jerusalem. Nun blickt sie zurück auf ihre Zeit in Israel.
       
 (IMG) Bild: Sonnenschein, Hitze, die Nähe zum Meer: Israel ist ein Traum
       
       Jerusalem taz | Die Berichte über die israelische Wahl sind meine
       letzten Texte aus dieser Region. Ich schreibe sie in der Wohnung einer
       Freundin, in Ostjerusalem, das die Palästinenser als ihre Hauptstadt
       reklamieren. Zwischen diesen Welten habe ich mich in den vergangenen 30
       Jahren bewegt.
       
       Die Regierungsbildung ist [1][nach dem Unentschieden zwischen
       Regierungschef Benjamin Netanjahu und seinem Herausforderer Benny Gantz]
       noch nicht abgeschlossen, meine Zeit als Korrespondentin für Israel und die
       Palästinensergebiete dagegen schon. Bücherkisten, ein paar Möbel, Kleidung
       und Küchengeräte sind lange auf dem Weg nach Berlin. Die Umzugsleute
       brauchten fast drei Stunden, um die Sachen in einem Container zu verstauen.
       Als ich im Oktober 1989 auf dem Seeweg nach Israel kam, passte mein
       gesamtes Hab und Gut in einen kleinen VW-Bus.
       
       Ein letztes Treffen bei Wein und Kuchen am Strand mit meinen frühesten
       Freundinnen aus Tel Aviv und ein gemeinsames Abendessen mit den
       Basketballerinnen, mit denen ich viele Jahre dribbelte. Wir trennen uns mit
       dem Versprechen, Pessach nächstes Jahr in Berlin zu feiern. Nur mein Auto
       muss ich noch verkaufen.
       
       Ich war gerade 15, als ich zum ersten Mal nach Israel kam, und verliebte
       mich sofort in dieses Land: in den Duft der Orangenhaine, die helle, heiße
       Sonne, die drei Meere und den See Genezareth, in die oft etwas ruppigen und
       immer sehr direkten Menschen. 30 Jahre nach dem Krieg hatte ich beim
       Schüleraustausch in England hinter meinem Rücken Leute von den „Krauts“
       tuscheln hören, und in Frankreich waren wir Deutschen immer noch die
       „Boche“.
       
       ## Nach dem Abi in den Kibbuz
       
       Die Israelis aber brachten Nazideutschland und den Holocaust unbefangen auf
       den Tisch. Sie redeten mit uns. An einem Nachmittag hatte unsere Gruppe
       Gelegenheit zum Treffen mit dem ARD-Korrespondenten, der über seine Arbeit
       berichtete. Meine Entscheidung fiel schon währenddessen: Was der macht,
       will ich auch machen.
       
       Gleich nach dem Abitur fuhr ich erneut, diesmal für länger, als freiwillige
       Helferin in einen Kibbuz. Auch, um mein Gewissen zu beruhigen, das schwer
       trug an den Sünden, die mein Volk an den Juden begangen hatte. Die ersten
       zwei Wochen wusch ich Teller und putzte die Esstische zusammen mit einem
       älteren Kibbuznik, einem Unidozenten, der wie alle Mitglieder der Kommune
       für mehrere Wochen im Jahr Küchendienst leisten musste. Es gab keine
       Hierarchien im Kibbuz, keine Klassen und kaum Eigentum. Jedem stand zur
       Verfügung, was da war: Speisesaal, Wäscherei, Pool, Streichelzoo,
       Sportanlagen und das Klavier. Die Besatzung der palästinensischen Gebiete
       war weit weg.
       
       Im Sommer wurden Kartoffeln und Zwiebeln geerntet, die Zitrusbäume
       beschnitten, und später arbeitete ich in der Keramikwerkstatt. Es waren
       wunderbare Monate. Ich beneidete die Kibbuzniks um ihr
       Zusammengehörigkeitsgefühl, um ihren offenen Patriotismus und Stolz. An
       den Abenden kamen alle zusammen, um zu Volksliedern zu tanzen oder sie zu
       singen. Einen eigenen Fernseher bekamen die Kibbuzniks viel später, dann
       einen Kühlschrank, eine Waschmaschine und sogar ein eigenes Auto. Der
       Kapitalismus drang Schritt für Schritt in die sozialistischen Oasen ein und
       zerfraß sie von innen.
       
       Nach dem Studium lernte ich Hebräisch beim Ulpan Akiva, der wie ein
       Internat für Erwachsene organisiert war. Die Schüler wohnten auf dem
       Campus. Die Erste Intifada hatte gerade angefangen, junge Palästinenser
       warfen Steine auf israelische Soldaten, steckten Reifen in Brand. Und in
       Deutschland war das Interesse am Judenstaat noch mal größer. Ich hoffte,
       mich als freie Journalistin durchschlagen zu können.
       
       In meiner Sprachklasse saßen ImmigrantInnen aus aller Welt, TouristInnen
       und PalästinenserInnen, die im Westjordanland oder im Gazastreifen bei der
       Besatzungsadministration beschäftigt waren. Damals gab es keine Grenze
       zwischen Israel und dem besetzten Gebiet. Wir kommunizierten vom ersten Tag
       an fast nur auf Hebräisch. Wie heißt du, wo kommst du her, wie viele
       Geschwister hast du, was arbeitest du?
       
       Jeden Tag erfuhren wir mehr voneinander. Im zweiten Monat zog Hannah in
       mein Zimmer, Israelin, Lehrerin, zweite Generation von
       Holocaust-Überlebenden. Sie war im Sabbatical und lernte im Ulpan Arabisch.
       Dass sie ihr Zimmer mit einer Deutschen teilen würde, überraschte sie.
       Später gestand sie mir, dass sie noch versucht hatte, ein anderes Zimmer zu
       bekommen. Wir verliebten uns.
       
       Nach fünf Monaten flog ich wieder nach Berlin, tauschte meinen Kleinwagen
       gegen einen Minibus, löste die Wohnung auf und fuhr los. Zweieinhalb Tage
       ging es auf dem Landweg durch das damalige Jugoslawien bis nach Athen und
       von dort aus weitere fünf Tage mit der Fähre.
       
       ## Das Interesse an der Region wuchs
       
       Ende Oktober 1989 erreichte ich Haifa, aufgeregt und in Vorfreude auf
       Hannah. Zwei Wochen später fielen sich in Berlin fremde Menschen in die
       Arme und weinten vor Rührung, und ich saß vor dem Fernseher und weinte,
       weil ich das wichtigste historische Ereignis in meiner Heimat so knapp
       verpasst hatte. Es war nicht abzusehen gewesen.
       
       Ich fand eine Stelle bei den [2][„Israel Nachrichten“], die täglich auf
       Deutsch erschienen. Abgesehen vom Fernsehprogramm und der Kolumne der
       Chefredakteurin brachte die Zeitung, die noch mit Bleisatz gedruckt wurde,
       Übersetzungen aus den hebräischen Zeitungen und hinkte so immer einen Tag
       hinter den aktuellen Ereignissen hinterher. Im Redaktionshaus wurden
       außerdem Zeitungen auf Ungarisch, Polnisch, Russisch, Jiddisch und Ladino,
       dem Jiddisch der nordafrikanischen Juden, produziert.
       
       Mein Arbeitstag begann um 10 Uhr morgens, was schon aus Sicherheitsgründen
       günstig war, denn die meisten Messerattacken der Ersten Intifada fanden
       sehr früh am Morgen statt. Dienstschluss war um vier, das ließ mir Zeit,
       den mageren Lohn der Redaktion bei einem Anwalt aufzustocken, der auf
       Wiedergutmachungszahlungen für Holocaust-Überlebende spezialisiert war. Er
       diktierte mir die Anträge an die Bundesregierung auf Deutsch.
       
       Mit meinem WG-Genossen Ischai, einem Freund von Hannah, teilte ich mir
       viereinhalb Zimmer im Tel Aviver Viertel Newe Zedek. Von der Küche aus
       konnten wir ein kleines Stück Meer sehen. Zu Fuß lag es keine fünf Minuten
       entfernt. In Newe Zedek lebten überwiegend Einwanderer aus dem Jemen. Das
       Viertel war heruntergekommen. Wir wohnten preiswert, selbst dann noch, als
       die Massenimmigration aus den früheren Sowjetstaaten die Wohnungspreise in
       die Höhe trieben.
       
       Die Einführung der D-Mark in der ehemaligen DDR öffnete mir im Sommer 1990
       einen neuen Markt. Von den DDR-Zeitungen hatte nur das „[3][Neue
       Deutschland“] jemanden vor Ort. Die „[4][Junge Welt]“ bot 4 D-Mark pro
       Zeile. Das war mehr als ich jemals zuvor oder danach verdiente. Ab sofort
       war ich Korrespondentin. Problematisch war nur die Textübertragung. Ich
       hatte noch nicht einmal ein Faxgerät und radelte mit meinem Texten eiligst
       zum nächsten Postamt, wo ich den Mann am Schalter beknien musste, damit er
       es noch mal und noch mal versuchte.
       
       Das Interesse an der Region wuchs, je näher der Golfkrieg rückte.
       US-Präsident George Bush schickte die Truppen in den Irak, und der
       irakische Despot Saddam Hussein rächte sich an Israel. Hussein drohte mit
       dem Einsatz von Giftgas. Wir kauften Plastikplanen und Klebeband und
       dichteten nach Anweisungen, die im Rundfunk liefen, ein Zimmer ab. Die
       Armee verteilte Gasmasken und Atropin-Spritzen. Der erste Sirenenalarm kam
       mitten in der Nacht und war sehr laut. In Panik verkrochen wir uns in das
       präparierte Zimmer, legten nasse Lappen vor die Tür und machten das Radio
       an. Die Entwarnung kam nach Stunden.
       
       Während die Israelis in Tel Aviv verängstigt auf das Giftgas warteten, das
       nie kam, tanzten die Palästinenser, so hieß es, auf ihren Häuserdächern in
       Ramallah und Bethlehem, um den Raketenbeschuss auf die „Zionisten“ zu
       feiern. Damit lieferten sie den Rechten im Land Zündstoff. „Seht mal, mit
       wem ihr Frieden machen wollt“, spotteten sie auf das Friedenslager.
       
       Jassir Arafat, Chef der PLO (Palästinensische Befreiungsbewegung), gab nach
       dem Golfkrieg grünes Licht für ein unabhängiges palästinensisches
       Verhandlungsteam. Zum ersten Mal saßen palästinensische Delegierte mit
       israelischen Regierungsvertretern an einem Tisch. Stellvertretender
       Außenminister Israels war Benjamin Netanjahu. Mit offenem Lächeln begrüßte
       er die ReporterInnen in Jerusalem bei einer Pressekonferenz einzeln per
       Handschlag. Jung und charismatisch sprach er in akzentfreiem Englisch von
       Israels Bereitschaft zum Frieden. Ich fand ihn klasse.
       
       Trotz der großartigen Absichtserklärungen auf beiden Seiten passierte dann
       lange nichts, was für mich finanziell fatal war. Ich wurde pro
       veröffentlichte Zeile honoriert und musste zusehen, wie sich meine mageren
       Ersparnisse rasch ihrem Ende näherten. Außerdem hatte ich Liebeskummer,
       Hannah und ich hatten uns gerade getrennt. Zum ersten Mal dachte ich
       ernsthaft ans Weggehen. Dann aber kam im Oktober 1993 überraschend die
       Unterzeichnung der Osloer Prinzipienerklärung. Dem Abkommen waren geheime
       Verhandlungen vorausgegangen. Die Linke in Israel jubelte, die Rechte war
       empört, als sich Jitzchak Rabin und Jassir Arafat vor den Augen der
       Weltöffentlichkeit die Hand zum Frieden reichten.
       
       Voller Zuversicht zog ich nach Jericho, in die Palästina-Straße 48, ins
       Haus von Ahmad und seiner Familie. „Jericho und Gaza zuerst“, so lautete
       die erste Stufe der Prinzipienerklärung. Mittendrin sein, wenn endlich
       Frieden gemacht wird, das wollte ich. Meine neuen Nachbarn begrüßten mich
       neugierig, brachten Kaffee und blieben oft sehr lange.
       
       ## Arabisch-Crashkurs und Friedensprozess
       
       Dabei konnte ich nur wenig Arabisch. Ich suchte nach jemandem, der es mir
       beibringen würde, und lernte Hagai kennen, Sohn von Holocaust-Überlebenden,
       der während seiner Militärzeit beim Abwehrdienst war und Arabisch konnte.
       Jetzt promovierte er über jüdische Philosophie und brauchte dafür
       Deutschkenntnisse. Wir unterrichteten uns gegenseitig und blieben Freunde.
       
       Kurz vor dem Umzug ging ich außerdem für einen Arabisch-Crashkurs noch
       einmal in den Ulpan Akiva und lernte dort Ghada kennen, eine junge
       Studentin aus einem Flüchtlingslager im Gazastreifen. Sie lernte Hebräisch,
       um es dort anschließend unterrichten zu können. Sie war zuversichtlich und
       hoffte wie ich auf den baldigen Frieden. Wir sahen uns über viele Jahre
       regelmäßig. Ghada half mir bei meinen Recherchen im Gazastreifen, in den
       man damals problemlos mit dem eigenen Auto fahren konnte. Ihre Großmutter
       hatte noch den Schlüssel zu dem Haus, aus dem die Familie 1948 vertrieben
       worden war und in das sie eines Tages zurückkehren wollte. Wenn ich zu
       Besuch ins Flüchtlingslager kam, erzählte sie von den alten Zeiten.
       
       Jericho, die kleine Stadt mitten in der Wüste, wartete auf die Rückkehr
       Arafats aus dem Exil. In der Nacht vor dem Abzug der israelischen Soldaten
       war mein Auto geklaut worden. Ich meldete mich bei den Israelis, die
       meinten, dass sie nun ja nicht mehr zuständig seien, und am nächsten Tag
       bei den neuen palästinensischen Ordnungshütern, die den Kopf schüttelten,
       das sei vor ihrer Zeit passiert. Wer mir half, das Auto wiederzufinden, war
       eine Gruppe von Fatah-Aktivisten. Sie brauchten zwei Tage. Was sie mit dem
       Dieb anstellten, wollte ich nicht wissen. Im Schatten der Besatzung
       organisierte Arafats Partei einen inoffiziellen Polizeiapparat. Interne
       Streitereien regelte man lieber unter sich.
       
       Ab sofort sprachen die neuen Ordnungshüter in Jericho Arabisch und trugen
       palästinensische Polizeiuniformen. Es ging voran im Friedensprozess trotz
       zahlreicher blutiger Anschläge, auch im vorher so ruhigen Jericho. Rabins
       Devise war, über Frieden zu verhandeln, als gäbe es keinen Terror, und den
       Terror zu bekämpfen, als gäbe es keinen Friedensprozess. Erklärtes Ziel war
       die Trennung der beiden Völker. Sie manifestierte sich überall dort, wo die
       Armee abzog. Es entstanden Zäune und Straßenkontrollen. Am Stadteingang von
       Jericho gab es gleich zwei: einen des israelischen Militärs und einen der
       palästinensischen Grenzer.
       
       Die Nacht vor Arafats Rückkehr aus dem Exil verbrachte ich bei Ghadas
       Familie im Flüchtlingslager. Die Leute waren so glücklich, obwohl die
       Besatzung in weiten Teilen des Gazastreifens andauerte. Die Palästinenser
       beschenkten die israelischen Soldaten mit Ölzweigen und Süßigkeiten.
       Hunderttausende kamen, um Arafat zu begrüßen, als er in offenem Wagen die
       ägyptische Grenze überquerte und sich feiern ließ. Irgendwann kam er auch
       nach Jericho, allerdings nur auf Stippvisite. Sehr zu meinem Unmut, machte
       Arafat Gaza zu seinem neuen Domizil.
       
       Kaum 100 Meter von Ahmads Haus eröffneten deutsche Diplomaten ein
       Vertretungsbüro. Hagai schimpfte darüber, dass „ausgerechnet die Deutschen
       wieder die Ersten sein müssen“, die sich im autonomen Palästinensergebiet
       niederlassen. Er hatte schon meine Entscheidung, nach Jericho zu gehen, als
       „bizarr“ empfunden. Für meine linken Freunde in Tel Aviv war es tabu, das
       Westjordanland auch nur zu besuchen, solange es besetzt blieb. Ich
       begleitete die Diplomaten zum Besuch in einer Klinik und lernte Rania
       kennen, die dort in der Apotheke arbeitete und mich zuerst zum Tee und ein
       paar Tage später zu sich nach Hause einlud. Die sehr frommen Muslime nahmen
       mich herzlich auf. Ich verbrachte fast jeden Abend auf dem Dach ihres
       Hauses dicht am Stadtzentrum.
       
       Der Traum, eines Tages ganz Palästina zurückzubekommen, lebte trotz der
       vereinbarten schrittweisen Teilung in den Köpfen vieler Palästinenser
       weiter, genauso wie der Traum von Großisrael bei den Besatzern. Als meine
       Mutter zu Besuch kam, nahm ich Rania mit zu einem Ausflug an den See
       Genezareth. „Welcome to Palestine“, witzelte ich, als wir den Checkpoint
       zurück zum autonomen Jericho passierten. Rania tobte: „Das ist alles
       Palästina“, Israel inklusive.
       
       Israels Rechte startete eine Hetzkampagne gegen Rabin, ließ Plakate
       drucken, die den Regierungschef mit Palästinensertuch auf dem Kopf zeigten
       und in Gestapo-Uniform. Mit federführend war Benjamin Netanjahu, der sich
       inzwischen in der Hierarchie der Likud-Partei hocharbeitete, und über den
       ich nach meinem anfänglichen Eindruck zunehmend schlechter dachte. Radikale
       Rabbiner verhängten das „Din Rodef“, ein altes jüdisches Gesetz, mit dem
       sie Rabin zum Abschuss freigaben.
       
       Die Bevölkerung in Israel polarisierte sich. Man war entweder für den
       Friedensprozess oder dagegen. Noch waren viele für ein Ende der Besatzung.
       Zusammen mit Freunden mischte ich mich unter die Zigtausenden, die am 4.
       November 1995 nach Tel Aviv zur Friedensdemo strömten. Die Stimmung war
       großartig. Rabin sprach vom Ende der Gewalt, stimmte mit ein, als das Lied
       des Friedens gesungen wurde und umarmte einen jungen Popstar, der
       umstritten war, weil er den Militärdienst verweigert hatte.
       
       Als sich die Menge auflöste, hörte ich jemanden von „Schüssen“ reden,
       schenkte dem aber keine Aufmerksamkeit. Der Gedanke, dass jemand auf den
       Regierungschef schießen würde, war absurd. Auch für Rabin selbst, der noch
       kurz vor der Kundgebung einem Reporter versicherte, es sei völlig
       überflüssig, eine kugelsichere Weste zu tragen.
       
       Unbeschwert suchten wir nach freien Plätzen in einem der Straßencafés, wo
       die Nachricht vom Attentat schon im Fernsehen lief. Mit erstickter Stimme
       gab Eitan Haber, seinerzeit Rabins Bürochef, wenige Stunden später den Tod
       des Regierungschefs bekannt. Ich brauchte eine Weile, um die Nachricht zu
       erfassen. Gleichzeitig überhäuften sich die Aufträge. Schlechte Nachrichten
       bedeuten für uns freie KorrespondentInnen immer sichere Einnahmen.
       
       Nach Rabins Tod verschärfte sich der Ton. Netanjahu machte aus seinem
       Misstrauen gegenüber den Palästinensern keinen Hehl: Der Friedensprozess
       sei für die PLO nur Mittel zum Zweck. Die Euphorie des Friedenslagers über
       die Osloer Friedenspläne wich der Ernüchterung, dass es ohne Rabin so bald
       nichts damit werden würde.
       
       Ich verließ Jericho und zog in einen Kibbuz. Harel liegt auf halber Strecke
       zwischen Tel Aviv und Jerusalem. Als Hagai zu Besuch kommt, rümpft er die
       Nase. „Die Kibbuzim stinken alle gleich“, sagt er. Bei erster Gelegenheit
       hatte er „den Kollektivisten“, bei denen er aufgewachsen war, für immer den
       Rücken gekehrt. Der „Gestank“ rührte vom aufgewärmten Essen und dem Chlor,
       mit dem der Speisesaal gereinigt wird. Die Kollektivisten störten mich
       nicht. Als Mieterin genoss ich die Vorteile des Kibbuz, ohne an die
       Entscheidungen der Mitgliederversammlung gebunden zu sein, die darüber
       bestimmte, wer wo arbeitet, wer studieren oder mal ins Ausland reisen darf.
       
       ## Die taz und mein Sohn
       
       Ich hielt den Kontakt zu meinen Freunden in Jericho. Ranias Bruder Samir
       arbeitete illegal als Elektriker in Israel und wurde erwischt. Ich besuchte
       ihn im Gefängnis, brachte ihm Zigaretten mit, die ihn nie erreichten. Als
       Samir schließlich in Hand- und Fußschellen dem Richter vorgeführt wurde,
       wurde mir schwer ums Herz. Ich saß neben seinen Eltern, die mich gebeten
       hatten, für ihn auszusagen. Es half nichts. Er musste noch weitere Monate
       im Gefängnis bleiben und zog anschließend nach Amerika.
       
       Im Mai 1999 berichtete ich zum ersten Mal vertretungsweise für die taz und
       bekam kurz darauf die Zusage auf meine Bewerbung als Pauschalistin.
       Zusätzlich zu den Einnahmen als freie Journalistin war ich mit der
       taz-Pauschale finanziell sicher genug, endlich meinen Kinderwunsch zu
       verwirklichen. In Deutschland hätte ich als Alleinstehende keine Chance
       gehabt, Spendersamen zu bekommen. In Israel hatte ich freie Auswahl: Es gab
       Samen aus allen Herkunftsländern der jüdischen Immigranten. Dem Kampf der
       LGBT-Gemeinde und Israels progressiver Rechtslage verdanke ich meinen Sohn.
       
       Tom kam im August 2000 zur Welt. Wäre es nach mir gegangen, hätte er gerade
       rechtzeitig zum Frieden geboren werden sollen. Zwischenzeitlich sah es gut
       aus. Der Sozialdemokrat Ehud Barak zog die israelischen Truppen aus dem
       Südlibanon zurück und reiste mit Arafat nach Camp David, um im Beisein von
       US-Präsident Bill Clinton über einen endgültigen Vertrag einig zu werden.
       Doch die Verhandlungen endeten ergebnislos. Ende September begann die
       Zweite Intifada, die blutiger war als der Volksaufstand 13 Jahre zuvor,
       denn jetzt kämpften die Palästinenser nicht mehr mit Steinen, sondern mit
       Gewehren.
       
       Ich war froh, im Kibbuz zu leben. Die Terroristen suchten sich
       Anschlagsorte mit vielen Menschen auf kleinem Raum. Im Kibbuz drohte keine
       Gefahr. Tom war tagsüber im Kinderhaus gut versorgt, die Nachmittage
       verbrachten wir meistens im Pool oder im Tiergehege mit Kaninchen und
       Ziegen. Morgens berichtete ich über das Blutvergießen, nachmittags
       versuchte ich, es zu vergessen.
       
       Nach den „auf den Dächern vor Freude tanzenden Arabern“ während des
       Golfkriegs brach mit der Zweiten Intifada erneut ein großer Teil der Linken
       weg. Arafat galt als der Hauptverantwortliche. „Das Problem der
       Palästinenser ist, dass sie nie einen pragmatischen Führer hatten“,
       kommentierte Hagai das Scheitern der Verhandlungen. Arafat entpuppte sich
       einmal mehr als „radikaler Nationalist“, der dem Motto der Fatah
       „Revolution bis zum Sieg“ anhing.
       
       ## Tränen am Telefon
       
       Im März 2001 kam der konservative Ariel Scharon an die Macht. Scharon ging
       mit harter Hand gegen den Terror vor. Zu den damals üblichen Maßnahmen
       gehörten „präventive Hinrichtungen“ besonders gefährlicher Terroristen. Bei
       einem gezielten Bombenabwurf der Luftwaffe über Gaza trug ein Cousin meiner
       Freundin Ghada so schwere Verletzungen davon, dass er fast komplett gelähmt
       blieb. Er stand zufällig neben dem Haus, in dem sich der gesuchte
       Palästinenser aufhielt. Ghada weinte am Telefon, als sie mir davon
       erzählte. Sie schimpfte auf die Soldaten und auf Israel. Ich konnte sie
       nicht trösten. Nach über einem Jahr des Dahinsiechens erlag der Junge
       seiner Verletzung. Ghadas Haltung gegenüber Israel verhärtete sich.
       
       Ausgerechnet der Hardliner und Siedlungsbauer Scharon entschied
       schließlich, aus dem Gazastreifen abzuziehen. Endlich tat sich wieder was
       in Sachen Frieden. Wieder zürnte die Rechte. Sogar in den eigenen Reihen
       stieß Scharon auf heftige Kritik, vor allem bei Netanjahu.
       
       Der ehemalige Geheimdienstchef im Westjordanland, Dschibril ar-Radschub,
       erklärte mir in einem Interview kurz vor dem israelischen Abzug: „Wir
       machen ein zweites Singapur aus dem Gazastreifen.“ Dann aber schrieb die
       Hamas den Abzug als ihren Erfolg auf die Wahlplakate und gewann. Israel
       boykottierte die Hamas, die Hamas boykottierte Israel, und als die Hamas im
       Sommer 2007 die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde
       (PA) aus dem Gazastreifen vertrieb, endete die Kooperation an den
       Grenzübergängen.
       
       Kurz danach flogen die ersten Raketen auf Sderot und die Kibbuzim rund um
       den Gazastreifen. Zum dritten Mal brach der israelischen Friedensbewegung
       der Boden unter den Füßen weg. „Wenn Raketen die Konsequenz vom Abzug sind,
       dann ziehen wir lieber nicht ab“, war die Folgerung vieler Israelis.
       
       Ende 2008 veranlasste die israelische Regierung eine Bodenoffensive, um den
       Raketenangriffen ein Ende zu setzen. Hunderte Palästinenser kamen zu Tode,
       darunter zahlreiche Zivilisten. Ich rief bei Ghada an, die mir lange
       berichtete, wie es ihr und ihrer Familie erging. Gerade wollten wir uns
       verabschieden, da sagte sie noch: „Lang lebe der Widerstand.“ Ich konnte
       nicht glauben, dass sie das ernst meinte. „Euer Widerstand ist doch der
       Grund für den Krieg.“ Wir stritten, und irgendwann knallte sie den Hörer
       auf. Es war das Letzte, das ich von ihr hörte.
       
       ## Netanjahu fest im Sattel
       
       Die latente Gefahr neuer Raketenangriffe war auch nach dem Krieg nicht
       gebannt. „Mr. Security“ Netanjahu entschied die Wahlen 2009 für sich. Mit
       Rückendeckung der ultraorthodoxen Parteien saß er fest im Sattel.
       
       Die ultraorthodoxe Bevölkerung wächst schneller als die weltliche. Man kann
       fast zusehen, wie sich die schwarz gekleideten Frommen ausbreiten. Beth
       Schemesch, die meinem Kibbuz nächstgelegene Stadt, war gemischt bevölkert,
       als ich zum ersten Mal dort einkaufen ging. Zehn Jahre später fand ich mich
       zusammen mit Tom im Wartezimmer eines Zahnarztes, umgeben von
       ultraorthodoxen Familien, die sich auf Jiddisch unterhielten und uns,
       vermutlich wegen meines kurzärmligen T-Shirts, feindlich anstarrten. „Da
       gehen wir nie wieder hin“, meinte Tom anschließend.
       
       Im Jahr von Netanjahus Wahlsieg setzte uns der Kibbuz vor die Tür. Tom und
       ich zahlten einen hohen Preis für die fortschreitende Privatisierung der
       einst sozialistischen Landwirtschaftskooperative. Die Kibbuzniks wurden
       Eigentümer ihrer Häuser, und die bis dahin vermieteten Häuser sollten an
       neue Mitglieder verteilt werden, die sich in die Gemeinde einkauften.
       
       Die alten Häuser waren extrem preiswert, ich hatte Ersparnisse und wäre
       gern geblieben, aber die Grundstücke gehörten dem Staat und durften
       ausschließlich an Israelis verkauft werden.
       
       14 Jahre hatte ich in Harel gelebt. Tom wurde gerade neun. Der Kibbuz war
       unser Zuhause. Ich fühlte mich betrogen und hatte keine Ahnung, wohin. Zum
       zweiten Mal erwog ich ernsthaft, nach Deutschland zurückzukehren, scheute
       mich aber vor dem dramatischen Schritt und vor der Perspektive, daheim ohne
       Arbeit zu sein.
       
       Tom sollte wenigstens an der Kibbuz-Schule bleiben, deshalb zogen wir in
       einen nahegelegenen Moschaw, eine dörfliche Gemeinde. Als ich den
       Mietvertrag für unsere neue Wohnung unterschrieb, war mir klar, dass dies
       meine letzte Station in Israel sein würde. Die Erfahrung mit dem Kibbuz und
       der Mangel an Mieterschutz hatten mich massiv verunsichert.
       
       ## Die Grenzen wurden dichter
       
       Der Euro verlor im Vergleich zum Schekel an Wert, gleichzeitig gingen die
       Einnahmen bedingt durch das Zeitungssterben und die Arabellion 2011 zurück.
       Die deutschen Medien berichteten zwar viel aus dem Nahen Osten, nur nicht
       mehr über Israel und die Palästinenser.
       
       Immer halbherziger protestierte die Weltöffentlichkeit gegen den
       Siedlungsbau, den die konservative Regierung Netanjahus vorantrieb. Die
       Grenzen zwischen Israel und den besetzten Palästinensergebieten wurden mit
       Zäunen, mit der Mauer und Übergängen, die an einen Hochsicherheitstrakt
       erinnern, immer dichter zugezogen. Gleichzeitig aber schwand in den Köpfen
       vieler Israelis die Unterscheidung von hier und dort.
       
       An Toms Schule gab es auf einmal Lehrer, die jeden Morgen aus dem besetzten
       Gebiet kamen, und sein Basketballteam trat wie selbstverständlich bei einem
       Spiel der Jugend-Bezirksliga gegen die Mannschaft von Gusch Etzion, südlich
       von Bethlehem, an. Ich distanzierte mich von Bekannten, die
       araberfeindliche Positionen vertraten, wechselte meinen Frisör, als ich
       hörte, dass er den ultranationalen Avigdor Lieberman gewählt hatte und
       versuchte im Gespräch mit Nachbarn, beim Sport oder bei gesellschaftlichen
       Anlässen, das Thema Politik zu umgehen.
       
       „Man kann die Leute verstehen, die immer rechter werden“, findet Hagai.
       „Die Hamas und die palästinensischen Fanatiker sind wirklich wenig
       hilfreich.“ Es sei aber auch die Indoktrination durch die
       Nationalreligiösen an den Schulen, in der Armee und sogar an den
       Universitäten, die die Bevölkerung nach rechts treibt. „Der Einfluss der
       Siedler auf das Denken und die kollektive Identität ist enorm.“ Die Linke
       hingegen bliebe passiv und verzichte auf politischen Aktivismus.
       
       Der politische Diskurs, der gerade in Israel über die Jahrzehnte so lebhaft
       ausgetragen wurde, davon ausgehend, dass Linke wie Rechte letztendlich das
       Wohl des Staats und seiner Bürger im Sinn haben, ist passé. Übrig blieb der
       offene Kampf der Anhänger von Großisrael gegen all seine Kritiker, auch
       gegen mich.
       
       Als ich Anfang des Jahres die aufgeregte Reaktion der Regierung über einen
       Raketenangriff auf Tel Aviv mit dem Hinweis kommentierte, dass sich
       Netanjahu umgekehrt mit dem Dauerbeschuss auf israelische Ortschaften rund
       um Gaza ganz gut arrangieren könne, trat die Botschaft in Berlin mit einem
       Video einen Shitstorm gegen mich los. Netanjahu treibt die Hetze stetig an,
       schimpft auf MenschenrechtsaktivistInnen, auf Journalistinnen, Richter und
       immer wieder auf die Araber, die Israel vernichten und die Juden ins Meer
       treiben wollten.
       
       71 Jahre alt ist Israel in diesem Jahr geworden. 30 davon habe ich
       miterlebt. Das Land, das mich als Teenager so in den Bann zog, existiert
       heute nicht mehr. Die Besatzung hat die israelische Bevölkerung verrohen
       lassen. Was ich einst als ruppig empfand, ist heute offene Aggressivität.
       
       ## Netanjahu macht den Abschied leichter
       
       Netanjahu führt dieses wunderbare Land systematisch in den Abgrund. Er
       macht mir den Abschied leichter. In Berlin wartet meine Familie auf mich,
       meine Frau Heike, unser kleiner Finn und Tom. Selbst wenn er wollte, könnte
       Tom als Sohn einer Schickse, einer nichtjüdischen Frau, nicht im Judenstaat
       studieren oder arbeiten. Ein Staat, der durch das liberale Recht auf
       Samenspende seine Geburt erst ermöglichte. Tom spricht besser Hebräisch als
       Deutsch und gilt, wenn er nach Israel reist, als Tourist.
       
       Meine Freunde werde ich am meisten vermissten. Gut ist, dass Hagai
       mitkommt. „Berlin ist in jedem Fall sympathischer als jeder Ort in Israel“,
       sagt er, nicht nur, was den Lebensstandard betrifft. In Israel zu leben,
       findet er moralisch schwierig, weil die „Existenz Israels über die Jahre
       immer gewaltsamer und für die Bedürfnisse der anderen Seite blind wurde“.
       Allein die Tatsache, dass er zu diesem Kollektiv gehört, mache ihn zum
       Mittäter.
       
       Ich räume meinen Korrespondentenposten für Judith Poppe. In ein paar Tagen
       wird sie in Tel Aviv landen. Jung, aufgeregt und hungrig danach, viele
       Artikel über gute Entwicklungen zu schreiben. Ich wünsche ihr eine
       spannende und glückliche Zeit. Ich rufe sie nachher mal an. Vielleicht
       kauft sie mir ja mein Auto ab.
       
       16 Oct 2019
       
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