# taz.de -- Höhere Deiche gegen höhere Pegel: Nah am Wasser gebaut
       
       > Ein Drittel der Niederlande liegt unter dem Meeresspiegel. Der
       > Klimawandel lässt das Wasser steigen. Wie ein Land sich gegen den
       > Untergang rüstet.
       
 (IMG) Bild: Unter Normalnull: ein Dorf am Rand des IJiselmeers
       
       Hoek van Holland/DenOever/Texel taz | Der König winkt! Vor ihm in der
       Gracht treiben 21 Klima-Aktivisten in orangen Schwimmwesten. Doch Willem
       Alexander lässt sich nicht vom Protokoll abbringen, auch wenn sie ihm für
       einen Moment die Show gestohlen haben, am koningsdag, seinem Geburtstag.
       Ihr Banner bedeckt nun die Wand der Gracht. „The Oceans are rising, so are
       we: Willkommen in Amersfoort am Meer“, steht darauf. Doch Amersfoort liegt
       etwa drei Meter hoch. Bis zur Küste sind es gut 80 Kilometer.
       
       Dass die Niederlande, deren Gebiet zu einem Drittel unter Normalnull liegt,
       versinken könnten, nun ja: müssen, wenn der Meeresspiegel deutlich steigt,
       ist jedem klar, der das Land einmal besucht hat. Und erst recht natürlich
       den Menschen, die hier leben. Diese gefährlich niedrige Lage hat ein
       solches Maß an Expertise hervorgebracht, dass niederländische
       Wasseringenieure als die besten der Welt gelten. Wie reagiert man also auf
       die unheilvollen Berichte von immer schneller steigenden Weltmeeren?
       
       Einen guten Eindruck vermittelt das wohl ikonischste aller hiesigen
       Wasserschutz-Bauwerke: der afsluitdijk (Abschlussdeich), ein 32 Kilometer
       langer Damm zwischen den Provinzen Noord-Holland und Friesland, erbaut
       zwischen 1927 und 1932, der die zuvor tief ins Land einschneidende
       Zuiderzee von der Nordsee abtrennte und daraus das IJsselmeer machte. Der
       Deich, über den heute eine Autobahn führt, ist eine Lebensversicherung für
       die Anrainer-Provinzen – eine, die sogar vom All aus sichtbar ist.
       
       Seit April ist der Abschlussdeich eine Baustelle. Nach gut 85 Jahren ist es
       an der Zeit, das Bauwerk zu verstärken, findet die Infrastruktur-Behörde
       Rijkswaterstaat. Bis zum Jahr 2022 wird die gesamte Außenseite neu
       verkleidet. Jeweils zwei Sielschleusen und Pumpwerke werden installiert, um
       Wasser aus dem IIssel- ins Wattenmeer ablassen oder pumpen zu können. „Die
       Renovierung hat drei Gründe“, erläutert Joost van de Beek, der
       Programmmanager. „Das Alter des Deichs, das Steigen des Meeresspiegels und
       unsere Sicherheitsnormen: Als er gebaut wurde, gab es noch keine. Jetzt
       werden sie immer strenger.“
       
       ## 50.000 Quadratmeter Steine für einen besseren Deich
       
       Von der Autobahn aus ergibt sich ein Bild vom Umfang dieses Projekts.
       Hinten, an der friesischen Seite, haben die Bagger und Kräne schon
       begonnen. Auf halbem Weg liegt ein Vorratslager, dessen Zaun von einem Mann
       in Warnweste bewacht wird. Ganze Wände aus Verstärkungselementen sind dort
       aufgebaut, „50.000 Quadratmeter Steine“, sagt Joost van de Beek. Daneben
       liegt bergeweise Sand. Es gibt Baracken für Arbeiter, Bagger verladen
       Material, das mit Booten und Lastwagen zum Einsatzort gebracht wird.
       
       Zurück in seinem Büro in Den Oever zeigt van de Beek per Laptop die Details
       des Projekts. Zuerst wird der Deich um zwei Meter erhöht, mit Sand
       verbreitert und mit Steinen abgesichert. Dann folgt die neue
       Außenverkleidung: Unten im Deich werden einmal 75.000 speziell entworfene
       Betonbrocken von etwa anderthalb Meter Höhe und sechseinhalb Tonnen Gewicht
       liegen. In ihrer Mitte ist jeweils ein Hohlraum angebracht, durch den das
       Wasser, das die Steine überspült, wieder nach unten strömen kann. „Damit
       arbeiten wir seiner natürlichen Neigung entgegen, Dinge hoch zu treiben.“
       
       Im oberen Teil des Deichs sollen andere Betonelemente die Außenverkleidung
       bilden. Sie bestehen aus vier aneinandergegossenen Teilen. Der Zwischenraum
       ist gerippt, um die Kraft der Wellen zu brechen. „Bei einem Supersturm käme
       das Wasser bis hierher“ – Joost van de Beek weist auf die halbe Höhe des
       Deich-Modells. „Wäre diese Fläche glatt, würde das Meer darüber schlagen.“
       
       Die Animationen an der Wand des Büroraums zeigen, welche Register in diesem
       Land gezogen werden, um das Wasser hinter den Deichen zu halten. Natürlich
       macht so etwas selbstsicher. „Wir sind diese Umstände seit Jahrhunderten
       gewohnt. Und alle zwölf Jahre werden die Deiche gesetzlich überprüft“, so
       van de Beek, der in Lelystad wohnt. Die Hauptstadt der Provinz Flevoland
       wurde einst dem IJsselmeer abgerungen und nach dem Wasserminister Cornelis
       Lely benannt, der als Vater des Abschlussdeichs gilt.
       
       ## 35 Zentimeter höhere Pegel sind eingeplant
       
       Lelys Nachkommen verfolgen heute einen Ansatz namens „adaptives
       Deltamanagement“. „Wir gehen schrittweise vor: erst machen wir den Deich
       bis 2050 beständig, danach schätzen wir die Lage neu ein. Das
       meteorologische Institut geht bis dahin von 35 Zentimeter Seespiegelanstieg
       aus“, erklärt van de Beek. „Sollten es 50 Zentimeter werden, müssen wir den
       Deich anpassen.“ Und wenn diese Strategie in Zukunft nicht mehr ausreicht?
       „Wir haben genug Wissen, um die Deiche weiter zu erhöhen. Technisch ist
       alles möglich. Wobei die Kosten natürlich steigen werden.“
       
       Freilich teilen nicht alle dieses Vertrauen. Im Februar fragt Lammert van
       Raan, Abgeordneter der Partei für die Tiere, im Parlament in Den Haag, wie
       die Regierung sich auf einen möglichen schnelleren Anstieg vorzubereiten
       gedenke. Anlass: eine Fernsehreportage über die Oosterscheldekering, ein
       Sperrwerk im Südwesten des Landes und Teil der legendären Delta-Werke.
       Ingenieur Frank Spaargaren bekennt dort, sein Bauwerk sei für einen 40
       Zentimeter höheren Meeresspiegel konzipiert: „Bei einem Meter Anstieg kann
       man es vergessen.“
       
       Ein paar Wochen später empfangen die Abgeordneten einen Brief von Cora van
       Nieuwenhuizen, der Ministerin für Infrastruktur und Wasser. Der Inhalt ist
       ambivalent: Die Niederlande seien „das sicherste Delta der Welt“, dank des
       gesetzlich vorgeschriebenen Küstenschutzes, dem „Delta-Programm“ samt
       angeschlossenem Investitionsfonds. Zugleich räumt sie ein, ein schnellerer
       Anstieg werde erst nach 2050 sichtbar. Was die langfristige Perspektive
       betrifft, gebe es „extrem große Unsicherheiten“, die es zu reduzieren gelte
       – gerade hinsichtlich der Entwicklungen in der Antarktis.
       
       ## Und wenn das Wasser noch höher steigt?
       
       Der Glaziologe Michiel Helsen, Dozent an der Hochschule Rotterdam, hat
       berufsbedingt einiges an Einblick in diese Thematik. Sein Fazit ist nicht
       beruhigend. Im Winter gehörte er zu jenen Wissenschaftlern, die in der
       Zeitschrift Vrij Nederland kritisieren, die Niederlande hätten „keinen Plan
       B“, falls das Wasser schneller steige. Helsen wird dort zitiert: „Ist es
       noch verantwortlich, unter Normalnull zu wohnen? Langfristig ist es
       möglich, dass wir den Westen der Niederlande nicht halten können.“ Er
       plädierte für eine Debatte, „an welchen Teile des Landes man zu welchem
       Preis festhält“.
       
       Gefragt nach einem Ort, an dem seine Warnung anschaulich wird, schlägt
       Helsen die Maeslantkering vor, ein Sperrwerk bei Hoek van Holland, unweit
       des Rotterdamer Hafens gelegen. Es ist der nördlichste Teil der
       Delta-Werke, die nach der Flut-Katastrophe von 1953 zum Schutz der
       Provinzen Zuid-Holland und Zeeland errichtet wurden: zwei gigantische und
       computergesteuerte Türen, je 210 Meter breit, 22 Meter hoch und 15 Meter
       tief, die bei einem Wasserstand von 3 Metern geschlossen werden. Einer
       Million Menschen im Metropolengebiet sollen sie im Fall einer Flut die Füße
       trocken halten.
       
       Michiel Helsen ist kein finsterer Untergangs-Prophet, sondern ein
       jugendlich wirkender Wissenschaftler von Anfang 40, der einst aus
       Faszination für Eis und Gletscher sein Fachgebiet wählte. Warum drängt er
       in solch drastischen Worten zu einer Diskussion darüber, einen Teil der
       Niederlande aufzugeben? „Die Dringlichkeit kommt daher, dass wir viel über
       Klimaschutz-Maßnahmen reden, weil die Niederlande sehr niedrig liegen. Aber
       es wird kaum darüber gesprochen, dass es schiefgehen kann, etwa weil wir
       die Ziele des Pariser Klima-Abkommens nicht einhalten.“
       
       Aus der Fensterfront des Besucherraums fällt der Blick auf die riesigen
       Flügeltüren, zwischen denen der Nieuwe Waterweg, die Verlängerung des
       Rheins, die letzten Meter zur Nordsee zurücklegt. Entworfen wurde das
       Sperrwerk für eine Periode von 100 Jahren. Als es in den 1990ern gebaut
       wurde, erwartete man, dass es einmal in zehn Jahren in Funktion trete.
       Tatsächlich war dies bisher zweimal der Fall, 2007 und 2018. Bei einem
       höheren Meeresspiegel käme das viel häufiger vor: dreimal im Jahr bei einem
       Anstieg von einem Meter, 30-mal bei anderthalb Metern. Was schwerwiegende
       Folgen hätte: „Wohin dann mit dem Wasser aus dem Fluss, das nicht zur See
       abfließen kann?“, gibt der Wissenschaftler zu bedenken. „Man bekäme einen
       Staudammeffekt, aber auf der falschen Seite.“
       
       ## Zehn Meter höher, und von den Niederlanden bleibt nichts übrig
       
       Es ist ein unwirkliches Ambiente: Da springt eine Grundschulklasse fröhlich
       zwischen den Info-Tafeln umher, eine neue Generation Niederländer, die
       aufwachsen werden mit dieser Bedrohung, die immer im Konjunktiv gedacht
       wird. Und Michiel Helsen sagt: „Wenn die Erde sich weiter aufwärmt, wenn
       die großen Eiskappen schmelzen, so gut wie alles Eis auf Grönland und einen
       Großteil der Westantarktis, kann das einen Anstieg von zehn Metern
       verursachen. Dann bleibt von den Niederlanden nicht viel übrig. Gerade vom
       Westen, wo die meisten Menschen wohnen und die Wirtschaft ist.“
       
       Was, wenn der Meeresspiegel nach 2050 viel heftiger steigt, als derzeit
       prognostiziert? Helsen hält das für durchaus möglich: „Eiskappen haben eine
       komplizierte Dynamik. Wenn Eis, wie es in der Antarktis oft der Fall ist,
       ins Meer strömt oder ins Treiben gerät, kann es viel schneller schmelzen
       als an Land, vor allem, wenn das Wasser wärmer ist. Weil diese Prozesse so
       komplex sind, ist die Entwicklung schwer vorherzusagen. Aber wir sehen,
       dass Prognosen den Berichten des Weltklimarats bisher meist zu vorsichtig
       waren und korrigiert wurden.“
       
       An der Rotterdamer Hochschule, wo Helsen für die Ausbildung von
       Geografie-Lehrern zuständig ist, gibt er derzeit einen Kurs namens „Global
       Change“ zum Thema Klimawandel. Auch die prekäre Situation der Niederlande
       kommt dort zur Sprache. In der Vergangenheit hat er sich gewundert, wenn
       Studenten die Gefährdung nicht als konkret wahrnahmen. In diesem Frühjahr
       habe sich dies geändert. „Sie realisieren nun, dass dies sie selbst
       betreffen wird.“
       
       ## Wie Rob Bakker auf der Insel Texel die Dämme verstärkt
       
       Ähnliches hört auch Rob Bakker zurzeit öfter von seinen drei Kindern im
       Teenageralter. Er selbst beschäftigt sich damit, das Land auf dessen Folgen
       vorzubereiten und vor der Flut zu schützen. „Ich bin Wasserbauer“, sagt
       Bakker, 48, über seinen Beruf. Im ganzen Land ist er im Einsatz. Eine
       Arbeit, auf die er stolz ist, im Bewusstsein der eigenen Erfahrung und
       Expertise.
       
       In den letzten drei Jahren hat Rob Bakker ein Heimspiel. Was bedeutet, dass
       er von April bis Oktober die Deichverstärkung auf Texel begutachtet, die
       Anfang 2020 abgeschlossen sein soll. Auf der Insel im Wattenmeer hat Bakker
       fast sein ganzes Leben verbracht. Seine Eltern erlebten hier die Flut von
       1953, die auch auf Texel Todesopfer forderte. Beim schweren Sturm von 1976
       war er ein Kind. „Damals wurde hier evakuiert, weil die Deiche zu brechen
       drohten.“
       
       Aus dem Fenster des Dienstautos sieht man die Polder im Osten der Insel, an
       der Wattenmeer-Seite. Für die Touristen auf ihren Fahrrädern gehören Bagger
       derzeit genauso zu Texel wie die sprichwörtlichen Schafe. An einem freien
       Tag hat sich Rob Bakker Zeit für eine Tour genommen, um den State of the
       Art des Küstenschutzes zu zeigen: Steine unter der Asphaltdecke des Deichs
       erneuern, Kleiboden durch Asphalt ersetzen, die Krone mit neuem Klei
       bedecken, „erosionsbeständig und sehr fett, damit auch eine Welle, die über
       die Krone geht, den Deich nicht angreift.“
       
       Ganz im Süden wird Texel zur Großbaustelle mit Baggern und Sandhaufen. An
       einer Stelle saniert man den Deich komplett, um ihn zugleich zweieinhalb
       Meter zu erhöhen. Im nächsten Abschnitt hat man gar eine neue Dünenreihe
       vorgelagert, aufgespritzt mit Hochdruckgeräten. Die riesigen braunen Rohre,
       die dazu verwendet wurden, sind demontiert und warten nun auf dem neu
       geschaffenen Strand auf ihren Abtransport. „Fünfeinhalb Millionen
       Kubikmeter Sand waren das“, weiß Bakker. „Die Dünen können mit dem
       Meeresspiegel mitwachsen, wenn man in Abständen etwas Sand zufügt.“
       
       Mit welcher Höhe man hier auf Texel rechnet? „30 Zentimeter innerhalb der
       nächsten 50 Jahre. Dazu zehn Zentimeter Bodensenkung, und etwas höhere
       Wellen.“ Für Rob Bakker ist so etwas ein „Entwurfhorizont“. Technische
       Umschreibungen des natürlichen Rahmens seines Berufs. Darüber, die Küste
       irgendwann aufzugeben, denkt er nicht nach. Wohl hat er den Artikel, in dem
       Michiel Helsen seine Warnung ausspricht, interessiert gelesen. „Wir werden
       in den Niederlanden auf jeden Fall knallhart damit zu tun haben. Deswegen
       ist es gut, dass eine Diskussion beginnt.“
       
       ## Die Insulaner von Texel bleiben cool
       
       Es mag am Inselwind liegen, dass die Worte des Wasserbauers schon ein paar
       Kilometer weiter nördlich kaum ein Echo hervorrufen. In Den Burg, dem
       winzigen Zentrum Texels, ist am nächsten Morgen reger Betrieb. Trotz kühler
       Temperaturen sitzt das halbe Dorf in der noch schwachen Morgensonne. Fragt
       man Bewohner, ob sie sich wegen des steigenden Meeresspiegels sorgen, hört
       man drei Arten von Reaktionen: „Ach wo, die Deiche schützen uns doch!“ –
       „Also wirklich nicht! Das Meer und seine Gefahr waren immer da. Das sind
       wir gewöhnt.“ – Lachen.
       
       „Wenn das Wasser kommt, kommt es nach Oudeschild an der Wattenseite“, sagt
       Jenni Eilers, die in einem Sportgeschäft an der Kasse steht. „Wenn es doch
       bis Den Burg kommt, bin ich eben weg. Aber die Deiche sind gut in Schuss.
       Gerade werden sie ja auch wieder verstärkt.“ Ein Verkäufer im Laden ist der
       Einzige, der sich an diesem Morgen nachdenklich zeigt. Der 38-jährige Mann
       will anonym bleiben, als schäme er sich für seiner Meinung. „Natürlich
       steigt das Wasser. Und es ist kein Unsinn, dass das Eis schmilzt.“
       
       Seine Zukunft sieht er trotzdem auf Texel. Die Küste aufzugeben, findet er
       keine realistische Option. „Schon weil dort Amsterdam und Rotterdam liegen,
       die sich selbst wichtiger finden als den ganzen Rest des Landes.“ Im Falle
       eines Falles aber würde er seine Insel verlassen. Wohin? „Irgendwohin, wo
       es besser ist, nach Deutschland oder vielleicht nach Dänemark. Man flüchtet
       ja schließlich nicht zum Spaß!“
       
       24 Jun 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Müller
       
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