# taz.de -- Ein Jahr zwischen Danzig und Berlin: Wenn Polen offen ist
       
       > Ein Jahr lebten Freundin und Tochter unseres Autors in Gdańsk. Er
       > pendelte hin und her, im Gepäck: polnische Grammatik, Döblin und
       > Ostseesand.
       
 (IMG) Bild: „Der Zug trägt mich fort, hält mich fest, schwankt mit mir über die Schienen in die Nacht“
       
       Wenn meine fünfjährige Tochter über Gemüse oder scharfe Soße spricht, dann
       sagt sie „Ich liebe das nicht“. Richtig auf Deutsch hieße es natürlich „Ich
       mag das nicht“. Aber meine Tochter hat die letzten 14 Monate in Polen
       gelebt – und auf Polnisch heißt „Ich mag das nicht“ nun mal nie lubie:
       Klingt wie lieben, heißt aber mögen. Diese charmante Übertragung wird uns
       hoffentlich noch eine Zeitlang begleiten, wie ein Souvenir, wie der Sand
       vom Strand in Brzeźno in unseren Schuhen. Wir haben eben alle etwas
       mitgenommen von diesem letzten Jahr, in dem meine Tochter mit ihrer Mutter
       in Danzig wohnte und ich zu ihnen pendelte.
       
       „Jetzt fange ich an zu verstummen, taub zu werden“, schreibt Alfred Döblin
       beim Überqueren der Sprachgrenze. „Reise in Polen“, das ist Döblins
       zweimonatige Tour im Jahr 1924 – durch das gerade als unabhängiger Staat
       neu erstandene Nachbarland.
       
       Mit Polen bin ich selbst das erste Mal 1990 bei einem Italienischkurs in
       Kalabrien in Berührung gekommen. Meine polnischen MitschülerInnen hatten
       die lange Strecke in einem winzigen Polski Fiat bewältigt, waren etwas
       DDR-mäßig angezogen und sangen abends beim Lagerfeuer am Strand Lieder mit
       Worten, über deren Zischlaute sie selbstironisch Witze rissen.
       
       Dass sie vielleicht von der Revolution sangen, die sie gerade gemacht
       hatten, dafür interessierte ich mich in meiner jugendlichen Südfixierung
       kein bisschen, eher für die Italiener, die kenianischen Kommilitonen und
       insbesondere für die Spanierinnen. Wie viele Westeuropäer lebte ich mit dem
       Rücken zu diesem beunruhigend endlosen Osten, der sich 1989 auftat. Es
       brauchte fast dreißig Jahre, bis ich wissen wollte, was da jenseits von
       Oder und Neiße eigentlich vorging.
       
       ## Gdańsk für ein Jahr
       
       Bis ich nämlich meine Freundin kennenlernte, die dort Anfang der 1980er
       geboren worden war, in Wejherowo in der Woiwodschaft Pommern, ein
       Städtchen, das in ihrem deutschem Pass irrsinnigerweise bis heute „Neustadt
       in Westpreußen“ genannt wird.
       
       Dorthin, nach Wejherowo und weiter ins nahe [1][Gdańsk] wollte meine
       Freundin nun im Frühjahr 2018 für ein Jahr mit unserer Tochter
       zurückkehren: Die Tochter sollte nicht immer nur von Oma und Mutter
       Polnisch hören, meine Freundin würde ein Buch über Polen vor den Wahlen im
       Herbst 2019 schreiben. Und ich würde sie eine Zeit lang begleiten, ein paar
       Wochen Sprachkurs machen und dann zweiwöchentlich zum Polenpendler werden.
       
       Abfahrt, Freitag, 14.37 Uhr, Berlin-Hauptbahnhof, Ankunft Gdańsk Wrzeszcz
       20.19; Rückfahrt, Montag, 7.19 Uhr, Ankunft Berlin 13.16 – so weit
       jedenfalls die Fahrplan-Theorie (in Polen gibt es dafür immer und überall
       Internet).
       
       „Der Zug ist wie ein Pfeil von Berlin losgelassen“, schreibt Döblin weiter.
       „Der Schienenstrang ist unendlich. Ich bin gefangen.“ Schon jetzt vermisse
       ich diese Fahrten, das zur Ruhe kommen bei Bier und Kotlet Schabowy im
       polnischen Speisewagen, welches live geklopft und gebraten wird, so dass
       der Butterduft durch den Waggon zieht. Fernpendeln ist auch eine Art
       On-the-road-Sein, etwas, das die eigene Existenz positiv aufmischt, nicht
       zuletzt, weil man dabei eine Grenze überschreitet; eine, an der inzwischen
       das einzig offensichtlich Dramatische ist, dass es eine [2][Sprachgrenze]
       ist.
       
       ## Die Grammatik der Geschichte
       
       Witam! Ich habe bislang ungefähr 1.000 Euro ausgegeben, um die polnische
       Sprache zu erlernen – und kann relativ fließend ein Schnitzel und ein Bier
       bestellen. Mein Lieblingssatz meiner Lehrerin hier in Berlin ist: „Da gibt
       es keine Regel, das müsst ihr einfach lernen.“ Polnisch ist eine
       grammatisch höchst elaborierte Angelegenheit mit sechs Fällen, großen
       Schönheiten und historischen Versteinerungen.
       
       So sagt man auf Polnisch nicht, dass man in die Ukraine oder nach Litauen
       fährt: Sondern man fährt in der Ukraine beziehungsweise in Litauen, weil
       diese Länder in der polnischen Sprache Teil des polnischen Staates
       geblieben sind, der einst sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer
       erstreckte, der Rzeczpospolita Królestwa Polskiego, also der schön
       widersprüchlich genannten „Republik des Königreichs Polen“.
       
       Wenn man sich über einen Atlas beugt und in Europa von West nach Ost
       Französisch, Deutsch und Polnisch einander angrenzen sieht (Niederländisch
       lassen wir mal außen vor), dann könnte man an einen Sprachgott denken, der
       sich fiese Spielchen erlaubt, um die Menschen voneinander zu trennen. Ohne
       meine so noch dürftigen Polnischkenntnisse, ohne die Anstrengung dieser
       Aneignung, hätte ich nur ein sehr eingeschränktes Verständnis von dem, was
       Europa ist: Europa ohne Polen und ohne das, was Polen weiter nach Osten
       ausstrahlt und von dort nach Westen vermittelt, ist nicht Europa.
       
       Umgekehrt sind wir damit beim wichtigsten Punkt zum deutsch-polnischen
       Verhältnis, der sich mir in diesem Jahr aufgetan hat: Die Polen haben nicht
       gewartet, bis ein Pan Waibel oder sonst wer aus dem Westen sich für sie
       interessiert. Polen rennt voran, die Region Danzig ist inzwischen
       wirtschaftlich stärker als etwa die Region Neapel.
       
       ## Arbeiten, bis wir haben, was ihr habt
       
       Die Polen sagen nach meiner Erfahrung in diesem Jahr so: Wir rackern mit in
       Deutschland schon lange nicht mehr zu findendem Fleiß sieben Tag die Woche
       von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, weil wir das haben wollen, was ihr
       habt und als selbstverständlich anseht.
       
       Und wenn wir das haben – was schon lange unser Eigen gewesen wäre, wenn
       nicht unser einer Nachbar uns zu versklaven und zu vernichten versucht
       hätte und der andere uns in sein Imperium gepresst und sein politisches
       System aufgenötigt hätte – [3][dann können wir uns gerne auch mit den
       vielen anderen interessanten Diskursen beschäftigen, die euch so
       umtreiben].
       
       Dieses polnische An-sich-selbst-genug-Haben und
       Mit-sich-selbst-beschäftigt-Sein hat im Privaten in diesem Jahr in Danzig
       auch zu Verstimmungen geführt. Die Verwandten, die insbesondere meine
       Freundin und meine Tochter zu Beginn freudig begrüßt hatten, zeigten in den
       folgenden Monaten einen gewissen Unwillen, sich zu irgendetwas verpflichten
       zu lassen oder, aus unserer Perspektive, Verbindlichkeit zu gewährleisten.
       Gemeinsame Urlaubspläne wurden kurzfristig abgesagt, weil neue Aufträge
       reinkamen.
       
       Sommerferien waren kein Heiligtum, sondern ein flexibel nach Auftragslage
       sich zu leistendes oder zu cancelndes Extra. Wer die politischen
       Verhältnisse in Polen, aber vielleicht auch allgemein im europäischen Osten
       verstehen und bewerten will, läuft ins Leere, wenn er diese enorme, auch
       rücksichtslose, auch beschränkte, enge und irrende, aber unglaublich
       energische und großartige Aufholjagd, diesen Hunger nach materiellem und
       geistigem Konsum nicht berücksichtigt.
       
       ## Erschütternde Leerstelle
       
       Um Polen besser zu verstehen, habe ich ein paar Bücher gelesen, die mir
       sehr geholfen und gefallen haben: Die Romane der Danziger Stefan Chwin und
       Paweł Huelle haben mich im Stadtteil Wrzeszcz zu Hause fühlen lassen, mehr
       als die des ebendort geborenen und aufgewachsenen Günter Grass; das schöne
       Wrzeszcz, das auf Deutsch Langfuhr und auf Kaschubisch Lengforda hieß und
       dessen Namen ich heute flüssig aussprechen kann, bei dem ich aber noch
       immer kontrollieren muss, ob ich ihn richtig geschrieben habe.
       
       Bücher von Andrzej Stasiuk und Michał Książek haben mich gelehrt, wie auch
       Polen nur ein Westen ist, gegenüber einem Osten, der nicht erst hinter dem
       Fluss Bug und dem Urwald von Białowieża beginnt. Und doch war Döblins
       „Reise in Polen“ das Buch, das mich am meisten über meine Beschränktheit
       aufgeklärt hat, nicht nur in Bezug auf Polen, sondern auch über für mich
       als Deutschen existenziellere Geschehnisse. Weder ich noch jemand anderes,
       dem ich davon erzählte, hatte je von diesem Reisebericht gehört; er scheint
       zum Kanon des polnisch-deutschen Bewusstseins nicht dazuzugehören.
       
       Ich habe dieses Buch hin und her und wieder gelesen in diesem Jahr, auch
       natürlich wegen der offensichtlichen Anklänge der langen Reisen. „Der Zug
       trägt mich fort, hält mich fest, schwankt mit mir über die Schienen in die
       Nacht.“ Döblins „Reise“ ist nicht nur ein grandios-neugieriges Wahr-Nehmen
       dieser vom deutschen Nachbarn so abgewerteten Nation; es ist vor allem, von
       heute aus gelesen, ein erschütternder Text über eine Leerstelle: Es gibt
       keine „Judenstadt von Warschau“ mehr, [4][keine jiddisch sprechende Menge]:
       „350.000 Juden wohnen in Warschau, halb soviel wie in ganz Deutschland. […]
       Es ist ein Volk. Wer nur Westeuropa kennt, weiß das nicht.“
       
       Und wenn ich nicht von Döblin an die Hand genommen in und durch dieses
       Polen von heute gereist wäre – ich hätte trotz aller gut gemeinten, aber
       Polen auf gespenstische Art außen vor lassende
       1980er-Jahre-Vergangenheitsbewältigungsschulbildung dieses Land noch
       weniger verstanden: Ich hätte die Leere nicht gesehen, die das deutsche
       Verbrechen hinterlassen hat, die Leere, die heute in Polen allzu oft mit
       Hass aufgefüllt wird.
       
       ## Schätzen, aber nicht lieben
       
       An ihrem ersten Montag in Danzig ist meine Tochter von meiner Freundin in
       die przedszkole, die Vorschule genannte Kita gebracht worden. An der Tür
       hat die Betreuerin, die Pani, wie meine Tochter auch in Berlin noch sagt,
       sie in Empfang genommen – und dann die Tür zugezogen: In Polens staatlichen
       Kindergärten ist das hierzulande sich über Wochen hinziehende Ritual der
       „Eingewöhnung“ nicht üblich.
       
       Meine Tochter hat in der przedszkole zunächst allen auf Deutsch
       geantwortet, weil sie Polnisch zwar verstehen, jedoch nicht sprechen
       konnte. Zwei Wochen später hatte sie’s aber drauf und hat die Pani korrekt
       gesiezt, wie man das eben macht, in Polen.
       
       Und diese gewisse Distanz, die ist auch mir geblieben. Ich habe Polen in
       diesem Jahr überaus schätzen gelernt, aber nicht lieben. Ich – da bleibe
       ich deutsch oder eher bundesrepublikanisch – ich liebe meine Freundin und
       meine Tochter.
       
       15 Jun 2019
       
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