# taz.de -- Seenotrettung im Mittelmeer: Die Strafe Salvinis
       
       > Sie retteten Menschen in Seenot. Nun droht Mitgliedern der „Iuventa“-Crew
       > eine Anklage aus Italien wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“.
       
 (IMG) Bild: Das inzwischen beschlagnahmte Rettungsboot „Iuventa“ der NGO „Jugend rettet“
       
       Berlin/Brecia/Rom taz | Noch könnte alles an ihr vorbeiziehen, wer weiß,
       und Kathrin Schmidt könnte ihr altes Leben zurückbekommen. Sehr
       wahrscheinlich ist das nicht. Und so sitzt Schmidt, 35, blonde Locken,
       Daunenweste, an einem Nachmittag im April mit einer Gruppe von AktivstInnen
       im Berliner Kulturzentrum Mehringhof.
       
       Sogar ein Reporter der New York Times ist dabei und schreibt mit, während
       die Runde darüber nachdenkt, was sie tun kann, wenn die Staatsanwaltschaft
       in Sizilien Schmidt tatsächlich, wie signalisiert, wegen „Beihilfe zur
       illegalen Einreise“ anklagt.
       
       Bis zu 20 Jahren Haft sind dafür als Strafmaß vorgesehen, dazu drohen bis
       zu 15.000 Euro Geldbuße pro nach Italien gebrachte Person. Insgesamt haben
       die AktivistInnen auf der „Iuventa“ etwas mehr als 14.000 Menschen aus dem
       Wasser geholt. Sechzehnmal ist sie dafür ausgelaufen. Bei sieben dieser
       Missionen war Schmidt an Bord.
       
       Als der im brandenburgischen Teltow ansässige Seenotrettungsverein Jugend
       Rettet 2015 gegründet wurde, gingen einige der AktivstInnen noch zur
       Schule. Sie sammelten über 150.000 Euro und kauften die „Iuventa“. 200
       Freiwillige fuhren im Laufe der Zeit als Crew mit. Zehn von ihnen droht nun
       Gefängnis.
       
       Mindestens vier Anwälte dürften nötig sein, um sie zu vertreten, bis zu
       200.000 Euro wird das kosten. Dazu kommt womöglich noch einmal so viel für
       Gutachten, Unterbringung von Zeugen, Spesen für Fachleute. Jeden Tag, sagt
       Schmidt, sei sie nun mit der Vorbereitung beschäftigt: Akten lesen, mit
       Anwälten sprechen, Geld sammeln. „Wir machen nichts anderes.“
       
       Schmidt stammt aus Berlin, hat dort Ergotherapie gelernt. 2009 zog sie nach
       Neuseeland und arbeitete dort im psychiatrischen Krisendienst. Als sich
       die Situation in Europa 2015 zuspitzte, ging sie als Sanitäterin nach
       Nordsyrien, half Flüchtlingen auf der Balkanroute, später in Griechenland,
       dort auch als Seenotretterin. Im August 2016 stieß sie zur „Iuventa“.
       
       ## Im Verdacht der Begünstigung „illegaler Einwanderung“
       
       Es war die dritte Mission des Schiffs. Schmidt hatte mehr Erfahrung als die
       meisten anderen, wurde Teamleiterin, später kümmerte sie sich um die Crews
       und das „De-Briefing“, das Besprechen der oft belastenden Einsätze.
       
       Denn oft hätten die Helfer eben nicht mehr helfen können, sagt sie. Die
       „Iuventa“, ein ehemaliger Fischkutter, kann nur wenige Menschen
       transportieren. Normalerweise verteilte die Crew an den Unglücksstellen
       Rettungsinseln. In Ausnahmefällen nahm sie auch Menschen an Bord, bis
       größere Schiffe kamen, um die Geretteten an Land zu bringen. Doch manchmal
       kamen nicht genug Schiffe für alle. „Wenn man Menschen in die Augen sieht
       und nichts für sie tun kann – das wird uns für immer begleiten“, sagt
       Schmidt.
       
       Alle Einsätze seien von der italienischen Rettungsleitstelle MRCC in Rom
       koordiniert worden. „Es gab keine Rettung ohne deren Autorisierung.“ Am 1.
       August 2017 beorderte das MRCC die „Iuventa“ nach Lampedusa, angeblich um
       gerettete Syrer, die ihnen die italienische Küstenwache übergeben hatte, zu
       der Insel zu bringen.
       
       Am Morgen des 2. August beginnt die Polizei, die 15-köpfige, überwiegend
       aus Deutschen bestehende Crew zu verhören, und durchsucht das Schiff.
       [1][Am Nachmittag wird es dann beschlagnahmt] – eine „präventive Maßnahme“,
       so die Staatsanwaltschaft in Trapani. Die Besatzung stehe im Verdacht der
       Begünstigung „illegaler Einwanderung“ – dennoch bleibt sie auf freiem Fuß.
       
       Bei einer Pressekonferenz legt die Staatsanwaltschaft Bilder vor, die
       Fotografen der Agentur Reuters bei zwei „Iuventa“-Einsätzen aufgenommen
       hatten. Zu sehen ist, wie ein Beiboot ein leeres Flüchtlingsboot schleppt.
       
       Die Staatsanwaltschaft behauptet, das Boot sei in libysche Gewässer
       zurückgebracht worden, damit die Schlepper es wieder benutzen könnten.
       Wissenschaftler der Londoner Goldsmith University weisen später anhand des
       Bildmaterials nach, dass das Boot tatsächlich in Richtung Norden, also weg
       von der libyschen Küste, geschleppt wurde.
       
       Auf anderen Bildern ist zu sehen, wie zwei Männer in einem Holzboot den
       Motor eines Flüchtlingsboots abbauen und mitnehmen. Die „Iuventa“ war dabei
       vor Ort. Die Polizei schlussfolgert, deren Besatzung habe damit die
       Aktivitäten von Schleppern zugelassen.
       
       Schließlich zitiert die Polizei gegenüber italienischen Medien aus
       Abhörprotokollen, ein Besatzungsmitglied der „Iuventa“ habe gesagt, Fotos
       von Schleusern würden nicht an Behörden übergeben. Die Staatsanwaltschaft
       schließt daraus, dass die Crew sich mit Schleppern abgesprochen und teils
       agiert habe, ohne dass die Migranten in Gefahr gewesen seien. „Sie wurden
       von den Schleusern eskortiert und unweit der libyschen Küste der Besatzung
       der ‚Iuvent‘“ übergeben“, sagt Staatsanwalt Ambrogio Cartosio.
       
       ## Mehrere Jahrzehnte Haft drohen
       
       Schon seit September 2016 hatte die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen
       die „Iuventa“-Crew aufgenommen. Dass es nicht nur gegen „unbekannt“,
       sondern gegen sie ging, erfuhr Schmidt aber erst im Juli 2018. Sie war
       gerade auf einem Festival, ein anderes Crewmitglied kam mit einer Flasche
       Schnaps. [2][Der Anwalt von Jugend Rettet hatte einen Brief aus Trapani
       bekommen.]
       
       Darin stand, dass gegen zehn von ihnen ermittelt werde, und zwar wegen
       Beihilfe zur illegalen Einreise. „Mir war überhaupt nicht klar, was das
       bedeutet,“ sagt Schmidt. Erst nach und nach begriff sie, dass sie für
       Jahrzehnte ins Gefängnis kommen könnte.
       
       Eine Weile hatten die Seenotretter viel öffentliche Unterstützung in
       Italien. Doch die zerbröselte zwischen Ende 2016 und Mitte 2017. Es war die
       Zeit, in der der Staatsanwalt Carmelo Zuccaro aus Catania mit
       „Arbeitshypothesen“, wie er es nannte, an die Öffentlichkeit ging. Es war
       die Zeit, als in Italien der Unmut darüber, von der EU im Stich gelassen zu
       werden, immer weiter wuchs. „Einige“ NGOs könnten von Schleppern finanziert
       worden sein, behauptete Zuccaro bei einer Anhörung im italienischen Senat.
       
       Politiker griffen dies auf. „Der NGO-Wahnsinn muss beendet werden“, sagte
       der [3][damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz]. Viele
       würden sich zu „Partnern der Schlepper machen“. Der damalige
       Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagte, die Italiener
       „untersuchen Vorwürfe gegen NGOs: zum Beispiel, dass Schiffe ihre
       Transponder regelwidrig abstellen und so ihre Position verschleiern“.
       
       Zudem habe er Informationen aus Italien, wonach Schiffe in libysche
       Gewässer fahren und vor dem Strand einen Scheinwerfer einschalten, um
       Schleusern ein Ziel vorzugeben.
       
       Die NGOs wiesen dies kategorisch zurück. Beweise gab es nie, auch
       Staatsanwalt Zuccaro hatte keine. Anklage erhob er deshalb nie. Für die
       öffentliche Meinung spielte das keine Rolle. Die Anschuldigungen blieben
       hängen, bis heute.
       
       Anfang Mai 2017 wurde das Schiff zum ersten Mal von den Behörden nach
       Lampedusa beordert und dort inspiziert. Dabei haben die Behörden laut den
       Ermittlungsakten das Schiff verwanzt.
       
       Schmidt treibt um, dass manche der aufgezeichneten Gespräche falsch
       verstanden werden könnten. Es habe ein „ziemliches Level an Sarkasmus
       gegeben, um mit den Situationen zurechtzukommen“, sagt sie. Auf dem Schiff
       habe es nie eine bezahlte Stelle gegeben, die Aktivisten hätten teils ihren
       Jahresurlaub für den Einsatz genommen. „Und in den Zeitungen stand, dass
       wir uns ’ne goldene Nase verdienen.“ Darüber hätten sie sich lustig
       gemacht.
       
       „Wir konnten gar nicht fassen, dass man so ein Bild davon haben kann. Wir
       haben das durch den Kakao gezogen.“ Wenn ein Tag besonders lang war, seien
       auf der Brücke Sätze gefallen wie: „Da wird sich unser Bankkonto freuen,
       nach den 15 Booten heute.“ Schwarzer Humor, sagt Schmidt.
       
       Die Order für ihre Einsätze sei stets von der römischen Rettungsleitstelle
       MRCC gekommen. Die habe sie angewiesen, zu Unglücksstellen zu fahren. Diese
       Anweisungen wurden über ein Satellitenfax übermittelt. „Wieder ein
       Schlepperfax“, hätten sie dann gewitzelt, weil ihnen zu Unrecht unterstellt
       worden sei, deren verlängerter Arm zu sein. „Das wird nun wohl auf dem
       Schreibtisch des Staatsanwalts landen,“ fürchtet Schmidt. Und womöglich an
       die Medien durchgestochen.
       
       Außer auf Abhörprotokolle stützen sich die Ermittlungen auf Zeugen:
       Sicherheitsleute der „Vos Hestia“, eines Rettungsschiffs der NGO Save the
       Children. Sie waren für die private italienische Sicherheitsfirma IMI
       Security Service am 5. September 2016 auf die „Vos Hestia“ gekommen.
       Angeheuert hat sie der niederländische Reeder. Das Team bestand aus
       Cristian Ricci, Chef von IMI und ein früherer Offizier der italienischen
       Küstenwache, sowie den drei Ex-PolizistInnen Pietro Gallo, Lucio Montanino
       und Floriana Ballestra.
       
       Ihr Auftrag war es, die Sicherheit an Bord der „Vos Hestia“ zu
       gewährleisten und zugleich bei den Rettungseinsätzen mit anzupacken. Doch
       schnell erteilt sich das Team offenbar aus eigenen Stücken einen ganz
       anderen Auftrag: den, über das in ihren Augen dubiose Wirken der NGOs vor
       der libyschen Küste zu ermitteln.
       
       ## NGOs brechen Gesetze
       
       In jenen Monaten haben die humanitären Retter*innen alle Hände voll zu tun.
       2016 erreichten über 180.000 Menschen Italien über das Meer. Viele von
       ihnen werden von den damals 13 NGO-Schiffen aus dem Wasser geholt.
       
       Schon Mitte September 2016 glauben die IMI-Leute, sie hätten Belege dafür,
       dass die NGOs dabei Gesetze brechen. In ihren Fokus gerät vor allem die
       „Iuventa“, die bei Einsätzen immer wieder Seite an Seite mit der „Vos
       Hestia“ operiert.
       
       Drei Wochen nach ihrem Einsatzbeginn schicken die Sicherheitsleute Gallo
       und Ballestra ein Dokument an den italienischen Auslandsgeheimdienst AISE.
       Darin beschuldigen sie die „Iuventa“-Crew der Komplizenschaft mit den
       Schleppern: „Es scheint, dass das Schiff „Iuventa“ ein fester Bezugspunkt
       für die Schleuser ist, die von Libyen aus mit Kähnen voller Migranten in
       See stechen“, schreiben sie.
       
       Nur einen Tag später kontaktieren sie Assistenten des Lega-Chefs und
       damaligen Oppositionspolitikers Matteo Salvini. Ihn füttern sie mit den
       gleichen Informationen. Ob sie Geld verlangten, ist ungeklärt.
       
       Allzu viel geben ihre Beobachtungen allerdings nicht her. In den Infos an
       Salvini und den Geheimdienst schreibt IMI-Chef Ricci, er habe gesehen, dass
       sich die „Iuventa“ der libyschen Küste bis auf 13 Seemeilen genähert habe.
       Die Hoheitsgewässer allerdings umfassen nur 12 Seemeilen. Gallo will
       Flüchtlinge gesehen haben, die nach ihrer Rettung Joints geraucht haben,
       andere hätten ihre Messer behalten dürfen.
       
       Salvini findet die Infos dennoch so interessant, dass er Ballestra
       persönlich trifft, wie Gallo später in Interviews sagt. Die IMI-Leute
       ermitteln weiter. Sie versuchen Gespräche an Bord aufzuzeichnen. Ballestra
       fordert Gallo im Oktober per SMS auf, den NGO-Aktivisten Auskünfte zu
       entlocken. Gallo erklärt heute, „Salvini oder die Lega“ hätte den
       Nachforschungsauftrag gegeben.
       
       ## Keine Kontakte zu Schleppern beobachtet
       
       Folgenlos bleibt das Wirken der IMI-Truppe nicht. Die Staatsanwaltschaft
       von Trapani beginnt gegen die „Iuventa“-Crew zu ermitteln. Im Februar 2017
       telefoniert Gallo mit seinem Chef Ricci. Italienische Zeitungen
       veröffentlichen später Zitate aus dem Protokoll. Gallo erklärt Ricci, dass
       die Ermittler wissen wollen, ob die Aktivist*innen „direkte Kontakte
       haben, was sie dabei verdienen, das muss rauskommen und dass sie von großen
       internationalen Mächten finanziert werden“.
       
       Es kommt aber nichts heraus. Die Retter reden weder über direkte Kontakte
       zu den Schleusern, noch sprechen sie von Zuwendungen durch finstere Mächte.
       Heute sagt Gallo in Interviews, er habe auch keine Kontakte zu Schleppern
       beobachtet.
       
       Den Spitzeln war bewusst, dass sie mit ihren Ermittlungen ein riskantes
       Spiel treiben. Ballestra erklärte Salvini bei einem Treffen, dass sie ihren
       Job riskierten, weil sie spionierten. Salvinis Leute hätten sie aber
       beruhigt. „Es wurde gesagt, wir müssten uns keine Sorgen machen“, sagt
       Gallo der Zeitung Il Fatto Quotidiano.
       
       Tatsächlich ist Gallo seit dem Ende seines Einsatzes auf der „Vos Hestia“
       im Juli 2017 arbeitslos. Heute, so sagt er, würde er seine Informationen
       an Salvini nicht mehr weitergeben. „Ich bereue das zutiefst.“ Die NGOs habe
       er gar nicht aus dem Mittelmeer vertreiben wollen, sagte er dem Fatto
       Quotidiano.
       
       Es sei „natürlich“ wichtig, dass diese weiter vor Libyen blieben. „[4][Wer
       hätte sonst zuletzt die 47 Schiffbrüchigen gerettet?]“ Und er geht auf
       Distanz zu Salvini. Der habe „die NGOs kriminalisiert und eine Wüste
       hinterlassen“.
       
       Wenn er heute in den Nachrichten höre, dass wieder einmal 170 Menschen
       umgekommen seien, weil niemand da war, um sie zu retten, „fühle ich mich
       verantwortlich“. Ihm sei es nur „um eine bessere Regulierung der Arbeit der
       NGOS“ gegangen, „nicht um die Beendigung der Rettungseinsätze“. Eingetreten
       sei aber „das Gegenteil dessen, was ich erhofft hatte“.
       
       Womöglich aber sind ganz andere Hoffnungen Gallos nicht in Erfüllung
       gegangen. Er schäme sich „auch wegen des Mangels an Solidarität und an
       Gratifikationen“ für ihn und die IMI-Kollegen, sagte er dem Fatto
       Quotidiano. Soll heißen: Er wurde für seine Spitzelei nicht so belohnt, wie
       er sich das vorgestellt hatte. Wohl deshalb wandte er sich auch an die
       Medien.
       
       ## Erst ein SSler, heute Seenotretter
       
       Das tut auch Nicola Canestrini. Er will beweisen, dass die Anschuldigungen
       Gallos Lügen sind. Zum Treffen schlägt der Strafverteidiger ein Café vor
       dem Eingang des Oberlandesgerichts von Brescia in Norditalien vor. Der
       Landroverschlüssel liegt vor ihm auf dem Tisch, das Purpur seiner
       Häkelkrawatte passt exakt zu den dünnen Fäden, die in sein nachtblaues
       Fischgrätensakko eingewebt sind.
       
       Er spricht Deutsch mit Südtiroler Akzent. „Ich bin mir sicher, dass Kathrin
       Schmidt mit einem Freispruch rausgehen wird“, sagt er. Vielleicht muss er
       das sagen, vielleicht stimmt es auch. Aber bis dahin können Jahre vergehen.
       
       Der 46-Jährige ist kein Szeneanwalt, seine Klienten sind keineswegs nur vom
       Schlage Schmidts: Unter anderem vertrat er den SS-Unterscharführer Wilhelm
       Ernst Kusterer aus Pforzheim, der von einem italienischen Militärgericht
       für seine Beteiligung an dem Massaker von Marzabotto im Jahr 1944 in
       zweiter Instanz verurteilt wurde.
       
       „Sie haben ein Blutbad nach dem anderen verübt, fast 800 Menschen
       ermordet“, sagt Canestrini über den Fall. Er habe Kusterer verteidigt, weil
       „jeder das Recht auf einen fairen Prozess und Unschuldsvermutung hat“.
       
       Canestrini entspricht, wenn man so will, der Kernklientel der Lega, die als
       Interessenvertretung des reichen Nordens groß geworden ist. Sein
       Urgroßvater Luigi Canestrini war der erste Jurist, dem Kaiser Franz Joseph
       I. von Habsburg 1869 die Lizenz erteilte, im Trentino eine Kanzlei zu
       eröffnen. Canestrini führt die Kanzlei heute in vierter Generation. Das
       Trentino ist eine Hochburg der Lega. „Der Regionalrat ist zum ersten Mal
       in der Nachkriegszeit Lega-dominiert.“
       
       Erst ein SSler, heute Seenotretter. Doch er hat auch noch andere Motive,
       sagt Canestrini. Er schäme sich für das, was auf dem Meer geschehe. „Wir
       lassen sie absaufen und kommen mit blöden Parolen, dass sie selber schuld
       sind, weil sie losgefahren sind.“
       
       Canestrini zieht den Vergleich zu Polizisten, die in der NS-Zeit Juden an
       den Grenzen des Dritten Reiches abgewiesen hätten. „Diese Polizisten
       wussten genau, was mit den Menschen passiert. Aber sie haben gesagt, so war
       eben das Gesetz.“ Im „Iuventa“-Fall hätten seine Mandaten aber nicht einmal
       das Gesetz gebrochen. Seenotrettung sei „eine Pflicht“.
       
       „Was sage ich meinen Kindern, wenn die fragen: Was habt ihr gemacht, als
       Tausende im Meer ersoffen sind?“ Durch diesen Prozess hofft Canestrini
       darauf eine Antwort zu bekommen. Und er wolle ihn nutzen, um seinerseits
       die italienische Politik anzuklagen. Denn dass „ein paar Jugendliche, die
       keine Erfahrung haben, ein Schiff kaufen müssen, um zu tun, was der Staat
       machen müsste, das ist schon seltsam genug. Und die dann noch anzuklagen?“
       
       Die Staatsanwaltschaft könnte behaupten, es habe gar keine Seenot bestanden
       – genau das haben Politiker immer wieder gesagt: dass die Boote von den
       Rettern einfach abgeholt wurden. „Dann werden wir von jeder Mission ein
       oder zwei Flüchtlinge anhören, die bezeugen, dass sie sehr wohl in Not
       waren.“
       
       In Italien sind Angeklagte nicht verpflichtet, vor Gericht zu erscheinen.
       Es kann ohne Weiteres in ihrer Abwesenheit verhandelt werden. Aber
       Canestrini will, dass mindestens einer der zehn immer anwesend ist. „Ich
       brauche Informationen aus erster Hand.“ Die Abhörprotokolle hat Canestrini
       bis heute nicht.
       
       ## Kampf zwischen Zivilgesellschaft und Rechtspopulisten
       
       Wie so oft, wenn politische Fragen vor Gericht verhandelt werden, wird es
       auch auf die öffentliche Meinung ankommen. Dass es Zuccaro, der
       Staatsanwalt, war, der damit begonnen hat, die Retter zu diskreditieren,
       sei ein Unding, findet Canestrini. „Ein Staatsanwalt spricht durch seine
       Anklagen, nicht mit Vermutungen in den Medien.“
       
       Die Retter würden deshalb heute in Italien nicht als Aktivisten gesehen,
       sondern als Schlepper verunglimpft. „Taxi del mare“, Kriminelle, die damit
       10.000 Euro im Monat verdienten – diese Summe kursierte in großen Medien.
       „So wird ihnen ihr Idealismus abgesprochen.“
       
       Vielleicht ist Canestrini bald einer der wichtigsten Gegner Salvinis. Der
       wurde groß mit dem Versprechen, Italiens Häfen zu schließen. Salvinis
       Social-Media-Macht und Popularität sind in Italien gerade auf einem
       Höchststand. Und er nutzt sie vor allem dazu, die Seenotretter anzugreifen.
       In dem Kräftemessen um die öffentliche Meinung wird symbolisch der Kampf
       zwischen der Zivilgesellschaft und den Rechtspopulisten insgesamt
       ausgetragen. Wenn es keine Verurteilung gibt, wäre das ein klares Zeichen
       für die Grenzen von Salvinis Macht.
       
       Einmal hat Canestrini Salvini persönlich getroffen, 2016 war das, in
       Philadelphia, in den USA. Canestrini war zu einer Fortbildung dort, Salvini
       sah sich Trumps Wahlkampf an. Damals geschah nichts. Im Jahr zuvor hingegen
       gab es einen direkten Konflikt. 2015 hatte Canestrini einen Pakistaner
       vertreten, der aus Italien ausgewiesen wurde, weil er IS-Seiten im Netz
       gelesen haben soll.
       
       Salvini griff Canestrini deshalb auf Facebook an, allerdings ohne seinen
       Namen zu nennen. Das tat kurz darauf aber ein Polizist unter Salvinis Post.
       Tausende von Salvini-Fans überschütteten Canestrini mit Hass: Man müsse ihn
       „massakrieren“, er müsse „zusammen mit dem Terroristen verbrannt werden“,
       man solle „die Eier abschneiden, zuerst dem Anwalt, dann dem Pakistaner“,
       einer schrieb, „hoffen wir, dass sie die Tochter des Anwalts abschlachten.“
       
       Damals saß Salvini nur im EU-Parlament. Was könnte er heute tun?
       
       Canestrini wiegelt ab. Jeder Verteidiger sei „gewohnt, gegen die Flut zu
       schwimmen.“ Auch gegenüber der Justiz sei Salvinis Macht begrenzt. „Er kann
       nicht einfach mit dem Finger schnippen.“ Natürlich wüssten auch die Richter
       in Trapani ,worum es geht, sie seien „auch Menschen, die spüren den Druck“.
       Aber dass sie sich dann davon beeindrucken ließen, „kommt mir zu
       unwahrscheinlich vor“, sagt Canestrini. Vielleicht muss er das auch sagen.
       
       Die Justiz in Trapani äußert sich auf Anfrage der taz nicht zu dem Fall.
       
       Für die Aktivistin Kathrin Schmidt ist klar, dass die Justiz ein Exempel
       statuieren will. „Es gibt ein großes politisches Interesse daran, dass es
       keine ZeugInnen mehr für das geben soll, was auf dem Meer passiert.“
       
       Transparenzhinweis: Christian Jakob hat 2018 und 2019 unentgeltlich zwei
       Podiumsdiskussionen moderiert, an denen Kathrin Schmidt teilgenommen hat.
       
       9 May 2019
       
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       Aktivisten der Bewegung „Seebrücke“ verpassen dem Wahrzeichen in der Spree
       eine Rettungsweste. Sie fordern sichere Fluchtwege in die EU.
       
 (DIR) Urteil gegen „Lifeline“-Kapitän: Der Störfaktor
       
       Claus-Peter Reisch muss nach der Seenotrettung aus dem Mittelmeer 10.000
       Euro spenden. Das Urteil wiegt schwerer als die Geldstrafe.
       
 (DIR) Schiffsunglück vor tunesischer Küste: Dutzende Tote im Mittelmeer
       
       Es ist eine der schlimmsten bekannten Schiffskatastrophen der vergangenen
       Monate: Mehr als 60 Menschen sind vor der tunesischen Küste gestorben.
       
 (DIR) Seenotrettung im Mittelmeer: Rom will NGO-Schiff beschlagnahmen
       
       Wegen „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ will das italienische
       Innenministerium einer NGO das Schiff entziehen. Davor darf es jedoch
       anlegen.
       
 (DIR) Wahlwerbespot von „Die Partei“: ZDF zeigt ertrinkendes Kind nun doch
       
       „Die Partei“ wirbt in ihrem EU-Wahlspot für die Seenotretter von Sea-Watch.
       Das ZDF lehnte zunächst die Ausstrahlung ab – sendet ihn jetzt aber.
       
 (DIR) Beobachtungsmission im Mittelmeer: Flüchtlingshelfer festgesetzt
       
       Die Mare Liberum beobachtet die Menschenrechtssituation auf Fluchtwegen im
       Mittelmeer. Nun wird ihre Arbeit aus Deutschland behindert.
       
 (DIR) Sea-Watch simuliert Seenot: Die Not der anderen
       
       Hunderttausende Menschen sind in den letzten Jahren mit dem Boot nach
       Europa gekommen. Der Verein Sea-Watch hat eine Überfahrt simuliert.