# taz.de -- Alban-Berg-Aufführung in Bremen: Lulu geliftet
       
       > Das Theater Bremen zeigt die Oper mit einer neuen Fassung des
       > Schlussakts. Die schematische Regie Marco Štormans weiß mit der aber
       > nicht viel anzufangen.
       
 (IMG) Bild: Geradezu bedrohlich singt Claudio Otelli den Dr. Schön; neben ihm Marysol Schallit als Lulu.
       
       BREMEN taz | Sicher ist es legitim. Man darf immer alles umschreiben und
       mit neuen Finales versehen, jede Musik der Welt: Gustav Mahlers Zehnte,
       Alexander Borodins „Fürst Igor“, Mozarts Requiem und warum dann nicht auch
       noch einmal Alban Bergs „Lulu“. Wir leben in einem freien Land!
       
       Und vielleicht hat man sich in Bremen davon Aufmerksamkeit versprochen,
       diese große und anspruchsvolle Opernproduktion, die fast alle Sänger*innen
       des Ensembles an die Grenze ihrer Möglichkeiten bringt, als
       Teil-Uraufführung labeln zu können. Aber künstlerisch gibt die Inszenierung
       von Marco Štorman keine Antwort darauf, warum der Komponist Detlef
       Heusinger mit einer Neufassung des Schlussakts beauftragt wurde.
       
       Štorman, so wirkt es, schert sich nicht um die Musik. Sie ist halt da. Sie
       hätte auch weg sein können, dann wär’s halt eine Aufführung von Frank
       Wedekinds „Lulu“ geworden, mit der dieser Bürgerschreck-Dramatiker 1913
       seine zwei Dramen „Der Erdgeist“ und die 1906 verbotene „Büchse der
       Pandora“ im Namen der Protagonistin zusammengefasst hat. Ganz wie Berg es
       dann 15 Jahre später mit noch mehr Mut zur Reduktion fürs Libretto der
       ersten reinen Zwölfton-Oper tut.
       
       Die Story: Um Lulu herum, vom missbrauchten Kind zur begehrten Frau
       erwachsen, sterben Männer. Sie gerät unter Mordverdacht, flüchtet,
       prostituiert sich – und wird ermordet, was auch sonst, von Jack the Ripper,
       ihrem letzten Freier – eine Rolle, die vom selben Sänger zu spielen ist wie
       die ihres wichtigsten Liebhabers Dr. Schön. So weit der Text.
       
       ## Es gibt keine sexuelle Beziehung
       
       Von dem geht Štorman aus – und in verblüffend kurzschlüssiger Weise von der
       Biografie seiner Verfasser: „Komponist wie Autor des dem Libretto
       zugrundeliegenden Stückes“, so erläutert er seinen Ansatz im Programmheft,
       „sind Männer; die Perspektive ist also eine männliche“, das kann ja gar
       nicht anders sein.
       
       In der Folge lässt er also Marysol Schalit blass in einem Rüschenkleid als
       Lulu in einem von Frauke Löffel konzipierten, raffinierten Spiegelkabinett
       auftreten, das per Drehbühne als 3D-Kaleidoskop dient. Später trägt sie
       einen Lackledersuit, das tut keinem weh. Allen anderen Figuren hat Sara
       Schwartz den gleichen dunklen Anzug auf den Leib geschneidert, das gleiche
       Haarteil auf den Kopf und einen Schnurrbart ins Gesicht gesetzt, den auch
       der Bassbariton Claudio Otelli trägt.
       
       Geradezu bedrohlich gut singt der die Doppelrolle von Dr. Schön, der Lulu
       einst vom Kinderhändler Schigolch erworben hat, um sie zur
       Edelprostituierten zu formen, und von Jack The Ripper, der sie dann
       umbringt. Oder in diesem Fall eben nicht, das ist Štormans Pointe.
       Jedenfalls: Il n’y a pas de relation sexuelle (alte französische
       Volksweisheit). Es gibt keine sexuelle Beziehung.
       
       Was die Perspektive der Musik ist, was Zwölftontechnik mit dieser binären
       Sexuallogik macht, nachdem sie die Dualität der Tongeschlechter – Sie
       erinnern sich: Moll weiblich, Dur: männlich, siehe Schumann, diesen Spinner
       – kassiert und in Nichtbeziehungen aufgelöst hat, muss sich nur fragen, wer
       sich für die Komposition interessiert, für die Töne, die Klänge und ihren
       Eigensinn.
       
       ## Musik ohne Bezug zur Handlung
       
       Warum bleibt es der als homosexuell markierten Figur, der von Nathalie
       Mittelbach warm timbrierten Gräfin Geschwitz, überlassen, den
       dreischrittigen chromatischen Abstieg zum h im sprachlosen Schlussseufzer
       zu vollenden, der den großen kompositorischen Bogen der Oper ausmacht?
       Warum nur dreht und wendet dieser Berg nach fast schon
       zwangsneurotisch-seltsamen Regeln die eine Lulu-Reihe so lange, bis ihre
       zwölf Töne wieder den Eindruck tonikaler Bindung erwecken und harmonische
       Eindeutigkeit vortäuschen?
       
       Zweifellos haben Hartmut Keil und die Philharmoniker die Partitur gut
       durchdrungen und bringen sie in klarer Ordnung zum Klingen. Aber sollte
       sich das nicht in irgendeiner Form aufs Bühnengeschehen auswirken? Ohne
       diese Fragen bleibt herzlich irrelevant, wie das Particell, das Berg
       hinterließ und fast den kompletten dritten Akt enthält, dann en détail
       instrumentiert und dynamisch ausgeformt ist und wie die paar Lücken
       ergänzt, oder, der heutigen Denkmalschutzphilosophie gemäß, als Bruch
       verdeutlicht werden.
       
       Heusingers jetzige Bearbeitung – vielleicht passt der Ausdruck Lifting am
       besten – ist ähnlich kammermusikalisch konzipiert wie die von Kloke, aber
       deterministischer. So schreibt er ein dreiköpfiges Bühnenorchester hinein,
       mit dem die Regie in Bremen gar nichts anzufangen weiß, das aber trotzdem
       da sitzen muss.
       
       ## Zwiespältig instrumentiert
       
       Seine Instrumentierung ist origineller, aber dafür zwiespältig: Als ein
       elender Missgriff erweist sich die Ersetzung der Harfe des Originals durch
       eine E-Gitarre, die scheußlich aus dem Gesamtklang raustönt, als
       Geniestreich hingegen der Einsatz des ätherischen Theremins: Dieses frühe
       elektromagnetische Instrument, in der Premiere von der virtuosen Carolina
       Eyck gespielt, wird ohne Berührung zum Klingen gebracht.
       
       Es entfaltet einen Sound, der an einen text- und körperlosen hohen Gesang
       denken lässt, der vom Jaulen zum Jauchzen dahingleitet, so wie das
       verfremdete Sopran-Glissando der Star-Trek-Erkennungsmelodie. Geschmackvoll
       lässt Heusinger es den Instrumentalkontrapunkt übernehmen, den Berg einem
       zynischen Marquis entgegensetzt, der in einem lustigen Lied von seiner
       Arbeit als Mädchenhändler berichtet – und Lulu anbietet, sie in einen Puff
       nach Kairo zu verkaufen, statt sie der Polizei auszuliefern. Sie lehnt ab.
       „Ich tauge nicht für diesen Beruf“, behauptet sie sich in der Verneinung.
       
       Und für die hat ihr Berg eine Tonfolge zugedacht, die so viele Schritte von
       der ihr ursprünglich zugeordneten, ihre Identität konstituierenden Reihe
       entfernt ist, dass der Zusammenhang mit ihr getilgt und ganz verschwunden
       scheint. Ohne es zu sein.
       
       14 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Benno Schirrmeister
       
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