# taz.de -- Projekt zum Schutz junger Mädchen: Fluchtpunkt Masanga
       
       > Ein Projekt in Tansania wird zur Rettung für verfolgte Mädchen. Sie
       > verlassen ihre Dörfer aus Furcht vor der weiblichen Genitalverstümmelung.
       
 (IMG) Bild: Valerian Mgani (rechts) für zur alternativen Übergangszeremonie. Er leitet das Projekt
       
       Masanga taz | Fast 500 Mädchen in orangefarbenen Poloshirts kommen hüpfend
       und tanzend aus dem Tor der Sankt-Catherine-Laboure-Grundschule. Begeistert
       folgen sie einer kleinen Band, die fröhliche Musik spielt. Die Kolonne hat
       es nicht weit. Nach ein paar hundert Metern auf einer staubigen Straße
       gelangen sie auf eine große Wiese. Viele Gäste haben sich dort schon
       versammelt, um die Zeremonie für ihren Übergang vom Mädchen zur Frau zu
       feiern.
       
       Die Mädchen gehören zum Volk der Kuria. Der Aufstieg zum Erwachsensein wird
       bei ihnen traditionell mit der Beschneidung begangen. Bei Mädchen ist das
       gleichbedeutend mit einer Genitalverstümmelung.
       
       Doch die vielen hundert Mädchen auf der Wiese sind von zu Hause
       weggelaufen, um dieser Verstümmlung zu entgehen. „Ich hatte Angst,
       wegzulaufen, aber noch mehr Angst vor der Beschneidung. Ich habe viel
       geweint, aber jetzt bin ich stark, weil ich viele neue Freunde habe und
       eine Menge gelernt habe“, sagt eine 14-Jährige.
       
       Das Kuria-Volk zählt etwa anderthalb Millionen Seelen, wovon ungefähr die
       eine Hälfte in Tansania und die andere in Kenia lebt. Rund 60 Prozent der
       Kuria-Mädchen zwischen 9 und 17 Jahren in Tansania sind beschnitten, unter
       ihren Müttern sind es sogar 98 Prozent, während der Prozentsatz für alle
       Tansanierinnen bei 10 Prozent liegt. Die Verstümmelung ist landesweit
       verboten.
       
       ## Alternative Feier zur Verstümmelung
       
       Die Feier findet in Masanga statt, einem winziges Dorf in der nördlichen
       Provinz Mara. Große alte Bäume lockern die Landschaft auf. Die Erde ist
       fruchtbar, das Jahr verspricht eine gute Ernte. Die Menschen hier sind zwar
       nicht reich, aber an Nahrung fehlt es ihnen nicht. Die Straße nach Masanga
       ist nicht asphaltiert, aber sie wird von vielen benutzt: Hühnern, Kühen,
       Menschen, manche auf Fahrrädern oder in Autos.
       
       Heute stehen im Dorf große Autos. Es sind die Wagen der
       Regierungsabgeordneten aus der Hauptstadt Dodoma, die als Ehrengäste
       gekommen sind. Sie überreichen den Mädchen Urkunden zum Übergangsritus. Die
       Politiker halten lange Reden, die die Mädchen schnell langweilen. Der Strom
       der Worte und die Mittagswärme machen schläfrig. Manche der Mädchen nicken
       ein. Aber wenn die Musik wieder spielt, dann springen sie auf und tanzen
       und singen. Sie genießen diesen ganz besonderen Tag.
       
       ## Alte Männer haben die Macht
       
       Die meisten von ihnen haben zwei Monate auf diese Zeremonie gewartet. Sie
       sind im November von zu Hause geflohen, am Anfang der Sommerferien auf der
       südlichen Hemisphäre. Das ist auch meistens die Zeit, in der die
       Beschneidungen stattfinden. Aber das geschieht nicht jedes Jahr. Der
       Zeitpunkt bestimmen die alten Männer der Kuria im Gespräch mit den Geistern
       der Vorfahren. Verstorbene Familienmitglieder spielen eine wichtige Rolle
       in der Kultur des Volkes.
       
       In den Sommerferien wird die Grundschule in Masanga nicht benutzt und
       bietet eine Unterkunft für die geflohenen Mädchen. Klassenzimmer werden zu
       Schlafsälen. In der Küche packt jeder an, ob beim Kochen oder beim Abwasch.
       Vor allem aber findet Unterricht über die Schädlichkeit der
       Genitalverstümmelung statt. Außerdem wird den Mädchen erklärt, was
       Menschenrechte eigentlich sind und was diese für sie selbst bedeuten.
       
       Der Kampf gegen die Genitalverstümmelung ist nicht neu. Aber in den letzten
       Jahren laufen immer mehr Mädchen vor diesem grausamen Ritual aus ihren
       Heimatdörfern davon und suchen Hilfe. Im Verein gegen weibliche
       Genitalverstümmelung, der die Abkürzung ATFGM trägt, waren sie erstaunt,
       dass dieses Mal rund rund 500 Mädchen in der Sankt-Catherina-Labore-Schule
       Rettung suchen.
       
       ## Immer mehr Mädchen flüchten nach Masanga
       
       „2008 hat der Verein gegen weibliche Genitalverstümmelung acht Mädchen
       aufgefangen. Danach gab es immer mehr, aber dieses Mal sind es doppelt so
       viel wie das letzte Mal“, sagt Valerian Mgani, Projektkoordinator bei
       ATFGM. Wir treffen ihn in seinem kleinen vollgepackten Büro auf dem
       Schulgelände. „Wir haben voriges Jahr eine große Kampagne über die
       schädlichen Auswirkungen der Genitalverstümmelung durchgeführt wie auch zu
       den Folgen, etwa dass Mädchen vorzeitig aus der Schule genommen und
       zwangsverheiratet werden. Das scheint Erfolg gehabt zu haben.“
       
       Der Tradition der Kuria gemäß können Eltern ihre Töchter nach der
       Beschneidung gegen eine beträchtliche Summe verheiraten. Dann ist es vorbei
       mit der Schule. Die Aussteuer erfolgt meist in Form von Kühen. Töchter
       werden also verkauft, oft um Vieh zu bekommen, damit die Söhne sich eine
       Braut leisten können.
       
       „Nicht nur die Eltern wollen, dass die Mädchen beschnitten werden.
       Großeltern, Onkel und Tanten machen Druck, weil es sich so gehört in einer
       guten Kuria-Familie. Aber vor allem sind es die jungen Männer, die die
       Tradition beibehalten möchten. Sie wollen nur eine Braut heiraten, deren
       Genitalien verstümmelt sind“, berichtet Lydia Kaugi von der
       Entwicklungsorganisation Terre des Hommes. Sie ist aus dem benachbarten
       Kenia gekommen, um der Feier beizuwohnen. Die auf die Durchsetzung von
       Kinderrechten spezialisierte Organisation finanziert die Unterkunft und
       Versorgung der Mädchen.
       
       Als die Musiker auf der Wiese endlich aufgehört haben zu spielen und die
       Gäste den Platz verlassen haben, müssen die Mädchen entscheiden, was nun
       aus ihnen werden soll. Die meisten können nach einer Vermittlung durch
       Sozialarbeiter wieder nach Hause gehen. Eltern werden dabei davon
       überzeugt, das es besser für die Kinder sei, nicht verstümmelt zu werden
       und weiter in die Schule zu gehen. Die Eltern müssen einen Vertrag
       unterschreiben, der bestimmt, dass sie ihre Töchter nicht beschneiden
       lassen. Polizisten und Sozialarbeiter werden in den nächsten Monaten
       überprüfen, ob die Eltern sich an die Vereinbarung halten.
       
       ## Manche Eltern wollen ihre Tochter nie wieder sehen
       
       56 der Mädchen werden nicht nach Hause gehen. Sie bleiben unter dem Schutz
       des Vereins gegen weibliche Genitalverstümmelung. In den kommenden Monaten
       werden deren Mitarbeiter versuchen mit ihren Familien eine Versöhnung zu
       erreichen. In der Zwischenzeit sorgt der Verein mit finanzieller Hilfe von
       Terre des Hommes dafür, dass die Mädchen zur Schule gehen, oft in ein
       Internat weit weg von ihren Dörfern. „Manchmal versagt ein solcher
       Versöhnungsversuch. Im letzteren Fall stellen wir sicher, dass sie trotzdem
       die Schule abschließen“, sagt Projektkoordinator Valerian Mgani.
       
       Manche der Eltern dieser 56 Mädchen wollen ihren Töchter nicht mehr sehen.
       Andere werden sie trotz aller Bemühungen doch beschneiden lassen. Die
       17-Jährige Nchagwa Senso, die auf dem Schulgelände in Masanga lebt,
       berichtet über ihr Martyrium. Sie ist vor einem halben Jahr vergewaltigt
       worden, als sie die Kühe der Familie hütete. Und sie wurde schwanger. Das
       galt in der Familie als Schande. Senso berichtet: „Mein Vater starb kurz
       darauf und die Familie gab mir die Schuld an seinem Tod. Aber ich bin doch
       unschuldig, ich bin ein Opfer“, sagt die zerbrechlich wirkende junge Frau
       mit ruhiger Stimme.
       
       Ihre Familie, sagt Senso, habe ihr erklärt, dass sie nach Kenia gebracht
       werden würde, um die Schande der Schwangerschaft zu vertuschen. Ihr Bruder
       habe aber mitbekommen, dass man in Wahrheit plante, sie in den Mara-Fluss
       zu werfen. Sie würde dann ertrinken oder von den unzähligen Krokodilen
       gefressen. Der Bruder meldete sich beim Verein gegen weibliche
       Genitalverstümmelung und bat um Hilfe. Deren Mitarbeiter konnten Nchagwa
       Senso in letzter Minute am Flussufer retten. „Ich kann nicht nach Hause
       gehen, nicht jetzt, nie wieder“, sagt sie, und weiter: „Ich bin traurig,
       aber ich lebe. Hier habe ich Freunde und viele Leute, die sich um mich
       kümmern.“
       
       Sie wird auf dem Schulgelände wohnen und von Mitarbeitern des Vereins
       betreut werden. „Wenn das Baby geboren ist, werden wir mit ihr überlegen,
       ob sie zurück in die Schule möchte oder eine Arbeit lernen will. Aber erst
       mal Ruhe und das Kind bekommen“, sagt Valerian Mgani.
       
       ## Die Frau, die die Rasierklinge beiseite legte
       
       Unter denen, die jetzt nach Hause zurückkehren, ist auch eine ältere Frau.
       Esther Misiwa (62) hat zwölf Jahre lang bis 2016 Tausende Mädchen
       beschnitten. „Bis ich herausgefunden habe, dass es schlecht ist und die
       Zukunft der Kinder zerstört“, sagt sie im Schatten eines der Schulgebäude,
       wo sie an einer Bluse näht.
       
       In der Beschneidungszeit erwarten ihre Dorfbewohner weiterhin, dass sie die
       Verstümmelungen durchführt. Misiwa fürchtet, das ihr etwas zustoßen könnte,
       wenn sie sich weigert, die Rasierklinge wieder auszupacken. Deshalb lebte
       sie für einige Wochen geschützt beim Verein in Masanga. Wenn die
       Beschneidungssaison beendet ist, geht sie zurück nach Hause.
       
       Der Verein war es, der Esther Misiwa davon überzeugt hat, mit dem Ritual
       aufzuhören. Und er hat ihr einen neuen Beruf beigebracht. Misiwa ist jetzt
       Schneiderin. Sie hat ihre Töchter beschneiden lassen, damals, als sie noch
       unwissend war, aber dafür gesorgt, dass den Enkeltöchtern nicht dasselbe
       Schicksal erlebten. Misiwa sagt: „Darauf bin ich stolz. Sie gehen in die
       Schule. Sie werden später, bei der Geburt ihrer Kinder, keine Probleme
       haben so wie wir, die beschnitten sind.“
       
       Als die Feier in Masanga beendet ist und die Schule wieder begonnen hat
       verschwinden auch die Polizisten, die zwei Monate lang das Gelände bewacht
       haben. Ihre Anwesenheit war bitternötig: „Der Verein hatte ein Haus für
       seine Mitarbeiter gemietet. Aber nachdem eine Gruppe Männer versuchte, das
       Gebäude anzuzünden, leben auch wir auf dem Schulgelände“, erzählt der
       Projektleiter Valerian Mgani. Kurz vor der Feier habe es einen weiteren
       Angriff von einer Truppe junger Männer gegeben. Die Polizei gelang es, den
       Anschlag zu verhindern. Die jungen Männer erhielten Schläge und mussten
       einige Tage im Gefängnis verbringen.
       
       ## Der Leiter des Zentrums hat manchmal Angst
       
       Valerian Mgani hat seine Frau und die Kinder außerhalb des Gebiets der
       Kuria untergebracht. Er weiß, das viele ihn und seine Organisation hassen.
       „Ich habe manchmal Angst. Wenn die Lage sehr prekär ist, etwa während der
       Versuche, die Eltern mit ihren weggelaufenen Kindern zu -versöhnen, bitten
       wir die Polizei um Schutz“, sagt er.
       
       Warum dann keine friedlichere Arbeit irgendwo anders? Valerian Mgani
       antwortet: „Ich wollte früher Priester werden, um mich Gott zu widmen. Aber
       das Leben hatte etwas anderes mit mir im Sinn. Jetzt widme ich mich den
       Mädchen, die das Risiko haben, verstümmelt zu werden und ihre
       hoffnungsvolle Zukunft zu verlieren.“
       
       2 Mar 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ilona Eveleens
       
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