# taz.de -- Kolumne Die eine Frage: Zukunft ist nicht mehrheitsfähig
       
       > Der Aufbruch, den der französische Präsident anstrebt, wird nicht als
       > Aufbruch aller verstanden. Was bedeutet der Fall Macron über Frankreich
       > hinaus?
       
 (IMG) Bild: In Bedrängnis geraten auf dem Weg zu einem neuen Europa: Emmanuel Macron
       
       Für die linkssozialdemokratischen Deutungsbesitzstandswahrer ist die Sache
       mit Macron klar: neoliberale Sau. Das haben sie schon immer gewusst, wie
       sie alles schon immer gewusst haben. Ok. Lassen wir so stehen. Und wagen
       einen komplementären Gedanken: Dies sind Umbruchzeiten, in denen man nichts
       mehr schon immer wissen kann.
       
       Der [1][Protest gegen den französischen Präsidenten] macht die neue
       Polarisierung der Bürger sichtbar, die tatsächlich nicht zwischen „links“
       und „rechts“ stattfindet, sondern zwischen drinnen und draußen. Der
       Aufbruch, den Macron anstrebt, wird nicht als Aufbruch aller verstanden,
       sondern als einer von Gewinnern, zu denen man selbst nicht gehört. Auf der
       anderen Seite stehen Franzosen, die sich abgehängt fühlen von der Welt und
       von den Entscheidungen. Der deutsche Föderalismus hat einfach auch seine
       Vorteile.
       
       Macron mit seiner überragenden Intelligenz, Belesenheit, Risikobereitschaft
       und inszenierten Aura speist bei den einen das großartige Gefühl, dass hier
       noch eine ganze Menge geht – und bei anderen die Gekränktheit, die Wut, das
       Selbstmitleid und den Hass.
       
       ## Ein neues Europa
       
       Jetzt muss man sehen, dass Macrons anvisierter Aufbruch Richtung neues
       Europa und neuer wirtschaftliche Kraft von einem Viertel der Bürger gewählt
       wurde. Die restlichen 40 Prozent kamen im zweiten Wahlgang, als es Macron
       oder Le Pen hieß. Der Präsident will also die Absolute Power des
       überkommenen Präsidialsystems nutzen, um radikale Politik zu machen, obwohl
       er keine Mehrheit dafür hat. Das hält die Gesellschaft nicht aus. In
       Baden-Württemberg wiederum regieren die Grünen mit dem Juniorpartner CDU,
       wodurch die Weltbürger-Provinz Kompromisse ins Regieren eingepreist sind.
       Da mosern die Progressiven zu Recht, dass zu wenig vorankomme. Tja.
       
       So wird in Frankreich das passieren, was auch bei der CDU, der SPD und
       jedem flachhierarchischen Verbund passiert, dem die Gegenwart wegrutscht.
       Therapie. Man redet über sich selbst. Das klingt jetzt zynisch, ist aber
       Hilflosigkeit. Die Gegenwartsinteressen aller Stakeholder zu verhandeln,
       ist das Gebot der Stunde. Was habe ich von CO2-Verminderung, wenn ich den
       Sprit nicht bezahlen kann, um wenigstens zur mies bezahlten Arbeit zu
       kommen?
       
       Gleichzeitig steckt hinter der faireren Verteilung der Gegenwart das Ende
       der Zukunft. Corbyn funktioniert nur als Brexit-Profiteur. Die SPD
       zerbricht, weil sie Weltbürger und Kleinbürger nicht mehr zusammenkriegt.
       Jetzt droht auch die Post-Merkel-Union zu zerbröseln.
       
       ## Kein radikaler Realismus
       
       Das alles könnte bedeuten, dass man zwar noch eine Weile eine demokratische
       Mehrheit gegen den autoritären Angriff zusammenbringt, aber zu unseren
       Lebzeiten keine für jenen radikalen Realismus, mit dem der Grüne
       Bundesvorsitzende Robert Habeck die zentralen Probleme angehen wollen
       würde. Habeck ist in breiten Teilen der Gesellschaft ungewöhnlich beliebt,
       aber sobald er ernsthaft über Zukunftspolitik spricht, wie bei seinem
       Testversuch Grundeinkommen, ist auch Schluss mit lustig. Wann immer du
       offensiv und pathetisch Aufbruchbereite um Dich scharst, stärkst du
       gleichzeitig den Widerstand derer, die – zu Recht oder zu Unrecht – davon
       ausgehen, dass sie selbst keine Zukunft haben.
       
       Zukunft ist in diesem Moment nicht demokratisch mehrheitssfähig. Fatal.
       Aber noch fataler: Ohne Zukunft keine Demokratie. Wenn wir die Zukunft
       nicht angehen, dann machen sie die autoritären Chinesen und das soziophobe
       Silicon Valley allein. Sie tun es längst, während wir hier sprechen.
       
       15 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Gelbwesten-Proteste-in-Frankreich/!5558181
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Unfried
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Emmanuel Macron
 (DIR) Gelbwesten
 (DIR) Europäische Union
 (DIR) Kolumne Die eine Frage
 (DIR) Schwerpunkt Emmanuel Macron
 (DIR) Dinge des Jahres 2018
 (DIR) Robert Habeck
 (DIR) Landtagswahl in Hessen
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kommentar Frankreich und Deutschland: Europa in Erinnerung rufen
       
       Die von Merkel und Macron beschworene Verstärkung der Kooperation bleibt in
       Wirklichkeit weitgehend symbolisch. Und trotzdem mutig.
       
 (DIR) Kolumne Die eine Frage: Lindners Unwort des Jahres
       
       Der FDP-Vorsitzende ist ein glänzender Redner. Wer sagt ihm jetzt, dass er
       mit dem Begriff „Klimanationalismus“ zu weit gegangen ist?
       
 (DIR) Kolumne Die eine Frage: Jenseits von Knallgrün
       
       Können die Grünen damit umgehen, dass ihre neuen Wähler in der Mehrheit
       sind? Und auch damit, dass die fetten Jahre wohl vorbei sind?
       
 (DIR) Kolumne Die eine Frage: Die Partei des sanften Realismus
       
       Wir reden nicht mehr von 8,4 Prozent, sondern in Bayern von 18, in
       Baden-Württemberg von 30 Prozent. Warum wächst das Vertrauen in die Grünen?
       
 (DIR) Kolumne Die eine Frage: Was ist die „grüne Erzählung“?
       
       Die Antwort lautet: Das ist der Welt völlig schnurz. Entscheidend ist,
       welche gesellschaftliche Erzählung sich am Ende durchsetzt.