# taz.de -- Verschwundene Geflüchtete weltweit: Tote, die nicht mal eine Statistik sind
       
       > Sie sterben im Meer oder in der Wüste, ohne dass ihre Leichen gefunden
       > werden: Zehntausende Geflüchtete weltweit tauchen in keiner Statistik
       > auf.
       
 (IMG) Bild: Hier begrub ein Fischer die Leiche einer Frau, die am Strand gefunden wurde. Er taufte sie „Rose-Marie“
       
       Ras Jebel ap | Es war nicht die Angst, die Khalid Arfaoui zurückhielt. Ihm
       fehlte schlichtweg das Geld. Im Mai 2011 klopften seine Freunde an seine
       Tür, um ihm zu sagen, dass sie sich per Boot auf den Weg von Tunesien nach
       Europa machten. Er blieb im Haus in Ras Jebel, sah zu, wie sie sich auf den
       Weg zum Strand machten. Überladen und angetrieben von einem schwachen
       Außenbordmotor kenterte das Boot unweit der tunesischen Küste. Der einzige
       Überlebende wurde acht Stunden später gefunden. Zwei Leichen wurden
       geborgen. Von den elf anderen jungen Männern fehlt bis heute jede Spur.
       
       Während die Zahl der Migranten vor den Augen der Weltöffentlichkeit von
       einem zum nächsten Höchststand geklettert ist, bleibt [1][die Zahl der
       Toten zu großen Teilen im Verborgenen]. Zehntausende Menschen kommen um –
       oder sie verschwinden einfach während ihrer Reise und werden nie wieder
       gesehen. Sie ertrinken, sterben in der Wüste oder fallen Menschenhändlern
       zum Opfer. Und ihre Familien fragen sich, was ihnen zugestoßen ist.
       
       In den meisten Fällen werden die Spuren nicht nachverfolgt. Schon zu
       Lebzeiten werden sie kaum gezählt. Und im Tod werden diese Menschen auch
       nicht erfasst – so als hätten sie nie gelebt. Eine Erhebung der
       Nachrichtenagentur AP kommt auf mindestens 56 800 Migranten, die seit 2014
       ums Leben gekommen sind oder vermisst werden. Das ist fast mehr als doppelt
       so viel wie in der weltweit einzigen offiziellen Statistik der
       Internationale Organisation für Migration (IOM): Die Organisation, die den
       Vereinten Nationen untersteht, kommt mit dem Stichtag 1. Oktober auf mehr
       als 28 500 Menschen.
       
       Die IOM-Statistik konzentriert sich vor allem auf die Todesopfer im
       Mittelmeer. Doch selbst dort bleiben die vielen Vermissten meist
       unberücksichtigt. Boote voll mit jungen Tunesiern und Algeriern, Kinder,
       die in den Wirren der Reise verloren gehen. Die AP erfasste beinahe 4900
       Menschen, deren Familien berichteten, sie seien spurlos verschwunden.
       Darunter sind mehr als 2.700 Kinder, die von ihren Familien beim Roten
       Kreuz als vermisst gemeldet wurden.
       
       ## Tote, die nie erfasst wurden
       
       Von den Flüchtlingskrisen weltweit ist nach wie vor jene im Mittelmeer am
       schockierendsten sichtbar. Manchmal reisen die Migranten lediglich auf
       Floßen, völlig überfüllt und von einem kleinen Außenbordmotor angetrieben.
       Aber selbst größere Boote aus Holz – oft mit Hunderten Menschen
       vollgezwängt – sind kaum hochseetüchtig und kentern, wenn der Wind
       auffrischt.
       
       Während sich die Stimmung in Europa zunehmend gegen Migranten wendet und
       sich immer mehr Länder abschotten, werden auch die Mittel knapp, um
       Programme zur Erfassung der Menschen zu finanzieren. Ein Beispiel: Als im
       April 2015 vor der italienischen Küste beim bislang schlimmsten Unglück mit
       Migranten im Mittelmeer mehr als 800 Menschen ihr Leben verloren,
       versprachen die Behörden in Italien, die Opfer zu identifizieren und ihre
       Familien zu finden. Gut drei Jahre später hat die neue populistische
       Regierung die Finanzierung für die Arbeit gestoppt.
       
       Für Fälle wie den mit Arfaouis Freunden hat die tunesische Regierung keine
       offizielle Statistik. Und die Gruppe schaffte es nicht nahe genug an
       Europa, um die Aufmerksamkeit der dortigen Behörden zu erregen. So wurden
       Arfaouis Freunde niemals erfasst, weder als Tote noch als Vermisste.
       
       „Wenn ich mit ihnen gegangen wäre, dann wäre ich jetzt verschwunden wie die
       anderen“, sagt Arfaoui. Er steht mit ein paar Freunden an der felsigen
       Küste. Alle haben mehr oder weniger konkrete Pläne, nach Europa zu gehen.
       „Wenn ich die Chance bekomme, werde ich es tun“, sagt er. „Auch wenn ich
       Angst vor dem Meer habe und weiß, dass ich sterben könnte. Ich werde es
       tun.“
       
       ## 400 beigesetzt, nur einer identifiziert
       
       Neben ihm steht der 30 Jahre alte Mounir Aguida, der den Trip schon einmal
       gemacht hat. Damals trieb er 19 Stunden auf dem Meer, nachdem der Motor des
       Bootes ausgefallen war. Ende August wollte er es nochmals versuchen –
       zusammen mit sieben Freunden. Als er die Wellen spürte, sprangen er und ein
       anderer junger Mann in letzter Sekunde aus dem Boot. „Es hat sich nicht
       richtig angefühlt“, sagt er.
       
       Von den anderen sechs Insassen hat man nie wieder etwas gehört – eine
       weitere Gruppe junger Männer aus Ras Jebel also, die im Meer verschwunden
       ist. Kein Wrack wurde gefunden, keine Schiffbrüchigen wurden gerettet,
       keine Leichen identifiziert – sechs junge Männer, die in keiner Statistik
       vorkommen.
       
       Aber es sind nicht nur die einheimischen Jugendlichen, die aus Tunesien und
       in etwas geringerem Ausmaß aus Algerien fliehen. Beide Staaten sind auch
       Transitländer für Menschen aus anderen Ländern auf dem Weg nach Europa. In
       Tunesien gibt es mittlerweile einen eigenen Friedhof für
       nicht-identifizierte Migranten – ebenso wie in Griechenland, Italien und
       der Türkei.
       
       Der arbeitslose Seemann Chamseddin Marzouk pflegt den Friedhof in Zarzis an
       der südlichen Küste Tunesiens. Seit der Eröffnung im Jahr 2005 wurden dort
       die sterblichen Überreste von rund 400 Menschen beigesetzt. Nur einer der
       Toten wurde identifiziert.
       
       Marzouks Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer. „Ihre Familien denken
       vielleicht, diese Person ist noch am Leben oder wird sogar eines Tages für
       einen Besuch zurückkehren“, sagt er. „Sie wissen nicht, dass die, auf die
       sie warten, hier beerdigt sind, hier in Zarzis in Tunesien.“
       
       2 Nov 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Kommentar-Gutachten-zur-Seenotrettung/!5488222
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lori Hinnant
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Flüchtlinge
 (DIR) Tunesien
 (DIR) Italien
 (DIR) Asyl
 (DIR) Matteo Salvini
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Flüchtlinge
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Initiative versteckt bedrohte Geflüchtete: „Bewusst nicht geheim“
       
       Die Gruppe Bürger*innen-Asyl bietet Geflüchteten Schutz. Eine in diesen
       Zeiten notwendige Form zivilen Ungehorsams, sagt die Mitwirkende Katrin
       Meyer.
       
 (DIR) Flüchtlingspolitik in Italien: Mit Elektroschockern gegen Migranten
       
       Rom zeigt erneut Härte gegen Menschen, die in Italien Asyl suchen. Ein
       Dekret droht tausende Migrant*innen in die Illegalität zu treiben.
       
 (DIR) Flucht aus Gambia: Wenn alle gehen, bleibt die Wut
       
       Aus Gambia wollen viele weg. Ich bin noch hier. Nicht Europa schuldet uns
       ein Leben in Würde, sondern mein Land.
       
 (DIR) Flucht nach Europa: Aziz, der Schlepper
       
       Er ist 21 Jahre alt, aus Syrien, an der türkischen Küste setzt er
       Flüchtlinge in Boote. Dann versucht er selbst, es übers Mittelmeer zu
       schaffen.
       
 (DIR) Kommentar Gutachten zur Seenotrettung: Gestorben wird weiter
       
       316 Menschen sind dieses Jahr bereits im Mittelmeer ums Leben gekommen. Ein
       Gutachten des Bundestags belegt Verstöße der EU-Staaten.