# taz.de -- Kommentar Globalisiertes Reisen: Egoismus für alle
       
       > Fast jeder kann sich mittlerweile Reisen leisten, die Tourismusindustrie
       > wächst. Doch die Demokratie bleibt auf der Strecke.
       
 (IMG) Bild: Billig reisen mit Uber? Kein Taxifahrer kann mehr von seinem Brotjob leben, wenn Touristen mittels App die üblichen Preise unterbieten
       
       Jahrelang hat das Ehepaar in sein bescheidenes Wochenendhaus investiert,
       gebaut, gespart. Dann haben sie es verkauft und sich mit dem Erlös einen
       Traum erfüllt: eine Kreuzfahrt.
       
       Ein Traum, der heute für immer mehr Menschen bezahlbar geworden ist. Man
       nennt das die [1][„Demokratisierung des Reisens“]. Ein Luxus, der früher
       nur wenigen Privilegierten und Reichen vorbehalten war, ist hierzulande in
       einer bezahlbaren Wirklichkeit für viele angekommen, auch wenn die
       Distinktionsspiele nach Preis und Ansehen weiter existieren.
       
       Im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit ist dies tatsächlich Teilhabe am
       gesellschaftlichen Wohlstand. Im Wesentlichen produziert von
       Reiseveranstaltern, die den Reisetraum als Stückwerk produzieren, als ein
       unkompliziertes, buchbares Angebot mit vielen Facetten, den sogenannten
       Reisemodulen. Die Kreuzfahrt inklusive Kapitänsdinner, die Bildungsreise,
       den Strandurlaub, die Trekkingtour.
       
       Weltweit werden die Strände ausgebaut mit Bettenburgen und luxuriösen
       All-inclusive-Anlagen. Dazu gibt es Spezialangebote für alle Geschmäcker –
       für den Sextouristen genauso wie für den Himalajabergsteiger. Niemand wurde
       in den vergangenen Jahren ausgegrenzt. Keiner vergessen. Jeder findet
       seinen Reisetraum, vielfältig aufbereitet.
       
       Sind TUI und Co also die großen Demokratisierer? Und die Billigairlines die
       Wohltäter der Neuzeit, die endlich unendlich vielen den Traum vom
       Wochenende in Lissabon oder New York ermöglichen, wie Michael O’Leary, Chef
       der irischen Billigfluggesellschaft Ryanair, stets in Interviews betont?
       Sind sie demokratisierende Beglücker – oder intelligente Geldmaschinen?
       Wahrscheinlich beides.
       
       ## Die weltweite Expansion
       
       Tourismus ist eine Erfolgsstory weltweit – und eine Industrie wie andere
       auch. Der Tourismus hat das Angebot unendlich vergrößert und spezifiziert,
       indem er die Menschen zur Ware ihres Geschmacks und ihres Geldbeutels
       brachte. Bei bodenständigen Menschen, die ans Verreisen nie auch nur
       dachten, wurden Bedürfnisse geweckt. Aus den Mündern von Veranstaltern und
       Interessenvertretern der Industrie wurde Demokratisierung zum
       Rechtfertigungsargument für die weltweite Expansion – und vor allem zu
       einem Zauberwort, alles zu fordern und auf den Weg zu bringen, was Rendite
       versprach.
       
       Wer sich etwa gegen exzessiven Straßenbau in den Alpen aussprach, wurde
       schnell als „Bremser“ abgestempelt oder, noch schlimmer, als
       Diskriminierer, der Rollstuhlfahrern den Zugang zu den schönsten
       Alpengipfeln verweigere. Die Rede von der Demokratisierung relativierte
       auch stets den Ausverkauf von Land und Leuten. Inzwischen ist Tourismus die
       erfolgreichste Industriesparte der Welt. Sein Volumen wird auf rund 7.000
       Milliarden Euro im Jahr geschätzt. Das sind 10 Prozent der
       Weltwirtschaftsleistung.
       
       Die Zukunftsprognose des internationalen Tourismus: glänzend! Die
       touristische Spirale dreht sich weiter – und vielleicht schneller denn je,
       denn längst sind neue Akteure auf den Plan getreten. Und neue Interessen.
       
       Die Neuen, das sind etwa Billigairlines, die kaum mehr als ein Taschengeld
       fordern, um Freizeitler umstandslos für ein Wochenende zu einer angesagten
       Partymeile nach Barcelona oder Berlin zu bringen oder mal schnell nach
       Amsterdam zu einem Kunstevent oder an einen der Strände von Mallorca.
       
       Noch vor wenigen Jahren hätte es niemand für möglich gehalten, dass selbst
       die überdimensionierten Infrastrukturen von uralten Touristenhits wie
       Mallorca oder Venedig nun unter dem neuen Ansturm zu kollabieren drohen.
       Dass in Großstädten wie Amsterdam Anwohner wegen der Überfülle an Menschen
       verzweifeln, die ihre Stadt lieben, die feiern, lachen und Spaß haben
       wollen. Was hier passiert ist, war in diesem Jahr Thema aller touristischen
       Fachleute und der Medien: Overtourism.
       
       ## Die touristische Logik
       
       Damit sind die weltweiten Hotspots und It-Places des Städtetourismus
       gemeint, die vor allem deshalb entstanden sind, weil sie über Renommee
       verfügen und so preiswert und bequem zu erreichen sind. Im Hotspot bündeln
       sich die touristischen Ströme. Hier finden alle zusammen. Schnäppchenjäger
       genauso wie die Renditehaie der Tourismusbranche, Partygänger wie
       Luxusreisende. Der Hotspot ist Kulminationspunkt touristischer Aktivitäten.
       
       Und wenn es am It-Place dauerhaft zu voll wird, wenn beispielsweise die
       Alhambra in Granada überlaufen ist und für einen bestimmten Tag keine
       Tickets mehr verfügbar sind, muss man daneben eben ein Einkaufszentrum
       bauen, „um die Leute so lange anderweitig zu beschäftigen“, so der
       bahnbrechende Vorschlag des neuen Generalsekretärs der
       Welttourismusorganisation (UNWTO), Zurab Pololikashvili. Das ist
       touristische Logik.
       
       Was das noch mit Demokratisierung zu tun hat? Eigentlich nichts. Vielmehr
       ist dieser neue, zeit- und raumfressende Tourismus die Folge der rasanten
       Globalisierung und noch rasanteren Digitalisierung. Was die touristische
       Welt jetzt auf dem Globus surfen lässt, gehört zu einer neoliberalen
       Postmoderne, der sich vor allem die neuen, kosmopolitischen Mittelschichten
       verschrieben haben. Weltweit. Ob in China oder in Deutschland.
       
       Reisen boomen überall dort, wo die Mittelschicht zu Wohlstand kommt.
       Demokratie hin oder her. Man macht es dem Kapital nach, das um die Welt
       rast. Reisen ist die „Schlüsselpraxis ihrer Lebensführung“, so der
       Soziologe Andreas Reckwitz in seiner Studie zu den neuen deutschen
       Mittelschichten. Es sei zu einer „identitätsstiftenden Beschäftigung“
       geworden, die das kosmopolitische Bewusstsein der neuen Mittelklasse präge.
       Diese nutze „Globalität in allen ihren Facetten als eine Ressource für die
       Entwicklung des Ich“.
       
       Reckwitz stellt die neue Reise- und Lebenspraxis dem klassischen
       „Massentourismus“ entgegen. Während dieser „die industrielle Moderne“ mit
       „standardisierten Paketen“ charakterisierte, mache der spätmoderne
       Tourismus das Reisen zum „Gegenstand aktiver Gestaltung und geschickter
       Zusammenstellung“. Es gehört zum Habitus.
       
       ## Sozialdumping dank Gig Economy
       
       Der „Posttourist“ ist ein souveräner Tourist. Er nutzt die Verkehrswege der
       extrem touristifizierten Weltgesellschaft. Sicher bewegt er sich via App
       und Internet durch die dichte Infrastruktur der internationalen
       Tourismusbranche. Er findet noch jedes Schnäppchen selbst. Seine wunderbare
       Welt ist das Netz. Und Social Media. Und so souverän er reist, so souverän
       verdient er auch – wenn möglich – daran mit. Beispielsweise, indem er
       selbst zum Akteur touristischer Dienstleistung wird und seinen Wohnraum im
       Kiez zahlenden Gästen zur Verfügung stellt. Mit Airbnb wurde diese
       unternehmerische Kleinaktivität vieler Stadtbewohner [2][binnen weniger
       Jahre] zu einem weltweit erfolgreichen, internetbasierten Geschäftsmodell:
       ein fremdenfreundliches Verhalten, das inzwischen den sozialen Frieden in
       ruhigen Wohnvierteln angefressen hat.
       
       Einige Großstädte haben bereits reagiert und das Vermieten von Wohnraum an
       ständig wechselnde Touristen reguliert. Das Problem bei [3][der
       Beförderungs-App Uber] („Beförderung ganz nach Wunsch“): Soziale und
       Sicherheitsstandards werden umgangen und aufgeweicht. Kein Taxifahrer kann
       mehr von seinem Brotjob leben, wenn Privatleute sich mittels App ins
       Geschäft einklinken und die üblichen Preise unterbieten. Nicht nur im
       Großen wie bei den Billigairlines wird versucht, die Löhne zu drücken. Wo
       jeder zu seinem eigenen Unternehmer wird, mischen alle beim Sozialdumping
       mit.
       
       Natürlich genießen hierzulande alle die gleichen Grundrechte und haben das
       Recht, sich selbst zu verwirklichen. Aber, kantisch gedacht, endet die
       Freiheit des einen an der Freiheit des anderen. Ressourcenverbrauch,
       weltweit verbaute Strände, die Klimabelastung, mindestens 8 Prozent aller
       Treibhausgase entstehen durch Reisen, dazu genervte Bewohner, ausverkaufte
       Städte. Bedenkt man die Schäden durch Tourismus am Gemeinwohl, was auch die
       Umwelt einschließt, dann stößt das Demokratisierungsargument schnell an
       seine Grenzen. Wer ist schuld? Wer soll das alles bezahlen?
       
       Verteilungsgerechtigkeit bedeutet auch Verteilung von Pflichten. Für
       politische Philosophen wie Michael Walzer (der in den 1980er Jahren eine
       progressive Theorie von Verteilungsgerechtigkeit entwickelt hat) beruht
       reiner Liberalismus auf einer fehlerhaften Theorie der Person: Sie
       vernachlässige systematisch die konstitutive Bedeutung der Gemeinschaft für
       den Einzelnen.
       
       ## Die sozialen Ressourcen sind endlich
       
       Alle erzeugten Güter sind schlussendlich auch soziale Güter und haben auch
       eine gemeinschaftliche Bedeutung. Hinter ihrer Erzeugung stehen soziale
       Prozesse und damit auch andere Menschen als man selbst. Wer daran teilhat,
       hat auch Verantwortung. Für sich selbst. Und für die anderen, die betroffen
       sind.
       
       Die Aushebelung sozialer Regeln, gewachsener Strukturen und erkämpfter
       Standards berührt die Grundlagen des demokratischen Konsenses.
       Dumpingangebote werden auf dem Rücken der im Tourismus Beschäftigten
       erzeugt, genauso, wie Billigflieger an Löhnen und Personal sparen. Schon
       lange übersteigen die touristischen Steigerungsraten alle wohlmeinenden
       Versuche und Projekte, den internationalen Tourismus umwelt- und
       sozialverträglicher zu gestalten.
       
       Denn nicht nur die natürlichen Ressourcen sind endlich – die sozialen
       Ressourcen sind es auch. Wo jeder nur an sich selbst denkt, seinen Vorteil
       sieht, werden sich keine Mehrheiten mehr für das Gemeinwohl finden lassen.
       Wo der Eigennutz regiert, wird es möglicherweise keine demokratischen
       Möglichkeiten mehr geben, die negativen Folgen der überbordenden
       Reiseaktivität für Menschen und Natur zu regulieren. Ein Fiasko für die
       Demokratie. Wo Touristen beispielsweise immer noch glauben, mit dem
       Schnäppchenpreis die Folgekosten ihres Reiseverhaltens abgegolten zu haben,
       wird sich keine Mehrheit mehr für eine Besteuerung des Flugbenzins finden
       lassen; Billigstlöhne, im Tourismus üblich, werden in Kauf genommen.
       
       Notwendige Einschränkungen und Regelungen durch die Politik, faire Preise
       für faire Produkte gelten vielen als unpopulär, als Bedrohung der
       politisch verbürgten Rechte. Reisen ist heute billig zu haben –
       demokratische Verhältnisse sind es nicht.
       
       30 Sep 2018
       
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