# taz.de -- Michael Kretschmer in Chemnitz: Der Herausforderer
       
       > Sachsens Ministerpräsident muss sein Land vor der AfD retten. Aber wie,
       > wenn selbst der Hitlergruß so viele schon nicht mehr stört?
       
 (IMG) Bild: Ministerpräsident Kretschmer und Bürgermeisterin Barbara Ludwig stellen sich in Chemnitz den Kameras
       
       Die Herausforderung besteht zunächst daraus, überhaupt zu bestehen. Michael
       Kretschmer, 43, CDU, Ministerpräsident von Sachsen, sitzt in einem
       Stuhlkreis mit Bürgerinnen und Bürgern in Chemnitz und redet. Sie haben
       hier jedem Einzelnen extra ein Namensschildchen gegeben, damit alles etwas
       verbindlicher wirkt.
       
       Es ist Donnerstagabend, Punkt 20 Uhr, und Kretschmer sagt: „Wenn wir hier
       über die Wahrheit reden, dann müssen wir auch über die Hitlergrüße reden.“
       
       Da buhen und johlen die meisten im Raum, und eine Frau ruft von hinten:
       „Das war ein Linker!“
       
       „Langsam“, sagt Michael Kretschmer. „Ganz langsam.“
       
       Grundtenor: erstmal langsam 
       
       Um 20.05 Uhr sagt eine Frau, die nur zwei Plätze rechts von ihm sitzt:
       „Die, die den Hitlergruß gezeigt haben, das waren nur fünf Menschen. Wäre
       die Kamera ein bisschen nach rechts geschwenkt, hätte man gesehen, dass da
       10.000 normale Leute waren.“ Da klatschen sie alle, da rufen sie wieder auf
       ihn ein. „Langsam“, sagt Michael Kretschmer.
       
       Um 20.19 Uhr sagt ein älterer Herr: „Da gibt es Leute, das ist die
       sogenannte Antifa. Das sind Leute, die stinken. Vom Wasser werden die nur
       nass, wenn es regnet.“ Und dann sagt er zum Ministerpräsidenten unter
       lautem Applaus: „Von den Rechtsextremen distanzieren Sie sich. Aber von den
       Linken distanzieren Sie sich nicht!“
       
       Kretschmer sagt: „Jetzt erst mal langsam.“
       
       Zu diesem Zeitpunkt am Donnerstagabend läuft das Sachsengespräch bereits
       seit über einer Stunde, und die Frage im Raum lautet: Wie kann es sein,
       dass der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen vorhin allen Ernstes
       gesagt hat, dass er sich auch über die Band Kraftklub freut, eine
       Chemnitzer Band, die [1][nach den rechtsextremen Vorfällen Anfang der
       Woche] angekündigt hat, [2][am kommenden Montag ein Zeichen gegen
       Fremdenfeindlichkeit zu setzen?] Das können hier die meisten nicht fassen.
       
       Als sei ihm das Land schon entglitten 
       
       Michael Kretschmer, geboren in Görlitz, erklärt, dass er als
       Ministerpräsident ja nicht einfach ein Konzert verbieten kann.
       
       Um 20.31 Uhr erhält ein Mann mit einer Glatze das Mikrofon. Er sagt: „Die
       Wahrheit ist, es ist jemand gestorben, und zwei wurden abgestochen, und das
       Schlimmste, das an dem Wochenende anscheinend passiert ist, war ein
       Hitlergruß. Ich höre nur ‚Hitlergruß‘. Sie stellen sich immer hier hin mit
       ‚Hitlergruß‘.“
       
       „Genau“, sagt eine Frau, und wieder klatschen fast alle.
       
       Und nun muss der Ministerpräsident, der ja eigentlich hier der
       Herausgeforderte ist, also noch einmal erklären, was er bereits vorher
       erklärt hat – so als sei er hier der Herausforderer, so als müsse er seiner
       Stadtgesellschaft hier etwas abringen, so als sei ihm das Land schon
       entglitten: Dass das Schlimmste, was in der letzten Woche passiert ist,
       [3][der Tod des 35-jährigen Daniel H. war]. Dass das ganz klar sei. Dass
       diese Straftat hart geahndet werde. „Und wenn ich das gesagt habe“, sagt
       Kretschmer, „sind wir uns aber über die anderen Sachen, die danach passiert
       sind, auch einig, ja?“
       
       Hitlergruß? Schweigen. 
       
       Der Ministerpräsident von Sachsen fragt im Sachsengespräch die Wählerinnen
       und Wähler: „Sind wir uns darüber einig, dass der Hitlergruß nicht okay
       ist?“
       
       Jetzt schweigen die meisten hier, und ein Grummeln geht durch die Reihen,
       und der Mann mit der Glatze nickt etwas zurückhaltend. Eine Person
       klatscht.
       
       Das ist also die tragische Bilanz dieses Abends, das ist der Erfolg, den
       Michael Kretschmer erzielt hat in der VIP-Lounge des insolventen
       Regionalligavereins Chemnitzer FC, [4][in die die sächsische
       Staatsregierung ihr Volk zum Gespräch gebeten hat.] Man muss ihn wohl fast
       bestaunen dafür, dass er immerhin diesen lächerlichen Konsens hier
       herstellt. Michael Kretschmer ist nur noch der Herausforderer in Sachsen.
       Das ist ja das Problem.
       
       Denn die Herausforderung an ihn selbst, der die stärkste Partei im Land
       stellt, lautet doch eigentlich: Im September 2019, wenn die nächste
       Landtagswahl ansteht, muss die CDU die AfD schlagen, die derzeit in
       Umfragen in Sachsen die zweitstärkste Kraft ist. Auch deswegen ist er heute
       hier und stellt sich in diesem Gespräch.
       
       Alle haben dieselben Fragen 
       
       Als Kretschmer an diesem Donnerstag nach Chemnitz kommt, will er nicht nur
       darüber reden wie organisierte Rechtsextreme in Chemnitz Jagd auf Menschen
       machten. Er besucht eine Schule, das Rathaus, eine Kita, ehe er am Abend im
       Stadion eintrifft, in dessen Fankurve sonst auch einige der Hooligans
       stehen, die am Sonntag und Montag auf den Straßen waren und „Ausländer
       raus!“ brüllten.
       
       Kretschmer will jetzt da sein. Man sieht es etwa daran, dass er den ganzen
       Tag immer wieder Reporterinnen und Reportern, die ihn durch Chemnitz
       begleiten, geduldig für ihre Fragen zur Verfügung steht, auf die er
       eigentlich noch keine Antworten hat: Gibt es neue Informationen über den
       Todesfall vom letzten Wochenende? Wieso war die Polizei gegen die rechten
       Demonstranten überfordert? Was will Kretschmer tun, damit Chemnitz sein
       rechtes Problem in den Griff kriegt? Journalisten aus ganz Europa sind an
       diesem Tag in Chemnitz. Sie alle haben diese Fragen.
       
       Als Michael Kretschmer am Donnerstagmorgen um 11.15 Uhr aus seinem
       schwarzen BMW steigt, steht er erst mal im Regen. Die letzten Tage waren
       anstrengend, das sieht man, auch wenn die Augenringe sein Gesicht nicht
       mehr ganz so tief zeichnen wie noch am Dienstag, als er erstmals nach den
       Hetznächten von Chemnitz vor die Presse trat.
       
       Hier, an der Oberschule im Chemnitzer Stadtteil Helbersdorf, sitzt er nun
       in einem Klassenzimmer. Über der Tafel hängen grüne Schilder: „Wir hören
       uns zu“ und „Wir beschimpfen uns nicht“ oder „Wir wenden keine Gewalt an“.
       Das sind Regeln, von denen Kretschmer behauptet, dass sie auch im Freistaat
       Sachsen gelten – sanktioniert durch das Gewaltmonopol, das der
       Ministerpräsident in den letzten Tagen immer wieder beschwört.
       
       Kein Preis für Sachsen 
       
       Die Schüler und Lehrer stellen ihr Demokratieprojekt vor – Titel:
       „Demokratisches Handeln entwickeln“ – bei dem sie selbst Regeln entwickeln
       und deren Einhaltung kontrollieren. Dafür erhielt die Schule den
       Sächsischen Schulpreis. „39 Prozent der Schüler hier“, verkündet die
       Schulleiterin stolz, „haben einen Migrationshintergrund.“
       
       Welchen Preis würde wohl Sachsen im Moment bekommen? Und welche Zustimmung
       wird im September 2019, wenn in Sachsen gewählt wird, ihr Ministerpräsident
       mit seiner CDU erhalten, deren größte Konkurrenz derzeit die AfD ist?
       
       Kretschmer fragt die Kinder, ob sie auch die Regeln und die
       Verantwortlichen hinterfragen. Und er fragt einen Schüler, was seine Eltern
       denn eigentlich zu seinem Engagement hier im Demokratieprojekt sagen. Da
       antwortet der Schüler: „Mein Vater fürchtet, ich mache mich unbeliebt.“
       
       Dann, ehe es also abends ins Stadion geht, kommt der Ministerpräsident auf
       den Sonnenberg, einst verschrien als Armenviertel der Stadt. Es ist das
       letzte Treffen vor dem Sachsengespräch im Stadion drüben, vor dem später
       auch Hunderte Rechte und Rechtsextreme gegen seinen Besuch demonstrieren
       werden.
       
       An wen kann man sich noch wenden? 
       
       In der Tschaikowskistraße nimmt er sein Sakko ab, krempelt die Ärmel seines
       Hemds hoch und fragt die Eltern, ob sie denn hier die richtige Kita für
       ihre Kinder gefunden hätten. Ganz am Ende dieses Gesprächs, als alles fast
       vorbei scheint, sagt eine ältere Frau, sie sei am Boden zerstört. Sie zeigt
       auf ihre Schwiegertochter. Die sei nach den Vorfällen dieser Woche zum
       ersten mal rassistisch angepöbelt worden, weil sie aus China stamme. Ihre
       Schwiegertochter hat Tränen in den Augen, wie die Schwiegermutter und ihr
       Sohn auch.
       
       Auf einmal wird es ganz ruhig in dem für den Ministerpräsidenten
       hergerichteten Raum mit Stehtischen, dem Fingerfood und den eingerahmten
       Fotos von lachenden Kindern mit ihren Eltern an der Wand. Die Frau, um die
       es geht, sagt: „Ich habe Angst“.
       
       „Wenn so etwas passiert, an wen sollen wir uns dann wenden?“
       
       Michael Kretschmer sagt, mit einer Selbstverständlichkeit: „An die
       Polizei.“ Jetzt sagt eine Frau, die Kopftuch trägt und ihr Kind an der Hand
       hält: „Aber die Polizei ist doch überfordert.“
       
       Abschiebungen als Witz 
       
       Kretschmer holt sich etwas zu essen, und dann sagt er doch noch etwas: Es
       gehe hier doch um Anstand und Zivilcourage. Aber sein Satz zerplatzt wie
       eine Seifenblase im Raum.
       
       Als Kretschmer wenige Stunden später in der VIP-Lounge des Chemnitzer FC
       von einem älteren Herrn gefragt wird, was er denn gegen kriminelle
       Ausländer unternehme, verweist der CDU-Politiker auf einen Abschiebeflug,
       bei dem zuletzt 16 Menschen abgeschoben wurden.
       
       Er hat den Satz noch nicht ausgesprochen, da lachen schon alle im Saal, wie
       vertraut miteinander, so als wäre es ein guter Witz und als hätten sie die
       Pointe bereits vorher gekannt. Kretschmer versteht nicht, weshalb sie jetzt
       lachen, schaut unsicher, er runzelt die Stirn. Dann fragt er nach, warum
       gerade alle lachen. „Nur 16!“ rufen sie. „Das ist es ja.“
       
       Einen Satz wird am gesamten Abend keiner der Bürger sagen, die heute hier
       sind, um ihren Ministerpräsidenten zu treffen. Es ist ein Satz wie: „Wir
       müssen jetzt den Bildern von Sonntag und Montag ein starkes Zeichen
       entgegensetzen.“ Oder vielleicht etwas Ähnliches.
       
       In einer vorherigen Version dieses Textes hieß es, die AfD sei die
       zweitstärkste Fraktion im Sächsischen Landtag. Die AfD ist die viertgrößte
       Fraktion, allerdings aktuell die zweitstärkste Kraft in Umfragen in
       Sachsen. Wir haben das korrigiert.
       
       31 Aug 2018
       
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