# taz.de -- TV-Film „The Tale“: Sie ist kein Opfer
       
       > Jennifer Fox wurde als Teenagerin missbraucht. Davon handelt ihr Film
       > „The Tale“. So weit, so oft gehört? Tja, in diesem Drama ist alles
       > anders.
       
 (IMG) Bild: Jennifer (Laura Dern) muss sich mit ihrem jüngeren Ich (Isabelle Nélisse) auseinandersetzen
       
       Filme, die den Missbrauch von Kindern erzählen, gibt es einige („Das Fest“
       von Thomas Vinterberg, „Vier Minuten“ von Chris Kraus, „Das weiße
       Kaninchen“ von Florian Schwarz …). Und die meisten gehen so, dass die
       Erfahrung eine schreckliche ist und furchtbar traumatisierte Erwachsene
       hervorbringt. Was aber, wenn es einmal ganz anders ist?
       
       Wenn da eine lange schon erwachsene Frau glücklich ist in ihrem Leben, wie
       sie es sich eingerichtet hat? Wenn sie sich des Missbrauchs überhaupt nicht
       bewusst ist, weil sie ihn nämlich als schöne, romantische
       Kindheitserinnerung abgespeichert hat? Wenn erst ein zufällig wieder
       aufgetauchter Schulaufsatz die Erkenntnis in ihr reifen lässt? Wenn sie
       sich deshalb auf eine Spurensuche begibt (– die im Wesentlichen die
       Filmhandlung ausmacht)? Und wenn sie trotz allem, was sie rekonstruiert und
       reimaginiert, am Ende immer noch keine traumatisierte Erwachsene sein wird?
       Kein Opfer.
       
       [1][Sie ist kein Opfer („victim“)], weil sie entschieden hat, keines zu
       sein. Darauf legt die Filmemacherin Jennifer Fox großen Wert und nennt sich
       selbst lieber Überlebende („survivor“). Denn es ist ihre eigene
       Missbrauchsgeschichte, die sie erzählt – und möglicherweise lässt sich
       diese Geschichte überhaupt nur deshalb erzählen, weil sie eine wahre
       Geschichte ist. Weil sonst irgend jemand käme und den Vorwurf der
       Verharmlosung in den Raum stellte.
       
       Der Vorwurf schwingt zumindest mit, wenn nach der Berlin-Premiere von „The
       Tale“ Anfang Juli in der Akademie der Künste (am Hanseatenweg) – in
       Deutschland wurde der Film zuvor schon beim Filmfest München gezeigt – ein
       Zuschauerexperte anmerkt, es sei wirklich sehr ungewöhnlich, dass ein Kind
       den Missbrauch irgendwann beende, indem es einfach „nein“ sage. Es sind da
       überhaupt einige Fachleute anwesend, deren Fach nicht Film und Fernsehen
       ist, und die an Diskurse anschließen, die sie offenbar in derselben
       Besetzung schon an anderer Stelle geführt haben. Vor der Vorführung wurde
       darauf hingewiesen, dass gegebenenfalls professionelle Hilfe vor Ort sei.
       Bei der US-Premiere auf dem Sundance Film Festival sollen der Film
       Zuschauern so nah gegangen sein, dass sie nicht anders konnten, als den
       Saal zu verlassen.
       
       Dabei ist genau das schwer vorstellbar. Nicht weil der Film etwa schlecht
       gemacht wäre. Nein, eben weil die Figur im Mittelpunkt – als
       Dreizehnjährige wie als Fiftysomething – so eine starke Persönlichkeit ist.
       Als Kind aus weder prekärem noch (überdurchschnittlich) dysfunktionalem
       Elternhaus bringt sie ihr Pferd in den 1970er Jahren auf dem Hof einer
       jungen Engländerin (Elizabeth Debicki) unter, die so attraktiv ist wie
       einst Lady Diana. Die mit einem deutlich älteren Mann verheiratet ist und
       eine Beziehung zu einem nicht weniger attraktiven Lauftrainer (Jason
       Ritter) unterhält. Die nicht so platonisch ist, wie das Mädchen, das
       Jennifer Fox heißt, zunächst annimmt. Vor allem nicht so unschuldig.
       
       ## „Die Geschichte ist wahr“
       
       Jennifer Fox – die Jennifer Fox in der AdK – sagt, sie habe die Sportart
       geändert. Man kann also spekulieren, ob der reale Trainer vielleicht
       heranwachsende Wasserspringerinnen gecoacht hat – und manipuliert und
       missbraucht –, [2][um nur an den zuletzt publik gewordenen Missbrauchsfall
       im amerikanischen Sport anzuknüpfen.] Und wenn es einen Kritikpunkt an dem
       Film gibt, dann vielleicht diesen: dass Fox solche Details ändert und
       gleichzeitig totale Authentizität für das Gezeigte in Anspruch nimmt – bei
       aller Betonung der Subjektivität jeglicher Erinnerung: „Die Geschichte, die
       Sie jetzt sehen, ist wahr – soweit ich weiß“, heißt es zu Beginn aus dem
       Off.
       
       Die erfahrene Dokumentarfilmerin Jennifer Fox (an „My Incarnation“ hat sie
       über 20 Jahre gedreht) legt hier, in eigener Sache, ihren ersten Spielfilm
       vor. Sie wechselt zwischen den beiden Zeitebenen hin und her und
       durchbricht sie, wenn sie die erwachsene Jennifer mit der dreizehnjährigen
       und mit den jungen Tätern in Dialog treten lässt. Weitere Kunstgriffe spart
       sie sich und vertraut souverän auf ihre beiden herausragenden
       Hauptdarstellerinnen. [3][Laura Dern] kann man aus den frühen Filmen von
       David Lynch („Blue Velvet“, 1986; „Wild at Heart“, 1990) kennen – da war
       Isabelle Nélisse noch lange nicht geboren. Sie soll sich bei der Sexszene,
       die ihre Entjungferung zeigt, auf Regieanweisung von Fox einen Bienenstich
       vorgestellt haben. Kaum zu glauben – aber sie sollte, sie musste geschützt
       werden. Und der Missbrauch musste gezeigt, durfte nicht etwa nur angedeutet
       werden, fand Fox.
       
       Natürlich kommt sie bei dem Berliner Termin nicht umhin, sich zum Zustand
       der USA zu äußern: „Ich komme aus einem dunklen, kalten Land, genannt
       Amerika. Wo sie die Kunst nicht fördern.“ – „The Tale“ ist nämlich zu einem
       Gutteil mit deutschem Geld finanziert, zum Beispiel des ZDF, das den Film
       also auch irgendwann zeigen wird, aber jetzt noch nicht weiß, wann. Es wird
       irgendwann nach Mitternacht sein.
       
       17 Aug 2018
       
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