# taz.de -- Roman „Sechs Koffer“ von Maxim Biller: Fragen an den Tod des Großvaters
       
       > Maxim Biller erzählt in seinem aktuellen Roman „Sechs Koffer“ von
       > Familie, Verrat und vom Antisemitismus in sozialistischen Ländern.
       
 (IMG) Bild: Ständig nerven und bohren: der Schriftsteller Maxim Biller
       
       Wie sehr darf man sich der Wahrheit – und den Lügen – seiner eigenen
       Familie, seiner Freunde, seiner Kultur und seiner nationalen Geschichte
       eigentlich nähern? Wie deutlich darf man dabei werden?
       
       Wie überirdisch schön und poetisch muss man schreiben, damit trotzdem jeder
       versteht, dass man es nicht auf reale Personen und Ereignisse abgesehen
       hat, sondern nur darüber sprechen will, dass es jenseits der Wirklichkeit
       eine Sphäre gibt, in der sich die Tragödien und Komödien unserer Leben
       derart spiegeln, dass man sich in ihnen nicht so sehr selbst wiedererkennt,
       sondern nur die lächerliche, sinnlose, herrliche Schönheit dieses absolut
       überflüssigen Daseins, dessen wichtigste, moralisch widersprüchlichste,
       herzergreifendste Protagonisten natürlich unsere Väter und Mütter sind?“
       
       Es waren rhetorische Fragen, die Maxim Biller vor Kurzem in seiner
       Heidelberger Poetikvorlesung stellte. Nicht so genau hinsehen, nicht allzu
       deutlich werden zu wollen ist das Letzte, was man Biller vorwerfen kann.
       Der Kolumnist und Kritiker Biller macht sich regelmäßig unbeliebt, indem er
       alles hinterfragt und auch die eigenen Freunde und Verbündeten schonungslos
       attackiert.
       
       Was seine Kritik am Konsens und seine Angriffe auf den Komment in seinen
       „Nudnik-Artikeln“, wie er sie nennt, manchmal so brutal erscheinen lässt,
       bringt seine literarischen Texte zum Leuchten, die er „forschende
       Fiktionen“ nennt. „Nudnik“ ist jiddisch und meint einen Menschen, der
       nervt, weil er ständig bohrt und unliebsame Fragen stellt: Nu, nu, nu, sag
       doch mal!
       
       ## Katalysator für Konflikte
       
       In seinem neuen Roman „Sechs Koffer“ widmet sich Biller wieder einem
       Familiengeheimnis. Ein junger Mann, der Maxim Biller ähnelt, versucht
       herauszufinden, welches Familienmitglied Schuld am Tod des Großvaters hat.
       Schmil Grigorewitsch, vom Enkel stets „der Tate“ genannt, hatte mit
       Schwarzmarktgeschäften die Familie vor den Unwägbarkeiten des Lebens zu
       schützen versucht.
       
       Geld, erklärt der Tate, dürfe niemals mehr als Mittel zum Zweck sein: „Das
       eine ist, für Geld zu sterben, um zu leben. Das andere ist, dafür zu
       töten.“ Wie in jeder Familie ist auch in dieser Geld Katalysator für
       unausgesprochene Konflikte und damit ein potenzieller Sprengsatz.
       
       Den jugendlichen Protagonisten und Ich-Erzähler von „Sechs Koffer“ treibt
       also die Frage um, wer des Großvaters Geschäfte an den KGB verraten hat.
       Kapitel für Kapitel werden nacheinander die Geschichten der Söhne und ihrer
       Frauen erzählt, um herauszufinden, wer es gewesen sein könnte und aus
       welchen Motiven. War es Natalia Gelernter, die ehemalige Freundin des
       Vaters, die dann, weil sie ihn nicht bekam, dessen Bruder geheiratet hatte?
       War es einer der drei Brüder des Vaters – Lew, Wladimir, Dima – oder gar
       Vater Sjoma selbst?
       
       Mit dem Vatermord und der nachträglichen Überhöhung der Vaterfigur beginnt
       laut Freud die Kultur. In Billers Romanen nimmt der Vatermord immer wieder
       neue fiktive Wendungen, was dem Programm des Autors folgt, das er in
       Heidelberg skizziert hat: „Das Bild vom übermächtigen, heldenhaften Vater
       an sich in Frage zu stellen und damit ein absolutes, vermeintlich
       unhinterfragbares Weltbild.“
       
       ## Sexarbeit im Lager der Nazis
       
       „Sechs Koffer“ hat zwei Erzähler, einen gottgleichen auktorialen Erzähler
       und einen zum Interpretieren der Welt gezwungenen Ich-Erzähler,
       Repräsentanten von Über-Ich und Ich. Die schrecklichsten Geschichten, die
       der Pubertierende erzählt, sind Geschichten vom elterlichen Verrat in
       Liebesangelegenheiten und die anscheinend daraus, vielleicht aber auch aus
       einem grundsätzlichen Leiden am Leben resultierenden „Horrorszenen“
       zwischen Vater und Mutter am heimischen Küchentisch.
       
       Die detektivische Suche nach dem Familienverräter ist für Biller einmal
       mehr Anlass, die Geschichte einer jüdischen Familie im kaputten zwanzigsten
       Jahrhundert zu erzählen. Natalia Gelernter hat die Lager der Nazis durch
       Sexarbeit überlebt. In der ČS SR muss sie mit den einflussreichen Männern
       der Filmindustrie schlafen, um arbeiten zu können. Die Roman-Billers sind
       säkulare Menschen und ständig Gegenstand [1][antisemitischer Anfeindungen
       in ihren sozialistischen Ländern.]
       
       Irgendwer muss ja dafür verantwortlich gemacht werden, dass der Kommunismus
       nicht funktioniert. „Nur weil sie die Menschen nicht glücklich machen
       können, brauchen sie jemanden, dem sie die Schuld an ihrer lächerlichen
       Unfähigkeit geben können. Alles, was sie über Slánsky, Trotzki, und die
       jüdischen Ärzte sagen, müssten sie über sich selbst sagen: Sie sind gierig!
       Sie sind die Lügner und Trickser! Sie zerstören uns alle“, zitiert Natalia
       ihren ehemaligen Geliebten Slomja in einem Brief aus dem kanadischen Exil,
       den der nun nicht mehr junge Ich-Erzähler nach dem Tod des Vaters von
       seiner Mutter in die Hand gedrückt bekommt. Klingt kompliziert, ist aber
       wie immer bei Biller einfach und pointiert geschrieben.
       
       ## „Wo fängt Verrat an?“
       
       Maxim Biller ist ein Meister der kurzen Texte. Mit Kurzgeschichten hat er
       seine literarische Karriere begonnen. [2][Seine Kolumnen sind oft sehr
       lustig.] Eines seiner besten Bücher, und nebenbei bemerkt gewagter als
       vieles, was in deutscher Sprache über das Schicksal der Juden unter der
       Herrschaft der Nationalsozialisten geschrieben worden ist, heißt „Im Kopf
       von Bruno Schulz“ und ist eine Novelle. Der Roman „Sechs Koffer“ ist gut
       zweihundert Seiten lang.
       
       Immer wieder kehrt dessen jugendlicher Protagonist zu einem Buch zurück,
       das er wegen eines noch zu schreibenden Aufsatzes lesen muss. [3][Es sind
       die „Flüchtlingsgespräche“ von Brecht], von dem auch das dem Roman
       vorangestellte Zitat stammt: „Der Pass ist der edelste Teil von einem
       Menschen.“ Brecht, jener stalinistische Schriftsteller und Kritiker des
       Stalinismus, spricht für die Skepsis des Autors Biller, wenn er sagt: „Ich
       glaube von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich habe
       mich noch selten getäuscht.“ Es gibt schlechten und es gibt guten Verrat,
       das hat Brecht auch noch gesagt.
       
       Nach der Lektüre dieses Romans beginnt man, wie sein Autor in der Tradition
       der „guten alten, halb vergessenen Thoragelehrtenschule“ Gegenfragen zu
       stellen: Wo fängt der Verrat an? Besteht im Leben der Menschen die
       Möglichkeit, die anderen nicht zu verraten? Und wenn ja, wie stellt man das
       an?
       
       10 Aug 2018
       
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