# taz.de -- 150. Geburtstag von Magnus Hirschfeld: Ein queerer Traum namens Berlin
       
       > Zu Zeiten des Sexualforschers Magnus Hirschfeld war Berlin als „Gay
       > Capital“ bekannt. Auch heute gilt es wieder als LGBTI*-Hauptstadt. Zu
       > Recht?
       
 (IMG) Bild: Denkmal für die erste homosexuelle Emanzipationsbewegung am Magnus-Hirschfeld-Ufer in Berlin
       
       Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs war der Westen Berlins ein Fluchtort für
       schwule Männer. Dorthin konnten sie sich retten, um dem Wehrdienst zu
       entgehen. Heute gelten in der Bundeswehr Antidiskriminierungsgesetze – auch
       zugunsten von LGBTI*-Menschen. Doch noch in den Siebzigern kam die
       Vorstellung, beim „Bund“ als schwul geoutet zu werden, einer Horrorfantasie
       gleich. Berlin dagegen, sein Westen, wie in anderer Hinsicht der Osten, die
       Hauptstadt der DDR, knüpfte an Traditionen an, die mit der Machtübernahme
       der Nationalsozialisten ausgelöscht worden waren.
       
       Für diese Geschichte steht niemand so prominent wie der Arzt und
       Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, Lobbyist in Sachen Abschaffung des
       Paragrafen 175, der Homosexualität unter Strafe stellte. Hirschfeld war der
       prominenteste Kopf der, heute würde man sagen: queeren Bewegungen in
       Deutschland – der wichtigste Aufklärer in Sachen Homosexualität, Trans* und
       Inter*. Er war den einen liebevoll, „Tante Magnesia“, den anderen,
       Völkischen, Nazis, ein Hassobjekt, Zersetzer, jüdischer Volksschädling, ein
       Verderber der deutschen Jugend – und mit den frühen oder späteren Nazis
       glaubten das auch die meisten Pastoren und Priester.
       
       Der US-amerikanische Historiker Robert Beachey hat dieser Ära bis zur
       NS-Machtübernahme in schwuler Hinsicht ein ordentliches Buch gewidmet, „Gay
       Berlin“, ein feines Dokument, das zwar den lesbischen und Trans*bereich in
       der historischen Perspektive weitgehend ausspart, aber zeigt, wie intensiv
       in Berlin schwules und lesbisches Leben ersehnt, ausprobiert und gefeiert
       wurde – in Bars, Cafés, Vereinen und manchem bürgerlichen Salon. Oder in
       Parks, schon damals im Tiergarten, wo Stricher auf Kunden warteten, auf
       Klappen, öffentlichen Toiletten, ein Ort des Sexes und des Kennenlernens
       unter Schwulen überhaupt.
       
       Berlin, das war die Stadt, die für einen später berühmten Autor wie
       Christopher Isherwood („Goodbye Berlin“, woraus der Film „Cabaret“ mit Liza
       Minnelli wurde) wichtiger war als Paris und London zusammen: An der Spree
       waren Aufbrüche möglich, von denen andernorts nicht einmal geträumt werden
       konnte.
       
       Das mag lange her sein, 85 Jahre schon, als der queere Traum namens Berlin
       durch das braune Regime planiert und die ersten Männer in KZs wie
       Sachsenhausen interniert wurden, beschuldigt der „Unsittlichkeit“: Männer
       mit dem Rosa Winkel. Schwule – Lesbisches galt als nicht so dringlich zu
       verfolgen – waren, um SS-Chef Heinrich Himmler zu zitieren,
       „bevölkerungspolitische Blindgänger“.
       
       ## Fluchtpunkte für Besserverdienende
       
       In anderen Ländern, der Schweiz und Dänemark, liberalisierten sich die
       Verhältnisse mehr und mehr, aber diese Fluchtpunkte waren nur für die
       Besserverdienenden und mit gültigen Reisepässen erreichbar. Hirschfeld,
       schon vor 1933 auf Weltreise gegangen, kehrte nie mehr in seine Heimat
       zurück, sein Institut für Sexualwissenschaft war das erste Objekt des
       liberalen Deutschland, das der Nazimob ausplünderte.
       
       Und nach dem 8. Mai 1945? War Berlin eine zerstörte Stadt, war Schwules
       zwar nicht mehr von Haft in Konzentrationslagern bedroht, aber der Paragraf
       175 in seiner Nazifassung galt noch bis 1969, übrigens sehr zur
       Zufriedenheit gerade der Kirchen in der Bundesrepublik. Während die DDR die
       Sondergesetzgebung zwar nicht strich, aber auf Weimarer Verhältnisse
       zurückbrachte: Erlaubt war Schwules noch immer nicht, aber wenigstens nicht
       mehr intensiv bedroht und verfolgt.
       
       Doch die queere Topografie der Stadt wurde wiederbeatmet: Um den
       Nollendorfkiez herum gab es wieder, flüsterte man sich zu, einschlägige
       Etablissements, auf Klappen ging auch wieder mehr, man durfte sich bloß
       nicht von Polizeispitzeln erwischen lassen. Oder an jemanden geraten, der
       einen hinterher erpresste: Wenn du mir nicht Geld gibst, erzähl ich, was du
       für einer bist.
       
       Und Magnus Hirschfeld, sozusagen der Schutzheilige, der persönlich als
       freundlich, schrullig und immerrührig bekannt war, der aus einer jüdischen
       Familie stammende Mann, der sich als Patriot verstand und doch nicht
       begriff, dass Homosexuelle in dieses nicht passen sollten: Der wurde, falls
       man dies mal so formulieren darf, immer vergessener. Die studentisch
       geprägte Schwulenbewegung, linksradikal gesinnt und unerschütterlich im
       Glauben, Homosexuelle sollten sich nicht mehr ducken müssen, sich zeigen,
       aufmüpfig sein, interessierte sich für Hirschfeld, ihren Erblasser, kaum.
       
       ## Nach Berlin wollen alle
       
       Trotzdem ist Berlin wieder zur „Gay Capital“ (Beachey) der Welt geworden.
       Nach Berlin wollen alle, hier sind die Lokale ohne Sperrstunde, hier ist
       die Dichte groß, hier droht nirgends Verfolgung – mit dem Berghain an der
       Spitze, dem ikonischen Tempel, in dessen Bauch sich alle treffen,
       entgrenzungsbereit – das Schwule und Lesbische nicht nur als Beiwerk,
       geduldet, sondern integral zum Spiel gehörend.
       
       Es sind jedoch weniger Lokale und Bars geworden seit den Zeiten
       Hirschfelds. Das liegt wahrscheinlich auch an dem, was man Normalisierung
       nennen könnte: LGBTI*-Leute wissen meist, dass es nicht mehr nötig ist,
       Orte mit einer Dominanz von Heteros zu meiden – man bewegt sich nicht mehr
       unter solchen homophoben Voraussetzungen, wo Lesbisches und Schwules
       unsichtbar bleiben muss.
       
       Aber speziell die Orte, wo man als Person nicht heterosexueller
       Orientierung nicht in der Minderheit ist, sind allesamt in wenigen Vierteln
       versammelt: Nollendorfkiez, ein bisschen Neukölln (mit dem SchwuZ am
       Rollbergviertel), ein wenig Prenzlauer Berg, etwas Mitte – das war’s schon.
       Jenseits des S-Bahn-Rings gibt es, anders als zu Hirschfelds Zeiten, keine
       Treffpunkte, von denen man einschlägig weiß, dass Kesse Väter und warme
       Brüder nicht auf hetero tun müssen.
       
       Das „Rauschgold“ am Mehringdamm gegenüber vom „Sundström“, das „Ludwig“ in
       der Neuköllner Anzengruberstraße, am Kotti das Möbel Olfe und der
       „Südblock“: Plätze, die mehr sind als Darkroom mit Zapfhähnen im
       beleuchteten Bereich. Mit dem französischen Theoretiker Didier Eribon
       gesprochen: Jede queere Bar ist wichtig, denn sie gibt Lesben und Schwulen
       und Trans* das Gefühl, wirklich zu existieren, einen Ort zu haben, an dem
       sie fraglos sein können.
       
       ## Alte Homosexuelle sind nicht existent
       
       Doch selbst diese Bars und Schankstellen, besonders jene rund um den
       Nollendorfplatz und die Motzstraße, haben einen Mangel: Sie sind nicht
       queer, sondern überwiegend für schwules Publikum, und sie sind en gros und
       en détail für Junge. Alte Homosexuelle, also etwa ab dem 50. Lebensjahr,
       weiblich oder männlich, sind in den Epizentren des Szenewesens, von
       Fetischbars abgesehen, nicht existent.
       
       Das einzige Event, zu dem sie offenbar gern kommen, ist eine schwerst
       uncoole Angelegenheit: Der Abend von „Gay Night At The Zoo“, organisiert
       von Gerhard Hoffmann, Berliner Politaktivist noch aus den frühen
       Siebzigern, einer der wichtigsten Bewegungsköpfe der Homosexuellen Aktion
       Westberlin (HAW): Im Zoo spielt dann das BVG-Swingorchester, an den
       Tischen sitzen ausgesprochen feierlaunige Frauen und Männer.
       
       Insofern: Es ist wie zu Magnus Hirschfeld Lebzeiten. Irgendwie nimmt die
       queere Welt diese Stadt so wahr, als sei hier ein Paradies auf Erden. Dass
       es ein breit gefächertes Netz an staatlich geförderten Projekten im
       LGBTI*Bereich gibt, dass die Stadt eine Antidiskriminierungsstelle hat,
       dass diese wach ist für die Wünsche von Trans*menschen, ist ein wichtiger
       Unterschied zu Hirschfelds Zeit – ein guter, willkommen heißender.
       
       Was so ist wie früher: dass die politischen Teile der Community verzankt
       sind, unablässig. Hier die „Beißreflexe“ um Patsy L’amour LaLove, dort die
       Queerfeminist*innen, gern im Schwulen Museum zu Hause. Und in der Mitte die
       Immergleichen, die fordern, dass der Streit endlich aufhören möge.
       
       Um nur eine Differenz zu nennen: Während Erstere „queer“ als Sammelbegriff
       nehmen und schwule Männer nicht als „cis-weiß-männlich“ diskreditieren
       wollen (mit der Vorstellung, Schwules sei in jeder Hinsicht kein Problem
       mehr), betonen die anderen, was an universitären Fachbereichen gerade High
       Fashion ist: dass nämlich Rassismus die wichtigste Wahrnehmungs- und
       Erkenntniskategorie ist, dass Queer ein moralischer Auftrag ist, das
       Postkoloniale, das Postmännliche, das Postgeschlechterhafte grundsätzlich
       infrage zu stellen.
       
       ## Anecken oder anpassen
       
       Zu Hirschfelds Zeiten ging der Streit darüber, ob man sich an die
       Heterogesellschaft anpassen soll, um nicht anzuecken, die anderen wollten
       genau dies: Schwules, Lesbisches und Andersgeschlechtliches sichtbar
       halten, nicht beschämt verstecken. Letztlich sind es nur Stürmchen im
       Wasserglas, denn, obwohl es keine genauen Zahlen gibt, darf angenommen
       werden: 98 Prozent aller Lesben und Schwulen und Trans* in Berlin leben
       ohne inneren politischen oder kulturellen Auftrag ihr Leben, sei es nun
       queer, schwul, lesbisch oder trans*.
       
       Man versucht, um es mit einem zeitweiligen Bündnispartner Hirschfelds,
       Sigmund Freud, zu sagen, das eigene Unglück der Sterblichkeit zu ertragen –
       und feiert das Leben. Man lebt nicht in Szenebezirken, sondern in Kladow,
       Marzahn, Reinickendorf oder Schöneberg, überall, wie’s passt und gefällt:
       Hirschfeld wäre zufrieden, denn anders als zu seiner Zeit ist es ja
       grundsätzlich unstatthaft geworden, homo- oder trans*phob zu sein.
       
       Berlin ist kein Paradies. Aber nicht weit entfernt von einem Zustand, der
       diesem nahekommen kann.
       
       14 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Feddersen
       
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