# taz.de -- Für den Leipziger Buchpreis nominiert: Orte der Lebenden, Orte der Toten
       
       > Esther Kinskys Roman „Hain“ erzählt von einer Frau, die auf einer
       > Italienreise den Verlust ihres Geliebten verarbeitet. Ein Treffen mit der
       > Autorin.
       
 (IMG) Bild: Antworten finden im Dialog mit der Landschaft
       
       Ein geliebter Mensch stirbt. Diejenige, die er zurücklässt, ist nun eine
       Hinterbliebene. Was bleibt den Hinterbliebenen? „Vor dem Eintritt der
       Hinterbliebenschaft“, heißt es gleich zu Beginn in Esther Kinskys
       [1][Roman] „Hain“, „mag man ‚Tod‘ denken, aber noch nicht ‚Abwesenheit‘.“
       Die Abwesenheit sei undenkbar, solange es noch eine Anwesenheit gebe. Doch
       für den Hinterbliebenen „bestimmt sich die Welt durch Abwesenheit“.
       
       Auch die Icherzählerin in „Hain“ ist eine Hinterbliebene, ihr Partner ist
       gestorben, die Abwesenheit des geliebten Menschen treibt sie nach Italien,
       an jene Orte, die sie zusammen bereist haben, aber auch dorthin, wo sie als
       Kind mit ihrem Vater gewesen war. „Italienische Reisen“, wirbt der Verlag,
       wenn auch ein wenig „der anderen Art“. Es sind vor allem Friedhöfe, die die
       Icherzählerin aufsucht, Nekropolen, in denen die Etrusker ihre Toten mit
       Grabbeigaben verabschiedet haben, verlassene Landschaften, denen die
       Menschen abhandengekommen sind, weil sie weitergezogen sind, dorthin, wo
       mehr Einkommen und Leben ist. „Der Roman“, sagt Esther Kinsky, als wir uns
       treffen, „ist eine ganz konkrete Auseinandersetzung mit den Orten der
       Lebenden und den Orten der Toten. Wie sie sich zueinander verhalten und
       miteinander sprechen.“
       
       Wie schon in ihrem vorangegangenen Roman [2][„Am Fluss“] scheint es, als
       folgte einer existenziellen Zäsur ganz zwingend ein Neuanfang, bei dem
       selbst elementare Dinge neu gelernt werden müssen. In „Am Fluss“ war die
       Erzählerin, ohne dass der Leser wusste, was geschehen war, wochenlang
       zwischen East London und dem Marschland an den Ufern des River Lea
       unterwegs gewesen, um sich im Beschreiben der verschiedenen Farben der
       Ziegel und Brandmauern in einer neuen Sprache zu üben, die den Gegenständen
       tatsächlich gerecht wird und nicht bloß auf Begriffe zurückgreift, die wir
       für sie bereitgestellt haben. Auch in „Hain“ gehören Ende und Anfang
       zusammen: „Jeden Morgen war mir, als müsste ich alles neu lernen. Das
       Aufschrauben des Kaffeekochers, das Einfüllen des Kaffees und das
       Einschalten der Kochplatte, das Schneiden von Brot und das Anordnen von
       Dingen auf dem Tisch selbst für die kleinste Mahlzeit.“
       
       Manchen geben Menschen in solchen Situationen Trost, die Icherzählerin in
       „Hain“ schlägt sich lieber durch unwirtliches Gelände, wie geschaffen
       dafür, alles, was sie sieht, neu zu benennen, die Farben der Steine, den
       Gesang der Vögel, das sich an jeder Weggabelung ändernde Licht. Eine
       Obsession, die ein neues poetisches Vokabular der Landschaft hervorbringt.
       „Das Rascheln der Palme, das Wispern der trockenen Schilfstängel, die
       Vogelrufe, das alles war eine neue Sprache, die gelernt werden wollte.“
       
       „Geländeroman“, mit diesem Untertitel ist das Buch versehen, durch das die
       Erzählerin wandert, erst in Olevano, einer Berggegend östlich von Rom, dann
       auf den Spuren der Italienreisen, zu denen sie der (ebenfalls verstorbene)
       Vater mitgenommen hat, schließlich bei Comacchio im Po-Delta, einem
       „weiten Gelände auf schwankendem Boden“. Was aber ist das, ein
       Geländeroman? Wozu braucht es diesen Titel? Reicht nicht „Hain“, in dem
       schon alles steckt, der Totenhain, der heilige Ort der Griechen und Römer?
       
       ## Treffen in Neukölln
       
       Ich treffe Esther Kinky im Buchbund, der Buchhandlung in der Neuköllner
       Sanderstraße, die der Schriftstellerin und Übersetzerin, die gleich um die
       Ecke wohnt, ein zweites Zuhause ist. Gleich zu Beginn verrät sie, dass sie
       selbst es war, die den Begriff Geländeroman vorgeschlagen hat. „Ich finde
       das Genre Roman sehr schwierig, weil zu meinen Büchern immer gesagt wird,
       da passiert nichts, das ist ja eigentlich kein richtiger Roman.“ Mit dem
       Begriff Geländeroman, gibt Kinsky unumwunden zu, „will ich mir mein eigenes
       Genre schaffen“.
       
       Und das ist ihr gelungen, völlig zu Recht ist „Hain“ für den Leipziger
       Buchpreis nominiert worden. Souverän und mit leichter Hand lässt Kinsky
       ihre mit schwerer Seelenlast bepackte Erzählerin sehend und wortschöpfend
       durch steiniges Geröll gehen oder entlang der künstlichen Wasserläufe, die
       sich in der Po-Ebene Richtung Meer ziehen, einer Landschaft gleich einer
       „ungeklärten Materialgrenze zwischen Wasser und Land“. Die Erzählerin
       durchstreift in „Hain“ das Delta, in dem alles „greiferisch wurzelt“,
       bereist auf ein Neues Rom, „ein Erwartungswort, das am Ort selbst dann
       schnell zu Anderslautendem zerfiel“, entdeckt in den Bergen an „unsonnigen
       Tagen“ ein „vibrierendes Grau, das keine Schatten zuließ, doch der
       Landschaft mehr Tiefe gab“. Allen Aufbrüchen in dieses Gelände ist die
       Suche gemein, herauszufinden, „was zu den Toten gehört und was zu den
       Lebenden“, wie es die Schriftstellerin beim Tee im Buchbund nennt.
       
       Tatsächlich entwickelt „Hain“ einen Sog, den man als Leser vielleicht von
       Wanderungen kennt, auf denen man die Orientierung verloren hat, wo es
       hinter einem kein Zurück mehr gibt und vor einem nur die Hoffnung auf ein
       Zeichen, irgendeinen Hinweis, der einen wieder auf die Spur bringt. Ganz
       auf sich zurückgeworfen ist man in Momenten wie diesen, die großen Fragen
       stellen sich, Fragen, die die Icherzählerin in „Hain“ freilich mit ihrer
       Umgebung teilt. Was bleibt den Hinterbliebenen von den Toten? Was bleibt
       von der Landschaft, wenn sie nicht mehr gebraucht wird? Was bleibt vom
       Delta des großen Flusses Po, wenn es, wie unter Mussolini, trockengelegt
       und zu Ackerland wurde? „Die Trockenlegung des Landes hatte den Menschen im
       Delta das Rückgrat gebrochen“, erklärte der Besitzer einer Pension der
       Icherzählerin. „Hier lebten Wassermenschen, keine Landmenschen, hier sei
       man nicht für den Ackerbau geschaffen. Seit den Trockenlegungen breite sich
       Unglück über die Gegend.“
       
       ## Gestörtes Gelände
       
       Es geht Esther Kinsky, wie sie im Buchbund verrät, seit ihrem Roman
       „Sommerfrische“ um „gestörtes Gelände“, eine Landschaft jenseits der
       Idyllen, die sie auch bei der Arbeit an ihrem nächsten Roman in Schottland
       entdeckt hat. „Ich war schon einmal dort“, sagt sie, „aber erst jetzt
       fielen mir die Schieferhalden auf, die dort überall sind. Schiefer ist ein
       interessantes Gestein. Es ist komprimierter Torf. Mit Organismen, die ganz
       klein sind, aber noch keine Tiere.“ Erst danach hat Esther Kinsky erfahren,
       was es mit diesen Schieferhalden auf sich hatte. „Hier wurde der Schiefer
       abgebaut, aus dem sogar Kathedralen gebaut wurden. Gleichzeitig gab es in
       der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Art Tsunami an der Westküste.
       Dabei wurden die Schiefersteinbrüche total geflutet. Von einem Tag auf den
       andern war die Einkommensquelle der Schieferschürfer verloren.“
       
       Nicht nur Menschen, auch Landschaften können zu Hinterbliebenen werden, das
       ist die Beschaffenheit des Kinsky’schen Geländes. Im Vergleich mit dem
       Material der Natur ist der Mensch klein. Vielleicht ist das der einzige
       Trost, den die Icherzählerin akzeptieren kann: „Ein Gelände, das in mir
       seine Spuren hinterließ, ohne dass von mir eine lesbare Spur blieb.“ Sie
       sieht, ohne gesehen zu werden. Unsichtbar ist sie damit und dem Toten
       vielleicht näher als den anderen Lebenden.
       
       Doch die Icherzählerin in „Hain“ will wieder ins Leben zurück. Man spürt es
       als Leser, als sie im ersten von drei Teilen aufbricht und die steinige
       Berggegend von Olevano hinter sich lässt. Man spürt es auch, als sie in
       Ferrara nicht nur auf den Spuren des Dichters Giorgio Bassani wandelt, des
       literarischen Chronisten der Stadt, sondern in ihrer Kameratasche auch
       Negative mit Aufnahmen ihres verstorbenen Partners findet, aus anderer
       Zeit, an anderen Orten.
       
       Und sie selbst spürt es auch, als sie sich auf das Gelände des Erinnerns an
       ihren Vater begibt. „Jahre nach dem Tod meines Vaters war es mir in den
       Salinen von Comacchio, mit täglichem Blick auf den Lastwagenstrom von und
       nach Ravenna mit einem Mal gewesen, als sollte ich eine Aufgabe erfüllen,
       etwas erledigen – Orte aufsuchen, Gelände begehen, mich an den dünnen
       Fadenspuren entlangtasten, die sich zwischen meinen Erinnerungen, Bildern,
       Orten, Namen spannten.“
       
       ## „Inseln der Heimatlosigkeit“
       
       Als sie dieses begriffen hat, kann sie aufbrechen, kann in den Zug steigen
       und zurückkehren. Im Zug, der sie über die Alpen nach Norden bringt, sitzt
       eine Frau, die ein „schweres westafrikanisches Französisch“ spricht. Aber
       nicht nur die Icherzählerin in „Hain“ ist berührt von Begegnungen wie
       diesen, sondern auch Esther Kinsky. „Inseln der Heimatlosigkeit“ nennt sie
       in unserem Gespräch im Buchbund die Bahnhöfe in Städten wie Ferrara oder
       Ravenna, wo sich die Flüchtlinge treffen. „Das Schicksal dieser Schwarzen
       hat mich sehr bewegt, und das stellt auch im Rahmen der Icherzählerin den
       eigenen Verlust in einen anderen Kontext. Das sind alles Menschen, von
       denen man weiß, dass sie potenziell ihren nächsten Menschen auf dem Boot
       verloren haben.“
       
       An der Grenze wird die Frau aus Westafrika, ohne ein Wort zu sagen, von der
       Grenzpolizei aus dem Zug geführt. Die Icherzählerin, wissend, dass sie
       zurückkehrt, weiß auch, dass es für diese Frau kein Happy End geben wird.
       „Kein Weg aus Italien für sie, und kein Weg nach Hause.“
       
       12 Mar 2018
       
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