# taz.de -- Neuer Film von Yorgos Lanthimos: Dem Fluch entkommen sie nie
       
       > Ein hybrider Thriller: „The Killing of a Sacred Deer“ von Yorgos
       > Lanthimos ist ironisch überhöht, originell und auch etwas theatralisch.
       
 (IMG) Bild: Martins Auftreten provoziert Unbehagen: Szene aus „The Killing of a Sacred Deer“
       
       Wie soll man den zweifellos großen Charme der Filme des Griechen Yorgos
       Lanthimos beschreiben? Vielleicht am besten so: Es ist, als ob man sich in
       eine Art Folterkeller hat locken lassen, wo dann die Tür hinter einem
       zuschlägt. Da steht man nun, erschreckt und fasziniert zugleich, und fragt
       sich: Was geht hier vor?
       
       In seinem Film „Lobster“, seiner ersten englischsprachigen Produktion mit
       internationalem Ensemble, versetzte Lanthimos den Zuschauer in eine Welt,
       die äußerlich ununterscheidbar von unserer Gegenwart war, in der aber
       völlig andere gesellschaftliche Zwänge herrschten. Colin Farrell spielte
       darin einen weinerlichen Mann, der gerade von seiner Frau verlassen worden
       war.
       
       Es stellte sich heraus, dass ihm eine Gnadenfrist von 45 Tagen blieb, um
       eine neue Partnerin zu finden, andernfalls würde er in ein Tier seiner Wahl
       verwandelt werden. Farrells schnauzbärtiger David entscheidet sich für den
       Lobster (Hummer), weil sie lange leben und er das Meer mag. Aber statt im
       Meer landet David dann bei den Partisanen im Wald, wo wiederum das
       Single-Sein Gebot ist, er sich aber in Rachel Weisz verliebt.
       
       ## Gemeinsam aus der Nase bluten
       
       Wobei diese grobe Plot-Angabe den vielen Bizarrerien nicht gerecht wird,
       die den Reiz des Films ausmachten. Da schlug sich ein verzweifelter Mann
       heimlich die Nase blutig, um Gemeinsamkeiten mit einer aus der Nase
       blutenden Frau zu demonstrieren, andere stachen sich gar die Augen aus, wie
       überhaupt Grausamkeit und Gleichgültigkeit als wichtige Kriterien der
       Beziehungsfähigkeit offenbart wurden.
       
       Anders gesagt: „Lobster“ war eine fesselnde Mischung aus Moritat und
       Parabel, Science-Fiction und Farce. Aber das wirklich Faszinierende daran
       war, mit welchen einfachen Mitteln Lanthimos diese dystopische Welt
       erschuf: ganz ohne teure Spezialeffekte, durch reine Dramaturgie und
       altmodische Kinotechniken wie Bildkadrierung, Schnittrhythmus und
       Schauspielerführung.
       
       Colin Farrell ist nun auch in Lanthimos’ neuem Film „The Killing of a
       Sacred Deer“ wieder dabei, und wieder fällt er als Erstes durch seine
       Kinnfrisur auf. Diesmal ist es ein prächtiger Vollbart, der sein Gesicht
       fast völlig verdeckt und seinen Sätzen etwas Mysteriöses verleiht, weil man
       den Ort ihrer Artikulation nicht wirklich sieht.
       
       Passend dazu geht es im ersten Gespräch um die Frage der
       Wasserbeständigkeit von Armbanduhren. Zwei Männer in Weißkitteln, Farrell
       und Bill Camp, laufen einen Krankenhausflur entlang und unterhalten sich
       über ihren Armschmuck, wie tief man damit tauchen könnte. Wobei
       „unterhalten“ nicht ganz das richtige Wort ist: Farrell und Camp sprechen
       ihre Sätze mit einer irritierenden Flachheit, die im harten Kontrast steht
       zum melodramatischen Element ihrer Lebensretterumgebung.
       
       ## Pose: Vollnarkose
       
       Farrell verkörpert den Herzchirurgen Steven, der mit Nicole Kidmans
       Augenärztin Anna verheiratet ist. Sie haben zwei Kinder zusammen, die
       pubertierende Tochter Kim (Raffey Cassidy) und den kleineren Bob (Sunny
       Suljic). Ihr betont artiger und von Ritualen geprägter familiärer Alltag –
       als Vorspiel zum Sex drapiert sich Anna in der Pose „Vollnarkose“ übers
       Bett – erinnert ein wenig an den der Familie aus „Dogtooth“, mit dem
       Lanthimos 2009 seinen internationalen Durchbruch erreichte. Was dort
       zunächst nach „ganz normaler Familie“ aussah, entpuppte sich als
       gewaltgeprägte Umdeutung aller Erziehungswerte unter Isolationsbedingungen.
       Doch in „Killing of a Sacred Deer“ kommt der Schrecken tatsächlich von
       außen und hat die Gestalt von Barry Keoghan.
       
       Keoghan, der mit seiner einmaligen wechselhaft-zappeligen Präsenz bereits
       in Christopher Nolans „Dunkirk“ das Unglück förmlich herbeirief, ist eine
       der großen Entdeckungen dieses Filmjahres 2017. Bei Lanthimos spielt er
       den jungen Halbwaisen Martin, dessen Vater, so erfährt man nach und nach,
       eine von Farrells Herzchirurg durchgeführte Operation nicht überlebte.
       
       Sein Auftreten, so freundlich und demütig er zunächst auch daherkommt,
       provoziert Unbehagen, gerade weil man seine Absichten nicht durchschaut.
       
       ## Schuldverhandlungen
       
       Er erscheint weich, ohne Haltung und doch wie jemand, den man nie wieder
       loswird. Die Treffen zwischen ihm und Steven, hinter denen man zunächst
       eine illegitime Affäre vermutete, stellen sich als schwierige
       Schuldverhandlungen heraus, in denen das vermeintliche Opfer schließlich
       sein Urteil verkündet: Steven soll eines seiner Kinder oder seine Frau
       umbringen, andernfalls sterben alle.
       
       Der kleine Bob ist schon erkrankt und kann nicht mehr laufen; wenig später
       sind auch Kims Beine wie gelähmt. Als beider Zustand sich mehr und mehr
       verschlechtert, sinniert die Mutter Anna, dass es wohl am logischsten wäre,
       eines der Kinder umzubringen, weil sie und Steven schließlich noch jung
       genug seien, ein anderes haben zu können. Steven sucht unterdessen andere
       Auswege. Doch dem Schicksalsspruch kann nicht entronnen werden.
       
       ## Wie ein antikes Drama
       
       Der geradlinigen Ausweglosigkeit der an ein antikes Drama erinnernden
       Handlung steht die Ablenkung durch Lanthimos’ Lust am Launenhaften und
       Grotesken entgegen. In einer Szene wird Colin Farrells Achsel- und
       Brustbehaarung unter die Lupe genommen, weil Martin in seiner
       Übergriffigkeit vergleichen will, wer von ihnen „bewachsener“ ist. Bill
       Camp hat als illoyaler Anästhesist seine Momente („Schuld am Ausgang einer
       Operation hat immer der Chirurg, nie der Anästhesist!“).
       
       An anderer Stelle taucht Alicia Silverstone als Martins Mutter auf und will
       Steven verführen. Nie hat ein Satz wie: „Ich lasse Sie nicht gehen, bevor
       Sie nicht meine Torte probiert haben!“, bedrohlicher geklungen. Und das,
       obwohl sämtliche Figuren ihre Dialogzeilen in einer bemühten Monotonie von
       sich geben, die das Einfühlen in die Figuren fast unmöglich macht.
       
       Das Theaterhafte ihrer Sprechakte bietet wiederum einen schönen Kontrast
       zum Raffinement der Kameraführung und des Bildschnitts: Oft sind die Räume
       wie aus dem spitzen Winkel heraus gefilmt, während die Nahaufnahmen die
       Gesichter meist an den Rand drängen. Der Film evoziert eine Stimmung von
       Klaustrophobie und Thriller, in der die nächste Schreckenswendung stets als
       logische Folge des Vorausgegangenen erscheint, so absurd die „Regel“
       dahinter auch sein mag.
       
       Man könnte meinen, dass damit Lanthimos’ Erfolgsrezept offenbart wäre: ein
       antikes Drama, etwa „Iphigenie“, in Gestalt eines modernen Thrillers zu
       verkleiden und bis zum bitteren Ende durchzuspielen. Aber wie schon in
       seinen Vorläuferfilmen überdauert auch in diesem die Aura des Mysteriösen
       und des Terrors noch den schlauesten Ansatz der Entschlüsselung.
       
       Wobei der größte „Witz“ des Films darin besteht, dass es trotz des
       tragischen Themas und trotz aller Horrorelemente fast irritierend großen
       Spaß macht, sich in dieser Welt aufzuhalten. Zum einen, weil Lanthimos das
       Gemachte, Fiktive seiner Schöpfung mit ironischer Überhöhung immer wieder
       ausstellt. Zum anderen, weil er den Schauspielern etwas anderes als das
       sonst Übliche abverlangt, weshalb man an ihnen, wie hier noch einmal das
       Beispiel Colin Farrell zeigt, tatsächlich ungesehene Seiten entdecken kann.
       Und zum Dritten, vielleicht noch wichtiger, weil Lanthimos im stark vom
       Ideenrecycling geprägten Kino der Gegenwart mit der Originalität seines
       künstlerischen Gesamtentwurfs schlicht herausragt.
       
       28 Dec 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Schweizerhof
       
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