# taz.de -- Debatte Kolonialisierung durch Westen: Eine neue Ostpolitik
       
       > Wenn die nächste Bundesregierung ein überwölbendes Projekt sucht – wie
       > wäre es, 28 Jahre nach dem Mauerfall für echte Ost-West-Verständigung zu
       > sorgen?
       
 (IMG) Bild: Der Osten – vom Westen emotional plattgemacht?
       
       Die Post war da! Absender eines Sechs-Seiten-Briefs ist Sachsens
       Noch-Ministerpräsident Stanislaw Tillich, Empfängerin die „Sehr geehrte
       Frau Bundeskanzlerin, liebe Angela“. In seinem Schreiben mahnt Tillich im
       Namen aller fünf Ost-Ministerpräsidenten die Regierungschefin, sie möge
       beim Sondieren in Berlin doch bitte nicht die Belange der Ostdeutschen
       vergessen. Die Belange – man darf das nach Lektüre des Briefes so verstehen
       – lauten: Gib uns weiter Geld!
       
       Diese Botschaft ist auf gleich zwei Arten ungut. Erstens, weil es die auch
       nicht sämtlich solventen West-Landesregierungen und deren Wähler maximal
       nervt, wenn die Ostler immer nur nach Kohle rufen. Zweitens, weil bei den
       im Brief erhobenen Forderungen die wichtigste fehlt: die nach [1][Respekt],
       also eigentlich nach Interesse. Und daran mangelt es nach wie vor, auf
       beiden Seiten.
       
       Wenn am Donnerstag der Jahrestag des Mauerfalls begangen wird, ist eine Art
       historische Tag-und-Nacht-Gleiche erreicht. Die innerdeutsche Grenze ist
       genauso lange wieder offen, wie sie zuvor geschlossen war. 28 Jahre sind
       eine verdammt lange Zeit. Und doch hat sie nicht gereicht, damit die
       Ostdeutschen sich den Westdeutschen gleichwertig fühlen. Das ist eine
       verheerende Bilanz.
       
       Abständigkeit und [2][Misstrauen der Ostdeutschen] haben sich kürzlich im
       Bundestagswahlergebnis manifestiert. Statt die parlamentarische Demokratie
       als Projekt zu begreifen, das jeden meint und zugleich fordert, wählten
       erschütternd viele Ostler eine rechte Partei, die ihnen nichts als
       Fügungsbereitschaft abverlangt. Ihr Angebot: politische und private
       Engführung auf der emotionalen Basis von Angst vor Veränderung.
       
       ## Ostler selbst im Osten unterrepräsentiert
       
       Das Fatale ist: Viele Ostdeutsche haben in gewissem Maße recht, wenn sie
       sich nicht gleichberechtigt fühlen. Ob bei den Funktionseliten, etwa in der
       Wissenschaft, in der Verwaltung oder im Justizwesen, oder bei der
       Wirtschaftskraft – fast überall sind Ostler selbst im Osten
       unterrepräsentiert. Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für
       politische Bildung, spricht [3][in einem Interview mit der Berliner
       Zeitung] gar von „kulturellem Kolonialismus“.
       
       Genau hier müssten die Ost-Ministerpräsidenten ansetzen. Es geht ihren
       Bürgern nämlich nicht nur um Geld, um Rentenpunkte oder gleichen Lohn.
       Sondern um ein Gefühl, das politisch bis heute nicht hergestellt ist. Ja,
       die zehn Cent weniger für die sächsische Altenpflegerin zahlen direkt auf
       das Konto der AfD ein. Aber nicht minder dramatisch ist dieses
       Wir-gegen-die-Gefühl vieler Ostler, die Opferkarte. Und der Habitus der
       Westler, warum die gepamperten Ostler nicht einfach so sein können wie sie.
       
       Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Laut einer Studie der Universität
       Jena kommen in Ostdeutschland nur 13,3 Prozent der Richter auch von dort,
       und von 22 Hochschulrektoren sind nur 3 im Osten geboren. Keine Frage, auch
       die westdeutschen sind gute Fachleute. Gleichwohl fehlen ihnen ostdeutsche
       Sichtweisen und Lebenserfahrungen. Man darf derlei nicht unterbewerten,
       Erfolgs- und Misserfolgsgeschichten bestimmen die Erzählungen auch der
       Nachgeborenen.
       
       Das Ergebnis sind sich unterprivilegiert fühlende Bürger, die sich immer
       weiter vom westdeutsch geprägten Demokratieprojekt entfernen. Menschen,
       denen Herablassung in Form von Witzen und Desinteresse begegnet, verhalten
       sich irgendwann entsprechend den in sie gesetzten Erwartungen. Und: sie
       richten sich ein in ihrem durchsubventionierten Opferstatus. Dort kann sie
       Alexander Gauland dann abholen wie aus dem Bällebad bei Ikea.
       
       Wenn es ein Projekt gibt, bei dem Jamaika zeigen könnte, was Politik
       vermag, dann wäre das eine Art neuer Ostpolitik, diesmal innerdeutsch.
       Beginnen könnte es mit konkreten Projekten. Jugendaustausch, gelebte
       Städtepartnerschaften, reden und zuhören. Auf beiden Seiten. Klingt
       lächerlich? Wäre aber dringend.
       
       4 Nov 2017
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Debatte-Wahlverhalten-in-Ost-und-West/!5447829
 (DIR) [2] /Debatte-Deutsche-Einheit/!5355044
 (DIR) [3] https://www.berliner-zeitung.de/politik/bpb-chef-ueber-westdeutsche-dominanz--es-fehlen-uebersetzer-kultureller-differenzen--28746484
       
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