# taz.de -- Neustart nach Naturkatastrophe: L’Aquilas Auferstehung
       
       > Am 6. April 2009 zerstörte ein Erdbeben die Abruzzen-Hauptstadt. Der
       > Wiederaufbau schleppte sich, aber nun keimt Optimismus. Ein Ortsbesuch.
       
 (IMG) Bild: Alter neuer Glanz: Die Basilica Santa Maria di Collemaggion soll Ende 2017 wieder für Besucher öffnen
       
       L'Aquila taz | In den Außenbezirken die modernen Wohnblöcke, zum Zentrum
       hin dann die Kirchtürme und Kuppeln, die rotbraunen Terrakotta-Schindeln
       auf den Dächern der Altstadt: Eigentlich ist das das ganz normale Bild
       einer italienischen Stadt, das man schon von der Autobahn aus sieht. Völlig
       normal – wären da nicht die Kräne, übers ganze Stadtgebiet verteilt. Ihre
       stählernen Gerippe und ausladenden Arme bilden die wahre Skyline von
       L’Aquila, verraten, dass in der Senke eine gigantische Baustelle liegt.
       
       Warum all die Kräne da sind, wird am Zugang zur Altstadt klar. Zwei
       Bürobauten aus faschistischer Zeit sind die ersten Gebäude des Corso
       Vittorio Emanuele, der Bau links präsentiert sich frisch renoviert, seine
       Fassade leuchtet in kräftigem Rot, der Bau rechts dagegen ist komplett
       eingerüstet und von Planen verdeckt. Und auch der sich anschließende
       Palazzo versteckt sich hinter einem Baugerüst. Risse durchziehen das
       Mauerwerk, kunstvoll miteinander verschraubte Stahlrohre in den
       Fensterhöhlen sorgen dafür, dass hier nichts einstürzt.
       
       „Der Corso Vittorio Emanuele war mal die Flaniermeile, die Hauptachse der
       Innenstadt, bis zum Erdbeben vom 6. April 2009“, erklärt Oscar Buonamano
       vom Projekt Officina L’Aquila. Grauer Dreitagebart, die grauen Haare
       streichholzkurz, schaut Buonamano seine Gesprächspartner aus freundlich
       aufblitzenden Augen an.
       
       Officina L’Aquila versammelt regelmäßig die Akteure des Aufbaus – die
       Stadt, die Region, die Bauunternehmen, die Universität – zu Diskussionen,
       aber Buonamano liegt an anderem noch mehr: den Bürgern, der Öffentlichkeit
       zu zeigen, dass L’Aquila keine sterbende Stadt ist.
       
       ## Barbetreiber Marco zweifelt noch
       
       Bürger aber sind zunächst einmal Mangelware auf dem Corso, auf dem sich
       eine Baustelle an die andere reiht. Gerüstbauer schlendern vorbei, ein Lkw
       mit Schutt manövriert in einer Seitengasse, ein Arbeiter rät, die
       Straßenseite zu wechseln, während hinter der Plane am Gebäude immer wieder
       Gesteinsbrocken herabplumpsen.
       
       Gleich am nächsten Eck, an der Piazza Regina Margherita, aber stehen, in
       ein Schwätzchen vertieft, zwei echte Aquilaner. Carlo, sportlicher
       Mittvierziger im grauen Polohemd, erzählt, er gehöre zu den wenigen, die
       noch in der Altstadt leben: „Nach dem Beben war hier ja zunächst alles Rote
       Zone, keiner konnte hier wohnen. Ich bin zurückgekehrt, aber meinen Eltern,
       beide 75 Jahre alt, wäre das Leben hier zu beschwerlich. Überall die
       Baufahrzeuge, der Staub, man kann mit dem Auto nicht an die Wohnungen
       ranfahren. Sie sind in ihrer provisorischen Unterkunft geblieben, an der
       Adriaküste, 100 Kilometer von hier.“
       
       Ein Neustart für die Stadt? Carlo zuckt mit den Schultern, sagt, das hoffe
       er, aber so recht könne er es noch nicht glauben, nur ganz wenige Einwohner
       seien bisher in die Altstadt zurückgekehrt. Sein Freund Marco zeigt auf die
       „Bar Spritz“ an der Ecke des Platzes. „Das war mal mein Laden“, erklärt
       Marco, „am 7. April 2009 war Schluss“. Verrammelt ist das „Spritz“, wie der
       ganze Palazzo, in dem es sich befindet. Carlo überlegt, ob er in der
       Altstadt wieder ein Lokal aufmacht, hat aber seine Zweifel, ob es
       vernünftig liefe.
       
       ## Schwere Fehler zum Start
       
       Oscar Buonamano teilt die Skepsis nicht. Gewiss, seit dem Beben, das 309
       Menschen das Leben kostete und die Altstadt in Trümmer legte, das aber auch
       viele der neueren Bauten in den Außenvierteln zum Einsturz brachte oder
       schwer beschädigte, sind mehr als acht Jahre vergangen. Mehr als 40.000 der
       seinerzeit 70.000 Einwohner der Stadt waren zunächst obdachlos. Heute leben
       nur noch 57.000 hier.
       
       Mehr noch, Buonamano meint, dass gerade in den ersten Jahren des
       Wiederaufbaus schwere Fehler gemacht, Ressourcen verschleudert wurden. So
       träumte der damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi davon, die
       Aquilaner mit 20 „New Towns“ zu segnen, neuen Siedlungen draußen auf der
       grünen Wiese.
       
       Buonamano lässt kein gutes Haar an diesen Siedlungen. „Die waren sündhaft
       teuer, mit Baukosten von 3.000 Euro pro Quadratmeter“, rechnet er vor,
       zugleich aber miserabel ausgeführt. Heute sind viele schon baufällig,
       Wasser dringt in die Wohnungen ein, komplette Balkons sind abgebrochen, und
       entgegen allen Versprechungen sind die Wohnblocks nicht einmal
       erdbebensicher.
       
       „Aber L’Aquila wird wiederauferstehen“, gibt Buonamano sich sicher. Er
       zeigt auf die Häuserzeile zur Rechten. Sämtliche Palazzi aus dem
       Mittelalter, aus dem Barock sind komplett instandgesetzt, ihre Fassaden
       erstrahlen in Pastell, die gotischen Fenster, die Maskenreliefs über den
       Türen sind liebevoll restauriert. Officina L’Aquila hat einen Tag der
       offenen Baustellen organisiert, damit die Bürger sich von den Fortschritten
       ein Bild machen können.
       
       Zum Beispiel im Teatro Comunale. Schwerste Schäden hatte es beim Beben
       davongetragen, 2015 begann endlich die Instandsetzung, und vom Theatersaal
       bis rauf zur Kuppel sind jetzt überall Teams am Werk, richten die Mauern
       her, restaurieren den Wandschmuck in Weiß und Gold, das Gemälde im
       Deckengewölbe. „In nicht einmal einem Jahr werden wir hier fertig sein“,
       gibt sich Bauleiter Marcello Marchetti sicher.
       
       ## Der Palazzo Jacopo Notar Nanni ist jetzt bebensicher
       
       Buonamano gesteht zu, dass in L’Aquila zunächst viel Zeit vertan wurde. „So
       entstand das Bild von der Stadt in Agonie, aber von 2015 an wurden die
       Zuständigkeiten in einem zentralen Büro gebündelt, wurde die Mittelvergabe
       transparent gestaltet, wurde systematisch die Restaurierung ganzer
       Straßenzüge angegangen“, bilanziert er.
       
       Nur zwei Straßen weiter findet sich der Palazzo Jacopo Notar Nanni aus dem
       15. Jahrhundert. Das Erdbeben von 1703 – damals wurde die Stadt schon
       einmal verwüstet – hatte er unbeschadet überstanden, doch 2009 wurde er
       schwer beschädigt. Noch sind die Arbeiten nicht abgeschlossen, doch von den
       Schäden ist nichts mehr zu sehen.
       
       Sieben Millionen Euro wurden hier investiert, sagt Bauleiterin Liliana
       Bucchiarone. Die Kassettendecken, die Loggia mit den gotischen Säulen, die
       Fresken – alles ist wie früher. Allerdings nicht ganz: Unter den antiken
       Mauern verbergen sich stählerne Konstruktionen, sind Ketten und Träger
       eingelassen, die dem Palazzo in Zukunft erlauben, auch schweren Beben
       standzuhalten.
       
       Schöner denn je, zugleich sicherer denn je – dies ist das
       Wiederaufbaukonzept. Es war nicht selbstverständlich. „Nach dem Beben gab
       es Überlegungen, vieles einfach abzureißen und dann Architekten mit neuen
       Projekten ranzulassen“, entrüstet sich Buonamano. „Gott sei Dank hat die
       Stadt das verhindert, hat sie die Marschroute durchgesetzt, dass alles
       wieder aufgebaut wird.“
       
       ## Superschnelles Internet
       
       Der neue, alte Glanz zeichnet sich schon in ganzen Straßenzügen ab. 2020
       sollen die Arbeiten in der gesamten Altstadt abgeschlossen sein – dann soll
       L’Aquila unter der alten Fassade zugleich eine der modernsten Städte
       Italiens werden. „Smart City“ nennt Buonamano das. Unsichtbar für die
       Besucher wird der Stadtkern auch unterirdisch umgekrempelt, werden Tunnel
       gezogen, in denen alle Versorgungsleitungen oder Glasfaserkabel verlaufen
       werden. L’Aquila wird eine der ersten fünf italienischen Städte sein, in
       denen die „5G“-Technik – superschnelles Internet – zum Einsatz kommt.
       
       Modernste Technik hinter mittelalterlichen Fassaden, dazu die Synergien mit
       der Universität: Buonamano glaubt, dass L’Aquila beste Chancen hat,
       Start-ups anzulocken und so die Innenstadt zu neuem Leben zu erwecken. Noch
       stehen viele der restaurierten Gebäude leer, noch gehen abends in den
       wenigsten Wohnungen Lichter an. Doch schüchterne Zeichen der Wiederbelebung
       sind da.
       
       Marco zum Beispiel, 24, hat vor ein paar Wochen seinen Laden am Corso
       Vittorio Emanuele eröffnet. Unter den strahlend weißen Gewölbedecken bietet
       er Markenjeans und Shirts zum Verkauf an, und er ist optimistisch. Der Bau
       gleich gegenüber ist noch komplett eingerüstet. „Doch in zwei Jahren“,
       meint Marco, „wird das hier eine der schönsten Städte ganz Italiens.“
       
       7 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Braun
       
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