# taz.de -- Tourismus in den Abruzzen: Verletzt, aber vital
       
       > Die italienische Erdbebenregion ist zu schön, um vom Tourismus und von
       > der Welt verlassen zu werden. Sie ist Wander- und Skigebiet.
       
 (IMG) Bild: Im Erdbebengebiet in den Abruzzen
       
       Auf den engen Wegen von Alba Fucens tritt man auf Gänseblümchen. Nur ein
       Teil der antiken Stadt wurde bislang ausgegraben, viel Unentdecktes steckt
       noch im Wiesenboden. Der Ort ist ein Naturidyll mit antiker Kulisse. Die
       Säulen des Herkulestempel ragen in einen azurblauen Himmel. Der Blick fällt
       auf grüne Wiesen und verschneite Bergspitzen. Die Luft prickelt. Hier atmet
       man Sauerstoff pur.
       
       Doch komischerweise stehen wir allein in diesem Paradies. Unsere Stimmen
       hallen unheimlich in dem enormen Amphitheater. Dabei ist es ein sonniger
       Samstag im März – ideal für Urlauber aus der Stadt, die Sonne tanken oder
       noch ein letztes Mal auf die Skipiste wollen. Nur zehn Kilometer entfernt,
       oben in den Bergen, liegt der Ausflugsort Ovindoli. Dort brechen an den
       Wochenenden die römischen Touristen ein.
       
       Im Winter die Skifahrer, im Sommer die Wanderer. Auf der Autobahn dauert
       die Fahrt von Rom bis Avezzano nicht mehr als eine Stunde. Danach geht es
       auf kurvigen Straßen in die Höhe. Alba Fucens, die größte altrömische
       Ausgrabungsstätte der Region, liegt direkt auf der Route der Bergurlauber.
       40.000 Besucher kommen jedes Jahr. Angeblich. Heute steht auf dem Parkplatz
       nur ein einziges Auto. Unseres.
       
       Wir steigen ein und fahren weiter in Richtung Ovindoli. Das Dorf liegt in
       der apenninischen Bergkette des Sirente-Velino, einem von vier
       Naturschutzparks in den Abruzzen. Keine andere Region Europas kann so viel
       geschütztes Grüngebiet mit Bergen, Wald und Wiesen vorweisen. Mit den
       Umbriern teilen sich die Abruzzer die Auszeichnung, die schönsten
       Burgdörfer Italiens zu haben. Und gesund sind sie auch. Nirgendwo in
       Italien erkranken die Menschen so selten an Krebs wie in dieser Gegend
       zwischen den Städten L’Aquila und Pescara, zwischen Bergketten und 130
       Kilometer Meeresküste.
       
       ## Nur schlechte Nachrichten
       
       Seit 2009 taucht die Region nur noch in schlechten Nachrichten auf. Wer
       heute Abruzzen sagt, meint Erdbeben. 2009 zerstörten heftige Erdstöße die
       Stadt L’Aquila und Umgebung. Es starben 308 Menschen, 65.000 wurden
       obdachlos. Im August 2016 vernichteten Beben in Mittelitalien mehrere
       Dörfer und kosteten weitere 295 Menschenleben. Die letzte Katastrophe
       ereignete sich im Januar dieses Jahres, als im Bergdorf Farindola 29
       Menschen von einer durch ein Erdbeben ausgelösten Schneelawine unter einem
       Hotel begraben wurden. Seitdem ist die Gegend für den Tourismus eine
       No-go-Zone geworden.
       
       Das spürt man auch in Ovindoli, obwohl der Ort auf der anderen Seite des
       Apennins liegt. Die Schneedecke ist hier geschlossen. Am Monte Magnola sind
       die Skilifte auch im März noch in Betrieb. Doch auf der Piazza im Dorf, wo
       sonst an einem Skiwochenende die Busse dicht aneinandergedrängt parken,
       steht nur ein Fahrer und raucht. Seine Fahrgäste sitzen drinnen in der Bar
       an Holztischen und nagen Arrosticini: zierliche Spießchen mit gegrilltem
       Hammelfleisch. Die sind eine Spezialität der Gegend, wo das Leben bis vor
       ein paar Jahrzehnten noch von den Weide- und Wanderungsgewohnheiten der
       Schafsherden abhing.
       
       Auch im Lebensmittelgeschäft I divini sapori dreht sich alles um Schafe und
       Ziegen. In der Theke liegen Käse jeden Alters, mit Kräutern gewürzt oder in
       Weinblätter gewickelt. Wir lassen uns Ziegengorgonzola auf eine mit
       Olivenöl beträufelte Brotscheibe legen und begutachten – mit unserer
       Köstlichkeit auf der Hand – das Regal mit hausgemachten Likören und
       Schnäpsen. Die Palette reicht von Enzian über Haselnuss bis Lakritze.
       
       ## No-go-Zone
       
       Doch die Geschäfte laufen schlecht, erzählt Gabriele Gemini, Ladenbesitzer
       und Mann hinterm Tresen. „Der Umsatz ist nach dem Lawinenunglück in
       Farindola eingebrochen. Die Leute haben Angst“, erklärt er. Deshalb seien
       die Parkplätze leer, die Restaurants und die Hotels. Gemini selbst kann
       sich Angst nicht leisten. Er und seine Familie haben seit Generationen
       gelernt, mit der Ungewissheit zu leben. „Sonst würde man ja verrückt
       werden“, sagt er.
       
       Die Abruzzer sind zwar nicht verrückt geworden, aber viele sind
       traumatisiert. Manche trauen sich nicht mehr zu duschen, aus Angst, bei
       einem Beben auszurutschen. Andere schlafen nur noch bekleidet. Ganz zu
       schweigen von jenen, die Tote zu beklagen haben oder aus ihren zerstörten
       Wohnhäusern ausziehen mussten. Viele warten in Behelfsunterkünften seit
       Jahren auf die Rückkehr in das zerstörte Stadtzentrum von L’Aquila oder
       einen anderen Heimatort, der vielleicht nie wieder aufgebaut wird. Die
       Hilfe für die Erdbebenopfer kommt immer langsamer und ausgedünnter als
       versprochen. Viele Gelder versickern in undurchsichtigen Kanälen.
       
       Wir nehmen die Landstraße in Richtung L’Aquila. Hier ist keine Zerstörung
       zu sehen. Die Landschaft ist schön und schroff wie immer. Wir fahren vorbei
       am Skigebiet Campo Felice, wo der Betrieb zu laufen scheint. Kaum zu
       übersehen sind allerdings die großen Verkaufsschilder auf den geschlossenen
       Hotels entlang der Straße. Vor zehn Jahren haben alle auf den boomenden
       Tourismus gesetzt. Dieser Traum ist nun geplatzt. Die Medien kolportieren
       Bilder von Schutt und Zerstörung.
       
       ## Das Essen ist so gut wie früher
       
       Das ärgert Piermichele Sciassa, Chef des Restaurants Macondo. „Wer will
       da noch Urlaub machen?“, fragt er und zuckt die Schultern. Manchmal denkt
       er daran aufzugeben, aber dann hält er doch immer wieder durch. Früher war
       sein Macondo das Zentrum des Lebens in Collimento, einem Weiler der
       Gemeinde Lucoli am Fuß des Monte Orselli, etwa fünfzehn Kilometer von
       L’Aquila entfernt. In seiner Bar auf der kleinen Piazza traf man sich
       morgens auf einen Kaffee oder um Zigaretten zu kaufen. Im Sommer saßen
       Einheimische und Urlauber draußen unterm Baum bei hausgemachten Maccheroni
       und Wein. Oft hielten Vorbeireisende an.
       
       Seit dem großen Erdbeben von 2009 sind das Restaurant und seine Wohnung
       nicht mehr zugänglich. Piermichele ist in ein anderes Lokal etwas außerhalb
       umgezogen. Es liegt direkt an der Straße, die von den Bergen nach L’Aquila
       führt. „Unser Leben hat sich vollkommen verändert“, sagt er. Zwar schmecken
       Wildschweinragout, Arrosticini und Polenta im neuen Macondo immer noch so
       gut wie früher, aber es war etwas anderes, der Mittelpunkt im Dorf und
       nicht nur ein Restaurant zu sein. Das ist ungewohnt – nicht nur für die
       Gäste, sondern vor allem für den Wirt und seine Familie.
       
       Zu Piermicheles treuen Gästen gehören der Maler und Bildhauer Lorenzo Bruno
       und seine deutsche Frau Brigitte. Die beiden sind vor zwanzig Jahren von
       Rom nach Collimento gezogen und haben ein mittelalterliches Steinhaus
       renoviert. Sie arbeitete von hier aus weiter als Sekretärin eines
       amerikanischen Managers der Computerbranche, er richtete sich endlich ein
       großes Atelier ein. Den beiden genügte das soziale Leben im Dorf. Immerhin
       gab es Internet, und oft kamen die Freunde aus Rom zu Besuch.
       
       Das große Erdbeben hat an ihrem Haus keinen Schaden verursacht. „Bei uns
       ist nur eine Tasse aus dem Regal gefallen“, erzählt Lorenzo Bruno, nicht
       ohne Ironie. Das Ehepaar gehört zu den wenigen Bewohnern des gefährdeten
       Gebiets, die ihr Haus erdbebensicher umgebaut haben. Hätten es ihnen mehr
       Abbruzzer gleich getan und wären sie dabei vom Staat und den lokalen
       Institutionen unterstützt worden, könnten die Erdstöße weniger Tod und
       Zerstörung anrichten.
       
       ## Korruption beim Bau
       
       Denn es sind nicht nur Schicksalsschläge, sondern vor allem
       Naturereignisse, die immer wieder stattfinden. Und die ersten Gebäude, die
       bei Erdbeben oder auch starken Regenfällen zusammenbrechen oder einfach
       abrutschen, sind jene, die illegal – meist mit minderwertigem Material und
       auf unsicherem Gelände – gebaut wurden. Die Staatsanwaltschaft untersucht
       derzeit, ob dies auch bei dem Hotel Rigopiano in Farindola der Fall war.
       
       In Italien gab es in den vergangenen 16 Jahren 110 Erdbeben. Aber erst seit
       2009 werden Baumaßnahmen zur Erdbebensicherung vom Staat bezuschusst.
       Nach Schätzungen würde es rund 36 Milliarden Euro kosten, 70 Prozent der
       insgesamt 32 Millionen nicht gesicherten Gebäude in Italien zumindest
       bautechnisch zu schützen. Das wäre wirtschaftlich lohnender, als immer
       wieder die Schäden zu reparieren. Allein die Bauschäden des Erdbebens vom
       24. August 2016, das in Mittelitalien gewütet hat, beziffert der
       italienische Zivilschutz in seinem Bericht an die EU-Kommission auf 23,5
       Milliarden Euro.
       
       Die Eheleute Bruno haben alles richtig gemacht. Aber jetzt leben sie in
       einem Geisterdorf. Die Häuser um sie herum sind verlassen. Die Dorfbewohner
       sind in die Holzhäuser eingezogen, die 2009 am Ortsrand aufgebaut wurden,
       und dort leben die meisten noch immer. Nur die herrschaftlichen Palazzi, wo
       einst der Landadel residierte, sind schon renoviert. Aber immerhin
       funktioniert noch die alte „caseificio“, die Käserei, wo man den besten
       Ricotta der Gegend und auch sonst noch ein paar Lebensmittel kaufen kann.
       
       ## Knallrote Flussgarnelen
       
       „Wir fühlen uns nicht einsam. Wir haben die Einsamkeit hier ja auch
       gesucht“, sagt Brigitte Bruno-Stratmann. Von ihrem Schlafzimmer aus schaut
       sie direkt auf den karg bewachsenen Berg. Weder Häuser noch Straßen stören
       den Blick. Sie kümmert sich um die streunenden Hunde im Dorf. Sieben davon
       hat Brigitte bei sich aufgenommen. Ihr Mann Lorenzo renoviert gerade eine
       Wohnung mit kunstvollen Kacheln und Wanddekorationen. Das Leben geht
       weiter.
       
       Und die beiden gehen auch immer noch auf Entdeckungstour in der Umgebung.
       Morgen planen sie eine Tour nach Capestrano, wo der Nationalpark des Gran
       Sasso beginnt. Dort gibt es Flussgarnelen, die knallrot und dampfend auf
       den Tisch kommen, und Safranfelder, die im Herbst fliederfarben blühen.
       Auch in diesem Jahr. Bestimmt.
       
       25 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michaela Namuth
       
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