# taz.de -- Perspektivlose Jugendliche in Bolivien: Theater gegen häusliche Gewalt
       
       > Gewalt prägt den Alltag vieler Jugendlicher in El Alto. In der Schule ist
       > kein Platz für kritische Gesellschaftsthemen – dafür in einem
       > Kulturzentrum.
       
 (IMG) Bild: Erst trinken die Männer, dann schlagen sie Frau und Kinder: Szene aus einem Theaterstück in El Alto
       
       El Alto taz | Neben dem Eingang des Kulturzentrums „Casa de la Solidaridad“
       hängt eine eindrückliche Warnung: eine aufgeknüpfte Puppe am Strommast,
       darunter prangt auf der Backsteinwand „Von den Nachbarn überwachte Zone“.
       
       Federico Chipana sieht den fragenden Blick, zuckt mit den Schultern und
       öffnet die Tür zum „Haus der Solidarität“im Stadtteil Villa Paulina. „Hier
       wird jeder Fremde argwöhnisch beobachtet. Die Leute in El Alto haben Angst
       um ihre wenigen Habseligkeiten und greifen schnell zur Selbstjustiz“, sagt
       der Sozialarbeiter entschuldigend über die Zustände in der in der
       zweitgrößten Stadt Boliviens und deutet auf zwei freie Stühle am Tisch in
       der Mitte des Raumes.
       
       Ein paar Jugendliche sitzen dort und basteln an Kostümen, andere feilen an
       den Dialogen eines Theaterstücks. Unter ihnen Camila Lisbet Mamani. Die
       16-Jährige ist Schülerin der benachbarten Unidad Escolar Los Angeles, einer
       großen weiterführenden Schule. Fast tausend SchülerInnen werden hier
       unterrichtet – die einen vor-, die anderen nachmittags. Die Schule liegt am
       äußersten Ende von El Alto, dort wo die Stadt langsam in den altiplano
       übergeht, eine graue, felsige Steppe auf bis über 4.000 Meter Höhe, die
       sich bis in die Nachbarländer Argentinien, Peru und Chile erstreckt.
       
       „Jede Familie hier hat einen Migrationshintergrund und die Zuwanderung hält
       an. El Alto ist die jüngste Stadt Boliviens. Erst vor 32 Jahren gegründet,
       hat sie wahrscheinlich schon die Eine-Million-Einwohner-Marke
       überschritten“, erklärt Federico Chipana. Er nimmt etwas von dem heißen
       Tee, der auf dem Tisch steht, und setzt sich zur Gruppe. Gemeinsam mit den
       Jugendlichen hat er in den letzten Wochen an dem Theaterstück über
       Jugendkultur, Perspektivlosigkeit und Gewalt gearbeitet.
       
       ## Omnipräsente Gewalt
       
       Camila Mamani gehörte zu den treibenden Köpfen der Gruppe: „Ich möchte mein
       Leben selbst gestalten, bin aber umgeben von Verboten und Drohungen. Das
       fängt mit den Puppen an, die an jeder Straßenecke hängen und Diebe warnen
       sollen, dass sie gehängt werden, wenn sie auf frischer Tat erwischt werden,
       und endet mit meinen Vater, der mich kaum vor die Tür lässt“, ärgert sich
       die junge Frau mit dem schwarzen Pferdeschwanz.
       
       Gewalt ist omnipräsent in El Alto – auf der Straße und in den Häusern. Vor
       allem mit der häuslichen Gewalt hat sich die zehnköpfige Theatergruppe
       beschäftigt. „Im Mittelpunkt steht das Verhältnis zwischen den
       Geschlechtern. Die Probleme beginnen in der Schule, wo schon 12- oder
       13-jährige Mädchen schwanger werden, und das nicht immer ganz freiwillig“,
       sagt Camila Mamani. Sie spricht schnell, rotzt die Worte genervt raus, weil
       ihr die Realität so gar nicht gefällt. „Alkohol und Gewalt sind ein Faktor,
       die fehlenden Jobs ein anderer. Viele von uns sind sich selbst überlassen,
       denn unsere Eltern begeben sich jeden Tag neu auf die Jagd nach den nötigen
       Bolivianos“.
       
       Boliviano heißt die nationale Währung, um die sich in El Alto alles dreht.
       Die Stadt, die auf einem Hochplateau über La Paz entstanden ist, galt lange
       als die Stadt der Armen, der Kriminellen, der Tagelöhner. Das hat sich in
       den letzten Jahren geändert, denn El Alto hat sich zur Handelsdrehscheibe
       gemausert, an Bedeutung gewonnen. Doch davon kommt in den Zuzugsvierteln
       wie Villa Paulina oder dem benachbarten San Luis de San Roque wenig an. Da
       sind die Strommasten erst vor ein paar Monaten gesetzt worden, viele der
       Häuser, die in aller Regel von Mauern umgeben sind, sind entweder noch
       nicht an das Wasser- oder das Abwassersystem angeschlossen. Das erschwert
       den Alltag, und exemplarisch für die misstrauische, gedämpfte Stimmung ist,
       dass wenig gelacht wird.
       
       ## Alternative Lebenswege aufzeigen
       
       „An der Schule versuchen wir gegenzusteuern“, sagt die Rektorin der Schule,
       Tania Ortega Morales. „Wir haben ein Gewächshaus aufgebaut, es gibt einen
       Hühnerstall und auch eine Nähwerkstatt. So versuchen wir den Kindern Werte
       und Perspektiven aufzuzeigen.“ Ortega Morales bemüht sich, andere Themen
       als den bloßen Unterrichtsstoff in die Schule zu tragen. Dazu arbeitet sie
       mit der Casa de la Solidarid zusammen.
       
       Heute ist sie mit einer Elternvertreterin gekommen, um mit Federico Chipana
       über das Theaterprojekt, den anstehenden Auftritt im Jugendgefängnis von La
       Paz und den in der Unidad Escolar Los Angeles zu sprechen. Im Lehrplan ist
       so ein Angebot nicht vorgesehen. Außerschulisches Engagement sei aber
       wichtig, um der nachwachsenden Generation alternative Lebenswege
       aufzuzeigen, mahnt die Pädagogin. „Die Regierung investiert zwar in die
       Bildung, baut neue Schulen, aber tut zu wenig für die Qualifikation von
       Lehrern wie Schülern“, sagt Tania Ortega Morales. Und fordert mehr
       Investitionen „in die Köpfe“.
       
       Aus dieser Perspektive trägt die Theater-AG bereits Früchte, denn die
       Auseinandersetzung mit der eigenen Realität hat dazu geführt, dass
       SchülerInnen wie Camila Mamani schon mal auf Stadtteiltreffen das Wort
       ergreifen und auf die Situation der Jugendlichen aufmerksam machen. „Außer
       der Casa gibt es nichts, wo wir Jugendlichen uns treffen, kreativ werden
       können. Wir leben in einem tristen Ambiente“, sagt die 16-Jährige und lädt
       die Anwesenden zum Spaziergang zur Schule. Vorbei geht es am neuen
       Spielplatz. Auch hier wird spielenden Kindern gedroht: Jeder Dieb wird
       lebendig verbrannt, haben Nachbarn an eine Wand gepinselt.
       
       ## Selbstjustiz unter dem Deckmantel indigenen Rechts
       
       Camila Mamani lehnt diese Form der Selbstjustiz ab: „Ich will Anwältin
       werden, mich für die Leute im Stadtteil engagieren, denn in einem
       funktionierenden Justizsystem passiert so etwas nicht“, sagt sie. Auf ein
       Stipendium hofft sie, weiß aber auch, dass ihr Vater sie beim Studium
       unterstützen würde. „Er ist ein Macho, führt sich zu Hause oft wie ein
       Pascha auf. Aber er hält nichts von Selbstjustiz unter dem Deckmantel des
       indigenen Rechts und er hat begriffen, dass Frauen in Bolivien nur eine
       Chance mit Bildung haben“, erklärt sie und blickt sich etwas unsicher um.
       So viel Persönliches gibt sie gegenüber Erwachsenen selten preis, verrät
       sie.
       
       Indigenes Recht ist in Bolivien seit 2010 legal, soll in der Praxis
       allerdings der Beilegung nachbarschaftlicher Streitigkeiten wie
       Landkonflikte und der Ahndung von Straftaten in indigenen Territorien
       dienen. Kapitaldelikte fallen eindeutig nicht darunter und das Lynchen
       ist in Bolivien eindeutig verboten, so die staatlichen Stellen. „Gleichwohl
       berufen sich die Leute in ländlichen Gebieten oft auf dieses Recht, ohne zu
       wissen, was die eigentliche Idee ist“, so Federico Chipana.
       
       Morales nickt zustimmend: „Wir werden das Thema Gewalt nach dem Auftritt
       der Theatergruppe hier bei uns diskutieren“, sagt sie und öffnet das Tor
       zum weiträumigen Schulhof. Der wird dominiert vom Sportplatz, der unter
       einem schattenspendenden Dach liegt, dahinter befinden sich die
       Schulgebäude und rechts davon die beiden Treibhäuser, wo Tomaten,
       Auberginen und Zucchini gezogen werden. Schmuck sehen auch die vor einem
       Jahr hinzugekommenen Schulgebäude aus. Doch die Rektorin lächelt nur schief
       und deutet auf einen Riss im Mauerwerk der Bibliothek und öffnet dann die
       Tür.
       
       Ein spärliches Regal befindet sich in der Mitte des Raumes, wo Eimer
       stehen, die das Regenwasser auffangen sollen, das durch das schadhafte Dach
       dringt. „Beim Bau wurde gepfuscht und bis heute warten wir auf die Bücher,
       die uns versprochen wurden. Wir brauchen einfach mehr Unterstützung“, klagt
       die Rektorin, schließt die Tür und verabschiedet sich von den SchülerInnen,
       der Elternvertreterin und Federico Chipana. Es ist Samstag – Zeit, sich um
       die Tochter zu kümmern.
       
       22 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Knut Henkel
       
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