# taz.de -- Die Vernichtung der polnischen Juden: Die Spuren des Verbrechens
       
       > Stephan Lehnstaedt erinnert in seinem Buch „Der Kern des Holocaust“ an
       > die Todeslager der „Aktion Reinhardt“ im deutsch besetzten Polen.
       
 (IMG) Bild: Die Nationalsozialisten versuchten das Verbrechen zu vertuschen, doch ein paar Erinnerungen an die Opfer gibt es noch
       
       Das Vernichtungslager Auschwitz steht in Deutschland sinnbildlich für den
       Massenmord an den Juden. Mehr als eine Million Menschen sind dort getötet
       worden. Sie kamen aus ganz Europa. Fast vergessen erscheint dagegen die
       „Aktion Reinhardt“, mit der die Nationalsozialisten die polnischen Juden
       ermordeten. Bis zu zwei Millionen Menschen starben größtenteils in den
       Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka; Ortsnamen, die heute in
       Vergessenheit zu geraten drohen.
       
       Dem Historiker Stephan Lehnstaedt ist es zu verdanken, dass es nun endlich
       ein kompaktes und kompetentes Überblickswerk über die „Aktion Reinhardt“
       gibt – trotz einiger sachlicher Fehler. Sein Buch „Der Kern des Holocaust“
       umfasst dabei nicht nur die Lagergeschichte, sondern geht auch auf die
       Anfänge der NS-Verfolgungen in Polen und die Nachkriegszeit ein.
       
       Die drei Vernichtungslager stehen für ein fast perfektes Verbrechen, bei
       dem es lediglich 150 Überlebende gab. Bełżec, Sobibór und Treblinka, das
       waren „Gaskammern mit Gleisanschluss“, einzig zu dem Zweck errichtet, in
       möglichst kurzer Zeit eine möglichst große Zahl von Menschen umzubringen.
       Es gab dort keine Selektion zur Zwangsarbeit wie in [1][Auschwitz]: Bis auf
       wenige hundert sogenannte Arbeitsjuden, die in den Lagern zu Hilfsdiensten
       gezwungen wurden, konnte niemand den Gaskammern entkommen. Und auch kaum
       einer der Sklavenarbeiter überlebte.
       
       So konnten nach dem Krieg nur einige Frauen und Männer von dem berichten,
       was in den Lagern geschehen war. Die Nazis hatten zuvor akribisch dafür
       gesorgt, dass kaum Spuren ihrer Verbrechen übrig blieben. Nur eineinhalb
       Jahre, beginnend 1942, reichten aus, um dort den größten Teil der
       polnischen Juden umzubringen; es starben dort aber auch Deportierte aus
       Deutschland, Österreich, Frankreich, den Niederlanden und weiteren Ländern.
       Danach ließ die SS alle Gebäude niederreißen und pflanzte dort Bäume –
       nichts sollte an das Verbrechen erinnern. Es sind keine Baupläne erhalten,
       es existieren kaum schriftliche Unterlagen – der leitende Massenmörder, SS-
       und Polizeiführer Odilo Globocnik hinterließ kaum mehr als die Asche der
       Verbrannten.
       
       Und: Das SS-Personal bestand in den Lagern nur aus jeweils gut 20 Mann, die
       eigentliche „Arbeit“ erledigten „Hilfswillige“, meist ukrainische
       Kriegsgefangene, die in Schnellkursen zu Massenmördern ausgebildet worden
       waren. Es handelte sich, so Lehnstaedt, um eine „arbeitsteilige
       Kollektivtat mit einer kleinen Kerngruppe überzeugter Fanatiker“.
       
       ## Doch kein perfektes Verbrechen
       
       Andererseits: An der Organisation der „Aktion Reinhardt“ waren Zehntausende
       Menschen beteiligt, nicht nur SS und „Hilfswillige“, sondern auch die
       deutsche Zivilverwaltung, polnische Polizei, Eisenbahner und andere.
       Wehrmachtsangehörige wussten ebenso von den Vergasungen wie polnische
       Zivilisten, die in den Regionen um die Lager wohnten. Nicht wenige von
       ihnen durchwühlten nach der Befreiung das Gelände auf der Suche nach
       Hinterlassenschaften der Opfer. So war es, trotz aller Geheimhaltung, doch
       kein perfektes Verbrechen.
       
       Lehnstaedt ist ein Buch gelungen, das nicht nur faktenreich in die
       Geschichte dieses Massenverbrechens einführt. Der Autor, Professor für
       Holocaust-Studien in Berlin, geht auf die Vorgeschichte ein, als die
       polnischen Juden von den Nazis in Ghettos konzentriert wurden. Er schreibt
       über die deutschen Täter, die größtenteils zuvor bei den
       „Euthanasie“-Morden an Behinderten im Reich entsprechende Erfahrungen
       gesammelt hatten. Vor allem aber erinnert Lehnstaedt mit vielen Zitaten an
       die Opfer.
       
       „Bilder des Horrors, den ich erlebt habe, verfolgen mich. Wach und
       schlafend hörte ich das Jammern der gequälten Opfer. Und die Schreie der
       Kinder. Und das Heulen des Motors [bei den Gaskammern]“, schreibt Chaim
       Hirszman über Bełżec.
       
       Lehnstaedts Buch enthält keine steilen Thesen. Er erinnert zu Recht daran,
       dass der Holocaust keiner wirtschaftlichen Logik folgte, sondern
       ideologisch gesteuert war. Er will keine Kontroversen auslösen, sondern
       sachlich informieren. Das ist wertvoller als so manche Studie bekannterer
       Forscher. Eine banale Erkenntnis: Wissenschaftler sind nicht unfehlbar.
       Lehnstaedts Buch, so kenntnisreich es auch geschrieben ist, enthält
       allerdings einige Unstimmigkeiten, die schon erstaunen. Dass der Titel
       „Gerechte unter den Völkern“ von der Gedenkstätte Yad Vashem nicht schon
       seit 1948 verliehen wird, mag unwichtig erscheinen. Dass im
       Anmerkungsverzeichnis das erste Kapitel umstandslos, aber ohne einen
       Hinweis der Einleitung zugeordnet wird, verwundert allerdings.
       
       Wirklich nachlässig wirkt es aber, wenn der Autor behauptet, [2][Iwan
       Demjanjuk], einer der ukrainischen Helfer in Sobibór, sei 2011 in München
       zu lebenslanger Haft verurteilt worden, während er zuvor richtig schreibt,
       dieser sei wegen Beihilfe zum Mord angeklagt worden. Eine lebenslängliche
       Verurteilung wäre bei einer solchen Anklage gar nicht möglich. Tatsächlich
       erhielt Demjanjuk eine fünfjährige Haftstrafe.
       
       16 Jul 2017
       
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