# taz.de -- Debatte Schulz ohne Chance: Die Rakete ist nur ein Kracher
       
       > Für Martin Schulz ist Gerechtigkeit Kalkül – an der Verachtung
       > Arbeitsloser und Armer will er nichts ändern. Was für eine Enttäuschung!
       
 (IMG) Bild: Krach im Schulz-Zug
       
       Die Schulz-Rakete stürzt und schafft es nicht, wieder zu steigen. Woran
       liegt das? Möglicherweise war die Euphorie anfangs so groß, weil sich viele
       eine alte SPD ersehnen, eine, die es ernst meint mit der Gerechtigkeit. Und
       Schulz spricht viel von Gerechtigkeit, auch beim Parteitag am Sonntag. Wie
       in einer kriselnden Beziehung wird die große Geste des Partners (hier:
       Martin Schulz) bereitwilligst angenommen, die Hoffnung beim zuletzt der
       Partei entfremdeten Wählern blüht.
       
       Wenn sich aber dann zeigt, dass diese Geste nur ein Instrument war, das den
       Partner ruhigstellen sollte, ist die Enttäuschung groß. Bei Schulz wird das
       dann deutlich, wenn von ihm die üblichen Politikersprüche zu hören sind,
       denen niemand widersprechen kann, weil sie nur das Offensichtliche sagen,
       wie: Wer hart arbeitet, soll davon auch im Alter ordentlich leben können.
       
       Die Austauschbarkeit solcher Aussagen ist der Kern des weit verbreiteten
       tiefen Misstrauens gegenüber der Politik. Politikergeschwätz dieser Art
       gehört sich vor allem nicht, wenn es um Gerechtigkeit geht, denn diese ist
       für die meisten Menschen ein Herzensthema: Im Alltagsleben, in Beziehungen,
       Freundschaften, bei der Arbeit, überall spielt sie eine entscheidende
       Rolle. Reihen von Sozialexperimenten haben gezeigt, dass Menschen sich
       Gerechtigkeit sehr viel kosten lassen. Eine Allensbach-Umfrage von 2010
       belegt, dass 79 Prozent der Deutschen soziale Gerechtigkeit besonders
       wichtig ist.
       
       ## Geschwätz beim Herzensthema
       
       Gerechtigkeit und Kalkül widersprechen sich aber. Wer nur nach
       Wählerstimmen schielt, der erntet Misstrauen. Das gilt gerade für die SPD,
       deren Zustimmungswerte eingebrochen sind, als Schröder die Agenda 2010
       durchgesetzt hat. Mit dieser wird und wurde Arbeitslosen wieder und wieder
       vermittelt, sie seien faul und egoistisch. Die SPD nährte und nutzte zu
       dieser Zeit massiv Ressentiments gegen Arbeitslose. Schröder erklärte
       damals, es gäbe „kein Recht auf Faulheit“. Solche Vorwürfe wurden damals
       auch von Kampagnen der Bild-Zeitung mitgetragen – diese hetzte mit Titeln
       wie „Deutschlands frechster Arbeitsloser“ und „Sozialamt zahlt sogar die
       Putzfrau“. Das himmelschreiend Ungerechte ist, dass damit den Ärmsten
       unserer Gesellschaft die Schuld für ihre Armut unterstellt wird.
       
       Ein Unsinn, sind doch kapitalistische Wirtschaften schließlich nicht
       organisiert wie eine WG-Küche, wo die einen die Faulheit der anderen
       ausbaden müssen. Wenn nämlich die etwa 700.000 offenen Stellen von den 3,7
       Millionen Arbeitslosen (unbereinigte Statistik) abgezogen werden, bleiben
       immer noch 3 Millionen fehlende Stellen. Die Verhältnisse sind es, die
       Arbeitslosigkeit erzeugen, und nicht die Arbeitslosen. Das heißt nicht,
       dass es keine faulen oder egoistischen Arbeitslosen gäbe, denn Arbeitslose
       sind Menschen, und unter Menschen gibt es eben egoistische und faule. Aber
       ist es gerecht, alle zu bestrafen, um einige zu treffen?
       
       Genau das wurde mit der Agenda 2010 getan. Es ist zwar eine gute Sache,
       diejenigen, die „hart arbeiten“, anzusprechen, wie es Martin Schulz tut,
       denn harte Arbeit sollte auch entsprechend entlohnt werden. Aber warum
       sollen Arbeitslose kein Recht auf Gerechtigkeitsgefühle haben? Jobangebote,
       die abgelehnt werden, werden meist darum abgelehnt, weil sie schlecht sind.
       Ein fairer Deal entsteht dann, wenn beide Seiten in etwa gleich stark sind
       und so ihre Bedürfnisse geltend machen können. Die Agenda 2010 hat dieses
       Machtverhältnis krass verschoben und die sogenannte „Arbeitnehmerseite“
       dieses Deals geschwächt. Sie hilft Unternehmen dabei, egoistische und
       unfaire Deals abzuschließen, und das auf dem Rücken der Arbeitenden.
       
       Statt Exkanzler Schröder auf ihrem Parteitag zu beklatschen, müsste die SPD
       sich viel mehr von ihm und seiner Agenda abgrenzen, will sie im
       Wahlkampfjahr 2017 als Verteidigerin der Gerechtigkeit ernst genommen
       werden. Wenn mit dieser Abgrenzung auch noch ehrliche und kluge
       Verbesserungsvorschläge verbunden wären, könnten Agenda-enttäuschte Wähler
       ihr vielleicht verzeihen. Sie könnten sich sagen, dass die Sozialdemokraten
       eben der neoliberalen Ideologie aufgesessen ist, die damals fast das
       gesamte öffentliche Denken beherrscht hat. Diese Ideologie, die besagt,
       dass immer und immer weiter die Unternehmerseite gestärkt werden muss und
       dass dann alles gut wird, hat sich ja inzwischen als giftiger Käse
       herausgestellt. Nach Jahrzehnten des Neoliberalismus stehen Teile der Welt
       in Flammen und der Rest glüht. Und wenn Deutschland gerade wirtschaftlich
       gut dasteht, dann wegen der auch durch die Agenda 2010 erreichten
       Dumpinglöhne, mit deren Hilfe Europa totexportiert wird. Deutschland ist
       ein Trittbrettfahrer der europäischen Ungleichheit.
       
       ## Beschimpfung der Schwachen
       
       Heute häufen sich Studien, die zeigen, dass große Ungleichheiten schlecht
       und soziale Sicherheit gut für die Wirtschaft sind. Daher auch die
       Forderungen des Internationalen Währungsfonds, Deutschland solle die
       Vermögen gerechter verteilen. Aber selbst wenn das nicht so wäre: Eine
       Agenda auf den Rücken der Schwächsten durchzuziehen und diese dann noch als
       faul zu beschimpfen, lässt sich nicht rechtfertigen.
       
       Wenn Schulz mit seinen Forderungen nur die anspricht, die sich krumm
       geschuftet haben, bleibt er am Ende doch bei der Erzählung der faulen und
       egoistischen Arbeitslosen. Ihm geht es also zuallererst um Stimmen. Statt
       der Gruppe der Arbeitslosen die Fehler Einzelner vorzuwerfen und sie als
       Sündenböcke zu benutzen, wie es immer und immer wieder getan wird, sollte
       gerade eine SPD die Verhältnisse benennen und angreifen, die Armut
       erzeugen, obwohl genug für alle da ist.
       
       Das funktioniert bei Jeremy Corbyn wie bei Bernie Sanders. Sanders ist der
       beliebteste Politiker der USA, weil er es ganz offensichtlich ernst meint:
       Er schwenkt nicht bei schlechten Umfragewerten auf das Thema innere
       Sicherheit oder Europa um wie ein Schulz. Stattdessen kämpft er schon sein
       Leben lang zornig für Gerechtigkeit und Freiheit. Genau diese Integrität
       fehlt der SPD und sie fehlt auch Martin Schulz. Und genau das ist der
       Grund, warum die Schulz-Rakete nicht fliegen kann.
       
       4 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Houssam Hamade
       
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