# taz.de -- Pfarrerin für 19 Dörfer in Brandenburg: Auf sehr weitem Raum
       
       > In Brandenburg sind neunzehn Dörfer zu einer Riesengemeinde
       > zusammengefasst worden. Kann man da seine Schäfchen beisammen halten?
       
 (IMG) Bild: Immerhin: Wenn sie mal da ist, kommen die Gläubigen auch
       
       Die Bibel hält selbst für eine Pfarrerin in einem der säkularisiertesten
       Landstriche der Welt noch das passende Wort bereit. „Du stellst meine Füße
       auf weiten Raum“, heißt ein Vers aus dem 31. Psalm, der wie geschrieben ist
       für Ann-Katrin Hamsch. Denn der Raum, den die 38-Jährige durchmessen muss,
       um ihres Amtes zu walten, ist sehr groß – und die Zahl der Gläubigen wie
       auch die Zahl derer, die sie überdies noch erreichen könnte, ist sehr
       gering.
       
       „Gesamtkirchengemeinde Temnitz“ heißt das Gebilde, eine Mega-Gemeinde in
       Brandenburg, zu der 19 Dörfer mit 18 Kirchen gehören. Früher gab es überall
       einen Pfarrer, heute gibt es nur noch sie. In Nord-Süd-Richtung hat Hamschs
       Gemeinde eine Ausdehnung von 43 Kilometern, von Ost nach West sind es 25
       Kilometer. Hamsch fährt mit ihrem Auto rund 15.000 Kilometer im Jahr.
       
       Weite Wege, damit die Schäferin, die sie im theologischen Sinne ja ist,
       ihre Herde wenigstens ab und zu sehen kann, um Gemeinschaft zu erzeugen, da
       zu sein, christlichen Glauben erlebbar zu machen, so gut es eben geht.
       
       ## „Wer hier nicht Auto fahren kann, muss es lernen“
       
       Wichtiges Element: Geburtstagsbesuche, so wie an diesem Tag. Susanna
       Schebesch wird 72. Sie wohnt in Darritz vis-à-vis der Dorfkirche. Ein
       Besuch, sagt Hamsch, wie in anderer Zeit. Im Wohnzimmer mit Eichenmöbeln
       hat Schebesch Kuchen und Schnittchen aufgetischt, mit Frischhaltefolie
       abgedeckt. Die Pfarrerin überreicht einen Topf Stiefmütterchen und ein
       buntes Holzkreuz, kaum handtellergroß.
       
       Schebesch ist eine von denen, die wichtig sind in der großen Gemeinde,
       zupackend, präsent; sie schreibt, kräuterkundig wie sie ist, im
       Gemeindebrief über Heilkräuter, an der Kaffeetafel erzählt sie, wie sie
       „mit Gottes Hilfe“ und einem Tee ihre Herzprobleme gezähmt habe.
       
       In der seelsorgerischen Region „Walsleben – Kränzlin“, zu der die Dörfer
       Walsleben, Darritz-Wahlendorf und Kränzlin gehören, ist Schebesch eine Art
       Statthalterin. Hamsch braucht solche – im umfassenden Sinne –
       charismatischen Menschen für ihre Gemeinde, denn sie selbst ist ja nur
       selten da.
       
       Hamsch agiert wie ein mobiler Einkaufsladen, der von Dorf zu Dorf rumpelt.
       „Wer hier als Pfarrerin oder Pfarrer nicht Auto fahren kann“, sagt sie,
       „muss es lernen.“ Ein Kollege habe es vor Jahren einmal allein mit dem Rad
       versucht. Schnell schaffte er sich ein Auto an.
       
       In Schebeschs Wohnzimmer ist Hamsch beim Segen angekommen, den sie
       ausspricht, weil die Jubilarin selbst zum Segen für die Gemeinde geworden
       sei. Dann muss die Pfarrerin los, weiter ins Nachbardorf Walsleben.
       
       Wie empfindet sie es, dass sie nur punktuell bei ihren Gemeindemitgliedern
       sein kann, dass in manchen Dörfern wochenlang keine Gottesdienste
       stattfinden? Überraschend positiv ist die Antwort auf der Kreisstraße 6807.
       „Das ist ein großer Vorteil“, sagt sie, „dann kommen auch oft deutlich mehr
       als 20 Menschen in einem Gottesdienst, dann kann man gut zusammen singen,
       die Gemeinschaft spüren, und man hat als Christ nicht das Gefühl, der
       traurige Rest zu sein.“
       
       ## Ein Teil der Schulklasse war noch nie in einer Kirche
       
       In Walsleben warten vor der dortigen Kirche rund 20 Schülerinnen und
       Schüler der 6. Klasse einer örtlichen Schule mit ihrer LER-Lehrerin. Das
       Fach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ wurde nach der Wende
       1989/90 im neuen Bundesland Brandenburg eingeführt.
       
       Die Kinder strömen in die Kirche, deren Ursprünge um 1590 liegen. Etwas
       lieblos wirkt ihr Inneres, mit Bodenplatten, die besser zu einer Terrasse
       passen würden. Wenn man weiß, dass das Geld für die Renovierung vor allem
       aus Eigenmitteln der Gemeinde kurz vor dem Mauerfall zusammengekratzt
       wurde, hat die Schlichtheit etwas Rührendes.
       
       Die LER-Klasse hat sich vorbereitet – wohl nötig, denn ein paar von ihnen
       waren noch nie in einer Kirche. Ihre Fragen an die Pfarrerin sind so frei
       und weit wie der Himmel. Das Christentum scheint bald abgehakt. Was
       Hinduismus sei und warum muslimische Frauen oft Kopftuch tragen, wollen sie
       wissen. Religionskunde, ganz allgemein.
       
       Hamsch holt ihren schwarzen Talar hervor und fragt, was das sei: „Das zieht
       der an, der vor oder hinter dem Tisch steht“, ruft ein Junge mit dem Blick
       auf den Altar.
       
       Bald dürfen die Kinder den Turm besteigen und die Glocken bewundern, dürfen
       auf der Orgel klimpern – und im Gemeindesaal nebenan „die Kronjuwelen“, wie
       Hamsch sagt, sogar anfassen: eine goldene Taufschale von 1681 und einen
       Messbecher. Nach etwa anderthalb Stunden fragt die Pfarrerin: „Habt ihr
       noch Fragen?“ Kurze Stille. „Gibt es auch Wasser ohne Kohlensäure?“, sagt
       ein Junge.
       
       ## Das Volk Gottes organisiert seine Gemeinschaft selbst
       
       Im Auto zurück nach Hause erzählt Hamsch, dass sie die permanente
       Rumfahrerei nicht mehr belaste. Das sei auch eine Möglichkeit, zwischen den
       Terminen das Erlebte für sich zu verarbeiten.
       
       Den Religionsunterricht und die Konfirmationsarbeit übernehmen in Hamschs
       Gemeinde zwei Kollegen. Vor Ort, in den Gemeinden, ist nur sie. Das habe
       Vorteile: Man könne, der eigenen Neigung folgend, absprechen, wer welche
       Arbeit übernehme – so hat sie sogar eine Viertelstelle nur für die
       Pfadfinder-Arbeit, die ihr wichtig ist. Religion ist vielen fremd
       
       Die Gruppe, um die sie sich kümmert, wächst, darin liegt Zukunft. Und die
       Mega-Gemeinde habe auch für die Gläubigen einen Vorteil, sagt Hamsch. Sie
       seien nicht festgelegt auf den einen Pfarrer, die eine Pfarrerin, sondern
       könnten ansprechen, mit wem sie am besten könnten.
       
       Man kann den zunehmenden Pfarrermangel in der evangelischen Kirche als
       Seelsorge-Horror betrachten – oder nüchterner: In der Gesamtkirchengemeinde
       Temnitz ist der Abschied von der Pfarrerkirche zu studieren, die seit ein
       paar Jahrhunderten unser Bild von Kirche prägt. Befreiungstheologisch
       ausgedrückt: Das Volk Gottes organisiert seine Gemeinschaft selbst, der
       Pfarrer taucht nur noch gelegentlich auf. Das knüpft auch, gut evangelisch,
       an das von Luther betonte Priestertum aller Gläubigen an. Wenn auch aus der
       Not heraus.
       
       ## Die Kirchenrenovierung dient eher der dörflichen Identität
       
       Religion sei in vielen Familien so fremd, dass noch nicht einmal eine
       Sehnsucht danach aufkommen könne, sagt die Pfarrerin in ihrem Kränzliner
       Pfarrhaus, einem hellem Gebäude aus der Gründerzeit. „Für die sind Christen
       so weit weg wie für uns die alten Griechen.“ Das Pfarrhaus steht vor der
       Dorfkirche, der Kirche fehlt das Dach, weil zu DDR-Zeiten bei
       Renovierungsarbeiten ein Teil des Turms auf das Kirchenschiff krachte. „Aus
       Versehen“, angeblich.
       
       Das Gotteshaus verfiel, ehe nach der Wende ein Kirchbauverein gegründet
       wurde, um es irgendwie wieder nutzbar zu machen. In der Mark gibt es
       mehrere solcher Vereine. Es geht dabei oft weniger um das Gotteshaus als um
       die dörfliche Identität. Manche Kirchen-Neubauer waren früher überzeugte
       SEDler und setzen weiterhin nicht einen Zeh in ihre Dorfkirche, solange ein
       Gottesdienst läuft.
       
       Die Cabrio-Kirche Kränzlin, so ihr zärtlicher Spitzname, wird im Sommer
       gelegentlich an sonnigen Tagen für Open-Air-Gottesdienste genutzt. Und bei
       Fußball-Europa- oder Weltmeisterschaften als Ort des Public Viewing.
       Immerhin, sagt Hamsch, dann gebe es vor dem ersten Spiel der Meisterschaft
       eine Andacht in der Cabrio-Kirche.
       
       Beim Mittagsmahl im Pfarrhaus – Geschnetzeltes mit Nudeln, zubereitet von
       ihrem Mann – ein kleiner Test: Ob sie alle Dörfer ihrer Gemeinde aufsagen
       könne? „Frankendorf, Pfalzheim, Rägelin, Katerbow, Netzeband, Darritz,
       Walsleben, Kränzlin, Gottberg, Dabergotz, Werder, Kerzlin, Wildberg,
       Rohrlack, Vichel, Garz, Manker, Lüchfeld und Küdow“, zählt sie auf, nicht
       ganz wie aus der Pistole geschossen, aber fast. Es klingt wie eine ganze
       eigene Litanei.
       
       Am Nachmittag haben sich neben der Kirche in Walsleben die rund 25
       Pfadfinder der Gesamtkirchengemeinde um ein Lagerfeuer gehockt. Fast alle
       tragen die grünliche Kluft, auch die Pfarrerin.
       
       Sie versucht es ein wenig mit Katechese, was nicht schaden kann, denn auch
       bei christlich Interessierten ist viel religiöses Wissen nicht
       vorauszusetzen: „Was ist Konfirmation?“, fragt Hamsch. „Luther hat die
       Bibel ins Deutsche übersetzt“, sagt ein Pfadfinder. Er hat offenbar
       „Konfirmation“ und „Reformation“ verwechselt. Ann-Katrin Hamsch muss
       lächeln. Aber nur kurz.
       
       21 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Philipp Gessler
       
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