# taz.de -- Tauber Spitzensportler: Stark in der Stille
       
       > Ist es möglich, ohne Gehör Weltklassetennis zu spielen? Der Südkoreaner
       > Duck Hee Lee, 18, ist auf dem besten Weg dahin.
       
 (IMG) Bild: Duck Hee Lee 2015 bei den ITF Junior Masters in China
       
       Die Geschichte des südkoreanischen Tennis-Newcomers Duck Hee Lee wäre an
       sich schon bemerkenswert: Aufgewachsen in einem Land, das alles andere als
       der Nabel der Tenniswelt ist, aus dem sich noch nie eine Spielerin oder ein
       Spieler in den Top 30 platziert hat, schaffte Lee es bei den Junioren auf
       Rang 3 der Weltrangliste. Vor drei Jahren war das. In der Zwischenzeit hat
       er zehn Turniertitel bei den Future Series der Männer gewonnen und ist, mit
       gerade 18 Jahren, die Nummer 149 der Welt – bei den Profis.
       
       Kennt man die ganze Biografie des Duck Hee Lee, so ist dessen Werdegang
       fast sensationell. Denn Lee nimmt das gesamte Spiel völlig anders wahr als
       fast alle seine Kontrahenten. Das Zischen beim Schlagen, der Applaus, die
       Schritte, das Rutschen, das Geächze und Gestöhne auf dem Platz: für ihn
       existiert all dies nicht. Lee ist gehörlos, von Geburt an.
       
       Schon jetzt ist er der bislang erfolgreichste Spieler mit diesem Handicap
       im Tennis – und er steht ja erst am Anfang seiner Karriere: „Wie es sich
       wohl anfühlt, einen Grand-Slam-Titel zu holen? Ich glaube, wenn ich so
       weitermache, kann ich eines Tages ein großes Turnier gewinnen“, schreibt er
       in einem Interview via Mail. Tennis sei seine große Passion – daneben
       existiere für ihn kaum etwas anderes.
       
       Von kommender Woche an nimmt der nur 1,75 Meter große Lee bei den
       Australian Open einen weiteren Anlauf, das Hauptfeld eines
       Grand-Slam-Turniers zu erreichen. Vergangenes Jahr ist er dreimal in der
       Qualifikation gescheitert, zuletzt aber zeigte die Formkurve nach oben: Lee
       stand in der zweiten Saisonhälfte 2016 bei vier Challenger-Turnieren im
       Halbfinale, bei einem im Finale.
       
       Lees Erfolg wirft eine grundsätzliche Frage auf: Ist es möglich, die
       Weltspitze im Tennis zu erklimmen, ohne Klänge wahrzunehmen?
       
       ## Das Geräusch des Balls
       
       Andy Roddick, ehemalige Nummer 1, sagte einmal während eines
       Wimbledon-Turniers: „Ich glaube, man muss den Ball klar hören können, um
       Höchstleistungen zu bringen. Der Sound, wenn der Gegner den Ball trifft,
       gibt dir die erste Information darüber, wie der Ball kommt – noch bevor du
       den Ball siehst.“ Spitzenspielerinnen von einst und jetzt wie Martina
       Navratilova und Andy Murray äußerten sich ähnlich. Der Heidelberger
       Sportwissenschaftler Michael Müller, der seine Diplomarbeit über das
       Tennistraining für Gehörlose schrieb, sagt: „Für uns hörende Spieler
       scheint der Klang beim Schlagen unverzichtbar. Ob es ein Top-Spin, ein
       Slice oder ein Rahmentreffer ist – all das nehmen wir ja akustisch wahr.
       Selbst das Rutschen des Spielers auf einem Ascheplatz kann uns etwas über
       die Bewegung des Gegners verraten.“
       
       Lee kommt ohne all dies aus. Wie macht er das?
       
       Duck Hee Lee ist 1998 geboren und in Jecheon groß geworden, einer kleineren
       Großstadt ziemlich genau in der Mitte Südkoreas. Er entwickelt sich anders
       als die anderen Kinder. Die Eltern rätseln, warum. Erst, als er zwei ist,
       lassen sie ihn in einem Seouler Krankenhaus durchchecken. Ergebnis: Das
       Kind ist komplett taub.
       
       Lee besucht zunächst eine Schule für Menschen mit Beeinträchtigung – davon
       abgesehen sorgen seine Eltern aber dafür, dass er so normal wie möglich
       aufwächst. Dazu gehört vor allem für den Vater, ehemaliger
       Leistungssportler im Schwimmen, Bewegung und Sport. Durch seinen Cousin
       entdeckt Lee dann mit sieben Jahren das Tennisspielen – die Eltern
       ermutigen ihn, es selbst zu probieren. Cousin Chunghyo Woo wurde so zu Lees
       Trainer – und ist es bis heute.
       
       ## Lippen lesen
       
       Das größte Problem für gehörlose Sportler ist die Kommunikation mit
       Trainern, Mitspielern und Schiedsrichtern. Lee hat früh gelernt Lippen zu
       lesen. „Absehen“ nennen die Gehörlosen das. Damit können aber in der Regel
       nur 30 Prozent des Gesagten eins zu eins verstanden werden. Gebärdensprache
       nutzt Lee nicht. Weil sein Coach Woo ihn aber von Kindesbeinen an kennt,
       ist die Verständigung mit ihm eingespielt: „Vor dem Training sprechen wir
       immer das gesamte Programm für die Einheit durch. Auch zwischen den Übungen
       sprechen wir uns ab.“
       
       Bei den Turnieren gibt es dagegen Probleme. Standardzeichen oder Gesten für
       Gehörlose kennen die Schiedsrichter im Profitennis nicht, so muss Lee sich
       individuell mit jedem Unparteiischen absprechen, zur Not mit Händen und
       Füßen. „Schwierig ist es besonders bei Netzrollern, weil ich weder die
       Berührung des Netzes noch den Ruf des Schiedsrichters wahrnehme. Manchmal
       glaube ich dann, mein erster Aufschlag sei im Aus gewesen. Ein echter
       Nachteil.“ Seine eigene Performance hat sein Handicap seines Erachtens
       jedoch nie beeinflusst.
       
       Wie gut Gehörlose im Leistungssport inkludiert werden können, ist von
       Sportart zu Sportart unterschiedlich. „In Schwimm- oder Laufwettbewerben
       kommt es zum Beispiel auf jede Millisekunde, auf jeden Zentimeter an. In
       diesen Disziplinen kann es keine Inklusion geben, denn der Gehörlose ist
       auf optische Signale angewiesen – somit ist seine Reaktionszeit beim Start
       viel langsamer bei einem Hörenden“, sagt Petra Brandt, Vizepräsidentin des
       Deutschen Gehörlosen-Sportverbands (DGS). Auf akustische Reize reagiert der
       Mensch schneller (140 Millisekunden) als auf visuelle (180 Millisekunden) –
       im Tennis wiegt dieser Nachteil offenbar nicht ganz so schwer. Und im
       Breitensport, so Brandt, sei Inklusion schon deshalb überall einfacher,
       weil der Leistungsgedanke nicht im Vordergrund stehe. Viele gehörlose
       Sportler seien in ganz „normalen“ Sportvereinen und in Klubs für Gehörlose
       zugleich (zum Gehörlosensport siehe Kasten).
       
       Oft haben Hörgeschädigte auch Schwierigkeiten die Balance zu halten und
       sind koordinativ nicht so stark – das liegt daran, dass das Ohr Hör- und
       Gleichgewichtsorgan zugleich ist. Lee hat von früh auf seine
       Körperwahrnehmung so gut trainiert, dass er es ausgleichen kann. In vielen
       Sportarten – auch im Tennis – tragen die Gehörlosen wegen dieser Nachteile
       eigene nationale und internationale Meisterschaften aus. Mit den
       Deaflympics gibt es zudem vierjährig Spiele für gehörlose Menschen.
       
       ## Die Bewegungen des Gegners
       
       Kompensieren können Gehörlose vor allem mit den anderen Sinnen – bei Lee
       gelingt dies unglaublich gut. „Gehörlose sind in der Regel visuell sehr
       stark, sie können sich zum Beispiel extrem gut Bilder einprägen“, sagt
       Sportwissenschaftler Müller. Das Gedächtnis für Muster und Bewegungen, so
       zitieren es Studien bis heute, ist bei ihnen besser als bei Hörenden. Für
       Lee ist das scharfe Beobachten des Spielverlaufs das A und O: „Ich verfolge
       die Bewegung des Gegners und die Flugkurve des Balles sehr genau und bis
       ins Detail. Vor und nach dem Spiel schaue ich mir sehr viele Videos von
       anderen Spielern an.“ Lee selbst agiert meist von der Grundlinie aus, seine
       Stärken sind eine wuchtige Vorhand, gute Länge in den Grundschlägen und ein
       trotz seiner geringen Körpergröße harter Aufschlag.
       
       Ohne frühe sportartspezifische Förderung, so Müller, sei eine Karriere wie
       jene Duck Hee Lees nicht denkbar. Gehörlose im Spitzensport sind auch bis
       heute eher Ausnahmeerscheinungen. Im American Football, Rugby und Boxen gab
       und gibt es prominente Beispiele – etwa Football-Spieler Derrick Coleman,
       der mit den Seattle Seahawks den Super Bowl gewann. Im Tennis sind Lees
       Erfolge bislang vergleichslos. Zu den erfolgreichsten gehörlosen Spielern
       hierzulande zählen derzeit Heike Albrecht, 26, und Urs Breitenberger, 29 –
       beide holten im Gehörlosentennis zahlreiche Titel, Breitenberger wird Mitte
       Januar dank einer Wildcard bei den Koblenz Open sein erstes ATP-Turnier
       spielen.
       
       Lee will bei den Profis ganz nach oben, irgendwann die Nummer 1 der Welt
       sein. Sein Karriereplan scheint schon jetzt darauf ausgerichtet: Ein
       Automobilhersteller sponsert ihn, Cousin und Coach Chunghyo Woo begleitet
       ihn das ganze Jahr über und hilft ihm auch bei der Kommunikation, einen
       Manager hat er ebenfalls. Ziel in diesem Jahr: „Einen Challenger-Titel
       holen und eine gute Tour spielen.“
       
       In seinem Heimatland gibt aktuell nicht nur Lee Anlass zur Hoffnung,
       sondern auch der zwei Jahre ältere Chung Hyeon, aktuell 104 der
       Weltranglisten. Der nationale Verband hofft nun auf einen Boom, sogar die
       Weltgruppe im Davis Cup, in der man seit 2008 nicht mehr war, scheint in
       Sicht. Für Lee ist die Konkurrenz zu Hyeon ein weiterer Ansporn – bei dem
       jüngsten Duell unterlag er ihm in zwei Sätzen.
       
       Seinen vermeintlich größten Nachteil deutet er ohnehin lieber in einen
       Vorteil um: „Weil ich nichts höre, kann mich voll und ganz aufs Spiel
       konzentrieren. Ich werde nicht so leicht abgelenkt wie andere Spieler.“ Bei
       dem Ehrgeiz, den Lee an den Tag legt, klingt das fast wie eine Drohung.
       
       7 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Uthoff
       
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