# taz.de -- Roman „Sphinx“ von Anne Garréta: An den Sprachgrenzen
       
       > Ein Liebesroman, der das Geschlecht der Liebenden nicht festlegt: Die
       > Autorin sucht den Bruch mit Gender als identitätsstiftender Kategorie.
       
 (IMG) Bild: Garrétas Experiment zeigt uns anhand der sprachlichen Grenzen unsere Wahrnehmungsgrenzen
       
       Die damals 24-jährige französische Autorin Anne Garréta war ihrer Zeit weit
       voraus, als sie 1986 ihr Debüt „Sphinx“ vorlegte. Das mag eine Erklärung
       dafür sein, warum rund 30 Jahre vergehen mussten, bis der Roman 2015
       zunächst in den USA herauskam und nun auch hierzulande zu haben ist. Für
       ihre Widmung griff die Autorin auch im Original auf die englische Sprache
       zurück: „To the third“ lautet sie prägnant und führt die Leser*innen in
       eine Liebesgeschichte, in der das Geschlecht der beiden Liebenden nicht
       offenbart wird.
       
       Garréta wagte ein literarisches Experiment, das zugleich, wie die
       Schriftstellerin Antje Rávic Strubel in ihrem Nachwort treffend schreibt,
       eine „politische Intervention“ ist. Zwar waren die achtziger Jahre auch
       eine Zeit, in der heftig über Frauen- und Männerbilder diskutiert wurde,
       doch die Idee, das (eindeutige) Geschlecht als vermeintlich unabdingbare
       identitätsstiftende Kategorie infrage zu stellen, ging weit darüber hinaus.
       
       Das tut Anne Garréta, wenn sie versucht, von zwei Menschen zu erzählen,
       ohne deren Geschlecht zu benennen; und darüber hinaus nahelegt, dass
       Geschlecht weder in der eindeutig weiblichen noch männlichen Zuschreibung
       aufgeht.
       
       Die Hauptfigur erzählt die etwa zehn Jahre zurückliegende Liebesgeschichte
       mit A*** in Rückblenden und aus der Ich-Perspektive. Der Verlust, der
       andauernde Schmerz sind die vorherrschenden Gefühle. Anfang zwanzig ist
       Garrétas Hauptfigur, als sie sich in A*** verliebt, ihr Theologiestudium
       hat sie aufgegeben und arbeitet als DJ in einer angesagten Pariser Disco
       (wir sind in den Achtzigern!). Melancholie, Weltekel und Überdruss
       bestimmen ihre Existenz – bis A*** zunächst fast unbemerkt und dann mit
       Macht eine Leidenschaft freisetzt.
       
       ## Die Grenzen der Sprache sind eng
       
       Was genau diese auslöst, ist schwer zu sagen: „Das Vergnügen, das mir A***s
       Gegenwart bereitete, war nicht an besondere originelle Ansichten oder
       gemeinsame Vorlieben geknüpft. […] Ich genoss unsere Nähe und unsere
       Unterhaltungen ganz ähnlich wie auch A***s körperlichen Charme und A***s
       Art zu tanzen. […] Leichtfertig und tiefgründig, besser kann ich A*** nicht
       fassen, präsent und unaufdringlich zugleich.“
       
       Garrétas erzählende Figur muss A*** zunächst überzeugen, diese Liebe zu
       leben; es folgen die Intensität der Erfüllung, dann die Gewöhnung,
       schließlich das drohende Ende, das hier in dramatischer Gestalt auftritt.
       Es ist die klassische Choreografie einer Liebesgeschichte – gebrochen durch
       das innovative Austesten der Grenzen der Sprache, die sich als eng
       erweisen, will man über Liebe, Sexualität und Begehren sprechen, ohne auf
       das Geschlecht Bezug zu nehmen.
       
       Grenzen, die schon der Rezensentin dauernd im Wege stehen und zum
       Ausweichen oder zu Wiederholungen zwingen. Grenzen, die im Französischen
       noch bindender sind, da beispielsweise Adjektive das Geschlecht
       implizieren.
       
       In einem Interview erzählte die Übersetzerin der US-amerikanischen Ausgabe,
       wie sehr diese besondere Bedingung auch ihre Tätigkeit beeinflusst hat: So
       durfte etwa kein „her“ verwendet werden. Und die Tatsache, dass nach fünf
       Korrekturgängen durch diverse Leser*innen doch zwei übrig blieben, belegt,
       dass es nicht möglich ist, gar keine geschlechtlichen Zuschreibungen
       vorzunehmen, da die Figuren sonst nicht vorstellbar sind. Der Übersetzerin
       wie auch ihren Mitleser*innen war die weibliche Zuordnung für beide Figuren
       so plausibel, dass ihnen das „her“ nicht auffiel.
       
       ## Anreiz, sich selbst zu hinterfragen
       
       Letztlich zeigt Garréta die Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeit auf,
       darauf weist Antje Rávic Strubel, die in ihrer Literatur auf andere Weise
       die Geschlechtergrenzen verrückt, zu Recht hin. Können wir einem Körper
       kein Geschlecht zuweisen, „bleibt der gesamte Mensch unsichtbar. Er tritt
       uns nicht lebhaft vor Augen, wird nicht plastisch.“ Das widerfährt auch der
       Figur A***: Die Autorin kann deren Körper nur fragmentarisch beschreiben –
       sonst würde die Sprache „verräterisch“.
       
       Garréta vermag dichte Atmosphären heraufzubeschwören; die Ich-Perspektive
       ermöglicht, das Innenleben der Hauptfigur facettenreich zu erzählen. Die
       zweite liebende Figur aber bleibt vage, abstrakt. Das sind die Auswirkungen
       des Experiments, der sprachlichen Grenzen, die uns auf unsere
       Wahrnehmungsgrenzen stoßen. Genau darin besteht der größte Gewinn der
       Lektüre. Es ist erhellend, sich selbst zu befragen, aufgrund welcher
       Zeichen im Text man zu welchen geschlechtlichen Zuordnungen neigt, mögen
       sie auch schwanken.
       
       Und der Schmerz der Hauptfigur, der oft geradezu ausgestellt wirkt, lässt
       sich eben auch auf die gesellschaftlichen Zurichtungen beziehen und auf die
       Unsichtbarkeit, in der alle verschwinden, die darin nicht aufgehen.
       
       11 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Carola Ebeling
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Roman
 (DIR) Geschlechter
 (DIR) Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
 (DIR) Sexualität
 (DIR) Liebe
 (DIR) Queer
 (DIR) Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
 (DIR) Laurie Penny
 (DIR) David Bowie
 (DIR) Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Queere Ausstellung in Paris: Zwei Hermaphroditen mit Flügeln
       
       Die Werke der Berliner Zwillinge Eva & Adele passen perfekt zu den Pariser
       Kämpfen um mehr sexuelle Vielfalt. Live wirken sie aber besser.
       
 (DIR) Margarete Stokowski zu „Untenrum frei“: „Jetzt bin ich selber so dreist“
       
       Die Autorin Margarete Stokowski erzählt, warum sie Kolumnen früher zu krass
       fand und Janosch sie dann doch nicht aufgeklärt hat.
       
 (DIR) Laurie Penny über Feminismus & Bücher: „Utopien sind keine guten Storys“
       
       Sie prägte den modernen Feminismus, jetzt schreibt sie auch
       Kurzgeschichten. Ein Gespräch über die Macht von Science-Fiction und das
       Vorbild-Sein.
       
 (DIR) Sänger der Band Visage gestorben: Gender-Bender der ersten Stunde
       
       Steve Strange ist tot. Der Mitbegründer der New Romantics wurde vor allem
       mit dem Hit „Fade to Grey“ bekannt. Sein Stil setzte Maßstäbe.
       
 (DIR) Geschlechtergerechte Sprache: „Es gibt mehr als Frauen und Männer“
       
       Anna Damm und Lann Hornscheidt über die Häme der Medien über die
       sprachliche x-Form und warum Veränderungen immer mit Widerstand verbunden
       sind.