# taz.de -- Kandidatin für Berlin-Wahl: Früher taz, jetzt AfD
       
       > Sibylle Schmidt lebte ein Sponti-Leben, war in der SPD. Bei den
       > Berlin-Wahlen im September kandidiert sie für die Alternative für
       > Deutschland.
       
 (IMG) Bild: Am 18. September will die AfD in das Berliner Abgeordnetenhaus einziehen. Mit Sibylle Schmidt?
       
       Berlin taz | Die Berliner SPD muss im Wahljahr einen spektakulären
       Übertritt zur AfD hinnehmen. Sibylle Schmidt, ehrenamtliche
       Parteifunktionärin mit linkem Lebenslauf, ist aus der SPD
       ausgetreten und kandidiert zur Abgeordnetenhauswahl im
       September für die AfD. In Kreuzberg bewirbt sie sich um ein
       Direktmandat.
       
       Das ist ein erstaunlicher Wandel. Schmidt ist Urkreuzbergerin. In
       den 1980ern betrieb sie einen bekannten Konzertclub, war in der
       Kreuzberger Spaßpartei „KPD/RZ“ aktiv und machte zwischenzeitlich
       für die taz Marketing. Kurz vor dem Mauerfall organisierte sie in
       der DDR Punk-Konzerte und eröffnete später in Berlin-Mitte die
       „Tanzschule Schmidt“, die in Wirklichkeit ein Club war.
       
       Kurz: Sibylle Schmidt hat einen waschechten linken
       Sponti-Lebenslauf. Ihre Kandidatur für die AfD ist allerdings keine
       ironische Sponti-Aktion, sondern ernst gemeint. Wie kommt es, dass
       Schmidt im September bei der AfD auf zwei Berliner Wahllisten steht?
       
       ## Bald in der BVV?
       
       Schmidt ist noch nicht Mitglied in der Partei. Dass sie für die AfD ein
       Mandat erringt, ist aber durchaus möglich. Den direkten Einzug ins
       Abgeordnetenhaus hält sie zwar selbst für ausgeschlossen.
       Allerdings hat sie Chancen, in die Bezirksverordnetenversammlung
       (BVV) von Friedrichshain-Kreuzberg einzuziehen. Auf dieser
       AfD-Liste steht sie auf Platz vier.
       
       Im Frühling hatte Sibylle Schmidt noch mehrere SPD-Ämter inne:
       Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Selbständige (AGS),
       Vorstandsmitglied im Ortsverein „Kollwitzplatz“ im Prenzlauer Berg
       und Mitglied im Fachausschuss für Inneres, einem parteiinternen
       Expertengremium. All das gab Schmidt auf, um für die AfD
       anzutreten.
       
       „Es fühlt sich gut an, aus der SPD ausgetreten zu sein“, sagt Schmidt
       der taz. „Ich habe im April dem Landesverband mitgeteilt, dass ich
       seine blauäugige Innenpolitik nicht weiter mittragen kann.“ Was
       die AfD angeht, hat sie ehrgeizige Pläne: „Ich gucke mir jetzt die AfD
       gründlich von innen an und bringe denen bei, wie man sich mäßigt.“ Sie
       bewundere diese Leute „für ihren Mut, in der Flüchtlingskrise trotz
       Gegenwinds das Notwendige“ auszusprechen.
       
       Für „notwendig“ hält Sibylle Schmidt etwa, über eine aus ihrer Sicht
       falsche Flüchtlingspolitik zu sprechen. In der SPD sei das nicht
       möglich. In der Partei gehe es immer um Wahlen und deren
       Vorbereitung, was inhaltliche Diskussionen abwürge. Somit,
       glaubt Schmidt, verliere man die Wähler. Die „Ursprungsbevölkerung“
       brauche eine Atempause, sagt Schmidt. Den Flüchtlingsstrom
       bezeichnet sie als eine „aus dem Ruder gelaufene Facebookparty“.
       
       Das sind Positionen, die vermutlich in der SPD nicht nur Einzelne
       insgeheim vertreten, hat doch der ehemalige Neuköllner
       Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky in seiner Rolle als
       vermeintlicher Tabubrecher bis heute eine inoffizielle
       Fangemeinde in der Partei. Die Frage ist: Wie kam die SPD über die
       Jahre mit der Funktionärin Sibylle Schmidt zurecht, deren
       politische Meinung sich nicht über Nacht geändert haben dürfte?
       
       ## Tabu-Thema Flüchtlingspolitik
       
       Der erste Auslöser, sich von der SPD abzuwenden, seien die Morde bei
       Charlie Hebdo Anfang 2015 gewesen, sagt Schmidt. Über
       islamistischen Terror habe man im SPD-Ausschuss für Inneres nicht
       sprechen können.
       
       Die Kandidatur für die AfD ist offenbar auch eine Art Abrechnung mit
       Kreuzberg. „Ich habe hier Frauen auf dem Spielplatz erlebt, die mit mir
       nicht sprechen durften. Kopftücher sind kein Accessoire, sondern
       damit zeigt der Mann, dass er seine Frau oder Tochter im Griff hat“, sagt
       sie. Wegen der hohen Mieten lebt sie inzwischen mit ihrer Familie in
       Berlin-Steglitz, politisch organisiert war sie in der SPD zuletzt
       in Prenzlauer Berg. Hinzu kommt ein persönliches familiäres Drama
       um Drogen. Die SPD-Drogenpolitik hält sie für zu lax.
       
       Florian Dörstelmann, bei der Berliner SPD der Vorsitzende des
       Fachausschusses Inneres, weist die Vorwürfe zurück: „Dass man bei
       uns nicht über mögliche Probleme der Migration reden könne, ist
       vollkommen falsch.“ Im Gremium müsse man aber eine große Bandbreite
       an Themen abdecken und auch juristische Aspekte
       berücksichtigen. „Sibylle Schmidt war ziemlich fixiert auf das
       Migrationsthema“, sagt Dörstelmann.
       
       Die SPD-Kultur aus langwieriger Gremienarbeit, festen
       Tagesordnungen und Sowohl-als-auch-Kompromissen ist nicht
       jedermanns Sache. Schwer vorstellbar, dass Sybille Schmidt da jemals
       richtig hineingepasst hat. Beim Treffen sprudeln ihre Erzählungen
       aus ihr heraus, sprunghaft wechselt sie die Themen. Sie sagt, dass sie
       in der SPD immer wieder „tolle und intelligente Leute getroffen“
       habe. Die hätten sie so lange in der Partei gehalten.
       
       ## Niedergang der Volkspartei
       
       Sibylle Schmidts kleine Karriere in der SPD erzählt auch etwas über
       den Personalnotstand der Partei. Die Mitgliederzahl der
       Gesamtpartei hat sich seit 1990 auf 440.000 mehr als halbiert, aber die
       kleinteilige und aufwendige Organisationsstruktur ist gleich
       geblieben. Allein in Berlin müssen Hunderte Posten in diversen
       Gremien alle zwei Jahre neu besetzt werden. Von den 17.000 Berliner
       Mitgliedern seien nur rund 10 Prozent bereit, ehrenamtliche Ämter
       anzunehmen, sagen Funktionäre. Viel Auswahl gibt es also nicht mehr.
       
       Severin Höhmann, der als stellvertretender Vorsitzender mit
       Sibylle Schmidt im SPD-Ortsverein „Kollwitzplatz“ saß und bei der
       Wahl im Herbst für ein Direktmandat kandidiert, sagt: „Man ist heute
       in der Partei schneller mit ehrenamtlichen Funktionen dabei, weil
       die SPD nicht mehr so viele aktive Mitglieder hat. In der Regel
       sortiert sich das Personal aber nach einer gewissen Zeit und ab einer
       bestimmten Ebene.“
       
       Und er übt Kritik an seiner Partei mit Blick auf Sibylle Schmidt: „In
       der SPD gibt es auf der Funktionärsebene sicherlich viele, für die
       formale Fragen sehr wichtig sind: Stimmt die Ausgewogenheit bei
       Personalpaketen, stimmt die Quote. Dabei rückt anfangs vielleicht
       der Blick in den Hintergrund, wofür die Person inhaltlich steht.“ In
       seiner Abteilung wurde wegen der Quote händeringend eine Frau für den
       Vorstand gesucht.
       
       ## Rätseln in der SPD
       
       Den politischen Wandel von Sibylle Schmidt kann sich Höhmann nicht
       erklären, genauso wenig wie Angelika Syring, die
       Landesvorsitzende der Selbständigen-Vereinigung der SPD. „Der
       Gesinnungswandel von Frau Schmidt ist mir nicht aufgefallen. Sie hat
       sich nie dazu geäußert, beziehungsweise sie muss ihre wahre Meinung
       gut verborgen haben“. Syring meint aber aber auch: „Wir sind eine
       Volkspartei, bei uns kann jede Meinung vertreten werden.“
       
       Syring hatte Sibylle Schmidt zur Beisitzerin im Landesvorstand der
       Arbeitsgemeinschaft Selbständige gemacht: „Damit sie eingebunden
       ist und nicht querschießt.“ „Einbinden“ ist bei Parteien ein
       beliebtes Mittel, um Ruhe herzustellen – man gibt schwierigen
       Parteimitgliedern Posten, damit sie beschäftigt sind und sich
       Mehrheitsbeschlüssen beugen müssen. Bei Sibylle Schmidt hat es
       offensichtlich nicht funktioniert.
       
       Tilman Fichter, SPD-Mitglied, Veteran der 68er-Studentenbewegung
       und einst führendes Mitglied im Sozialistischen Studentenbund
       SDS, kennt Sibylle Schmidt gut. Er sieht sie nicht als
       Migrantenfeindin, sondern erklärt sich ihre Einstellungen durch
       persönliche Betroffenheit und „politische Ziellosigkeit“. „Ich
       kenne sie als angenehme und leidenschaftliche Zeitgenossin“, sagt
       er.
       
       Sie habe einen anderen Zugang zu gesellschaftlichen Problemen als
       die „politische Klasse der SPD“. „Es wäre sehr bedrohlich, wenn die
       linken Parteien solche Leute verlieren würden.“
       
       4 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gunnar Hinck
       
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