# taz.de -- Sachbuch zur Reproduktionsmedizin: Kommen und gehen
       
       > Bald 40 Jahre nach dem ersten Retortenbaby ist die Reproduktionsmedizin
       > viel weiter. Eine Soziologin betrachtet das mit Sorge.
       
 (IMG) Bild: Blub, blubblub, blubblubblubblubblub
       
       Mutter mit über 70. Das sprengt jede Vorstellungskraft. Aber das ist
       Realität. In Amritsar, einer Stadt im indischen Bundesstaat Punjab, hat vor
       Kurzem eine 72-Jährige ihr erstes Kind geboren. Der Vater des Jungen ist
       80, es ist auch sein erstes Baby. Hinsichtlich ihres Alters könnten es die
       Großeltern, sogar die Urgroßeltern des Jungen sein.
       
       Das späte Kinderglück ist möglich, weil es die Reproduktionsmedizin gibt.
       Die von einer sehr viel jüngeren, fremden Frau gespendete Eizelle wurde
       künstlich mit dem Samen des Vaters befruchtet und der Mutter eingepflanzt.
       Das Kind kam per Kaiserschnitt zur Welt.
       
       In Amritsar ist die Frau zum Gesprächsthema Nummer eins avanciert. Die
       Meinungen darüber, ob es gut ist, in dem hohen Alter Eltern zu werden,
       gehen in der Stadt mit dem Goldenen Tempel auseinander. Manche sagen, es
       spiele keine Rolle, wie alt das Paar sei, Hauptsache, es sei glücklich und
       das Kind gesund. Andere finden sogenannte Oma-Mütter absurd. Ein indischer
       Gynäkologe fordert eine Altersbegrenzung für künstliche Befruchtungen. Wie
       weit darf Fortpflanzungsmedizin gehen?
       
       Die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim hat dazu eine eindeutige Haltung:
       Reproduktionsmedizin eröffne nicht allein „den Weg zum Familienglück“,
       schreibt sie in ihrem neuen Buch „Die Reproduktionsmedizin und ihre
       Kinder“. Sie berge ein „erhebliches Potenzial an problematischen Folgen“ –
       physisch, psychisch, sozial und ökonomisch. Sie beträfen Frauen wie Männer,
       Samenspender und Eispenderinnen, Leihmütter und die sogenannten
       Retortenbabys selbst.
       
       ## Niedrige Erfolgsquote
       
       Seit in England 1978 das erste im Reagenzglas gezeugte Kind geboren wurde,
       sind ihm weltweit etwa eine Million gefolgt. Ob und welche Schäden sie
       durch die besondere Art der Zeugung haben, ist bislang nicht hinlänglich
       untersucht. Bekannt hingegen sind die Risiken für die Frauen, die auf
       „normalem“ Wege nicht schwanger werden und die aufwändige, langwierige und
       teure Hormonbehandlungen über sich ergehen lassen müssen. Manche vertragen
       die Hormonspritzen schlecht, erleben Hitzewallungen und dauernde Übelkeit.
       Bei nicht wenigen klappt es trotz aller Wissenschaft und Strapazen nicht
       mit einem Kind, die Erfolgsquote beträgt 30 Prozent.
       
       Beck-Gernsheim bezeichnet das als „Geschäft mit der Hoffnung“. Das so weit
       geht, dass Kinderwünsche mittlerweile erfüllt werden können, ohne dass eine
       Frau jemals mit einem Mann Sex haben musste. Lesbische und schwule Paare
       werden heute Eltern leiblicher Kinder, Frauen trotz Menopause und weil es
       Leihmütter gibt und Social Freezing, das Einfrieren von Eizellen, die bei
       Bedarf jederzeit aufgetaut werden können. Singles können sich Sperma in
       einer Samenbank kaufen.
       
       Das alles betrachtet Beck-Gernsheim mit Argwohn. Nicht nur, weil Kosten
       sowie Nebenwirkungen für die potenziellen Mütter, vor allem aber für die
       Leihmütter, die in der Regel aus Entwicklungsländern stammen und arm sind,
       immens sein können. Sondern auch, weil die Freiheit der „neuen Eltern“ nach
       Ansicht der Autorin auf Kosten der Kinder geht.
       
       „Je mehr Unabhängigkeit für die Erwachsenen, desto weniger Verlässlichkeit
       und desto weniger Schutz für die Kinder“, schreibt Beck-Gernsheim. Die
       Soziologin geißelt die „qua Fortpflanzungsmedizin geschaffenen
       Ein-Eltern-Familien“: „Hier wird dem Kind die Hälfte seiner Familie
       vorenthalten.“
       
       Das ist bemerkenswert. Weil Beck-Gernsheim nicht darauf abzielt, dass jeder
       Mensch wissen sollte, woher er kommt. Sondern weil sie ein Familienideal
       beschwört, das durchaus erstrebenswert sein kann, aber heute vielfach nicht
       mehr gelebt wird: die heile Mutter-Vater-Kind(er)-Konstellation.
       
       Allein in Deutschland wachsen 2,2 Millionen Kinder bei nur einem Elternteil
       auf. Das kann man kritisch sehen, bleibt aber Fakt. Niemand wird gezwungen,
       Reproduktionsmedizin zu nutzen. Sie aber nutzen zu können, stellt für viele
       Menschen eine große Freiheit dar. Muss man dafür unbedingt 72 und 80 Jahre
       alt werden? Es könnte sein, dass der kleine Inder seine Eltern nie bewusst
       erlebt. Weil sie tot sind, bevor er versteht, wer sie sind.
       
       19 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Simone Schmollack
       
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