# taz.de -- Kardiologe über künstliche Befruchtung: Zeugung mit Risiko
       
       > IVF-Kinder haben ein erhöhtes Risiko für Störungen der Herz-Kreislauf-
       > und Stoffwechsel-Funktionen, sagt der Schweizer Medizinprofessor Urs
       > Scherrer.
       
 (IMG) Bild: Bei der Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) wird das Spermium mittels einer Kanüle in die Eizelle eingeführt
       
       taz: Herr Scherrer, seit der Geburt von Louise Brown 1978 sind fast sechs
       Millionen Menschen mittels künstlicher Befruchtung zur Welt gekommen.
       Bislang ging man davon aus, sie entwickelten sich genauso wie Kinder, die
       auf natürlichem Wege gezeugt werden. Entwicklungspsychologisch scheint das
       der Fall zu sein, physiologisch gibt es inzwischen jedoch Zweifel. Warum? 
       
       Urs Scherrer: Es mehren sich die Anzeichen, dass zumindest die
       Herz-Kreislauf- und die Stoffwechsel-Funktionen bei Kindern, die mittels
       IVF und zusätzlich eventuell der ICSI-Methode geboren werden, gestört sind.
       Es gibt auch Hinweise auf eine vorzeitige Gefäßalterung. Die Herzfunktion
       ist häufig bereits beim Fötus verändert und bleibt auch nach der Geburt
       bestehen, zumindest bis zum Alter von drei Jahren. Zeichen einer ersten
       manifesten Herz-Kreislauf-Krankheit lassen sich sowohl bei der IVF-Maus als
       auch beim Menschen in Form einer arteriellen Hypertonie im jungen
       Erwachsenenalter nachweisen. Ebenfalls in diesem Alter wurden Zeichen einer
       Insulinresistenz gefunden, die später zu einem Diabetes führen kann.
       Arterielle Hypertonie erhöht im späteren Leben das Schlaganfall- und unter
       Umständen auch das Herzinfarktrisiko. Arteriosklerose wiederum begünstigt
       das Auftreten von Demenz.
       
       Wie sind Sie bei Ihrer Studie vorgegangen? 
       
       Bei unserer kürzlich veröffentlichten, beim Menschen durchgeführten Studie
       handelte es sich um junge Erwachsene, die wir bereits zuvor als Kinder
       untersucht hatten. Seinerzeit konnten wir bereits Zeichen einer vorzeitigen
       Gefäßalterung nachweisen. Dieses Mal haben wir uns die Frage gestellt, ob
       sich dies zu einem erhöhten arteriellen Bluthochdruck entwickelt hat. Wir
       haben bei den Jugendlichen eine 24-Stunden-Messung des arteriellen
       Blutdrucks vorgenommen und festgestellt, dass sowohl der systolische als
       auch der diastolische Blutdruck signifikant erhöht war, beim systolischen
       betrug die Differenz zu den Kontrollpersonen ungefähr vier Millimeter
       Quecksilber, beim diastolischen ungefähr zwei Millimeter. Noch
       beunruhigender war, dass die Prävalenz einer etablierten arteriellen
       Hypertonie bei diesen Personen signifikant erhöht war. Betroffen waren mehr
       als 15 Prozent der IVF-Probanden, in der Kontrollgruppe waren es nur 2,5
       Prozent.
       
       Um es genau zu sagen: Der Blutdruck der betroffenen Jugendlichen betrug
       119/71, der der Kontrollgruppe 115/69. Ist dieser Unterschied nicht
       minimal? 
       
       Nein, so minimal ist das nicht. Wir dürfen nicht vergessen, dass der
       Blutdruck im Jugendalter voraussagen lässt, wie er sich im späteren Leben
       weiterentwickeln wird.
       
       Bei IVF-gezeugten Kindern handelt es sich oft um Zwillinge oder um
       Frühgeborene nach Risikoschwangerschaften. Könnte das Ihre Ergebnisse
       beeinflusst haben? 
       
       Das ist eine wichtige Frage. In unserer Studie haben wir nur Einlinge
       untersucht, die am Ende einer unkomplizierten Schwangerschaft fristgerecht
       und mit normalem Gewicht geboren wurden. Ihr Hinweis ist insofern wichtig,
       als dass es bei assistierter Befruchtung häufiger zu solchen Problemen
       kommt. Diese Ereignisse erhöhen das kardiovaskuläre Risiko selbst dann,
       wenn das Kind auf üblichem Wege gezeugt wurde. Insofern ist unsere
       IVF-Gruppe eine Niedrigrisikogruppe. Wenn wir die IVF-Population insgesamt
       anschauen, ist also zu erwarten, dass deren Risiko noch höher sein könnte.
       
       Könnten aber nicht auch andere Risikofaktoren, etwa bei den Eltern oder die
       Lebensführung der Jugendlichen, für die Ausschläge verantwortlich sein? 
       
       Fortpflanzungsmediziner führen immer wieder an, dass sterile Eltern eine
       schlechtere Herz-Kreislauf-Funktion aufweisen als fertile. Diese gäben sie
       dann an ihre Kinder weiter, die IVF spiele also gar keine Rolle. Das ist
       wissenschaftlich nicht haltbar, sterile Eltern haben eine normale
       Gefäßfunktion. Maus-Experimente bestätigen diese These, denn die für IVF
       verwendeten Mäuse sind nicht steril, ihr IVF-Nachwuchs ist jedoch von den
       genannten Veränderungen betroffen. Was die untersuchten IVF-Jugendlichen
       betrifft, wiesen diese keine bekannten Herz-Kreislauf-Risikofaktoren auf,
       sie waren weder übergewichtig noch völlig unsportlich und sie ernährten
       sich normal.
       
       Man muss also annehmen, dass die Ursachen für die pathologischen
       Veränderungen tatsächlich in der Art der Zeugung zu suchen sind. Welche
       Gründe kann es dafür geben? 
       
       Als gesichert kann gelten, dass epigenetische Veränderungen eine Rolle
       spielen und bereits beim Embryo in der Petrischale nachweisbar sind. Das
       heißt, das passiert irgendwann zwischen der Spermien- und Eizellentnahme
       und der Implantation des Embryos. Die Ursachen können sehr vielfältig sein,
       denn die Umgebung des IVF-konzipierten Embryos ist eine völlig andere als
       die eines natürlich gezeugten. Es gibt Unterschiede in Bezug auf
       Temperatur, pH-Werte, das Milieu, das den Embryo umgibt, denn die
       Kulturmedien, in denen der Embryo schwimmt, reproduzieren die Situation
       nach natürlicher Konzeption nur sehr ungenau. Auch mechanische Einwirkungen
       spielen eine Rolle, etwa wenn bei ICSI ein Spermium direkt eingebracht oder
       wenn der Embryo in die Gebärmutter eingesetzt wird.
       
       Es gibt Hinweise dafür, dass Embryonen, die sich länger entwickelt haben
       und besonders fit wirken, besonders große epigenetische Veränderungen
       aufweisen. Wäre das nicht ein Argument gegen die Anwendung der
       Präimplantationsdiagnostik (PID)? 
       
       Es gibt tatsächlich Studien, die zeigen, dass Embryonen ihre besondere
       Fitness erkaufen mit ausgeprägten epigenetischen Veränderungen und
       potenziell nachteiligen Folgen für die Herz-Kreislauf-Funktion. Die PID ist
       mit einer zusätzlichen mechanischen Intervention am Embryo verbunden, was
       ebenfalls zu vermehrten epigenetischen Veränderungen führt und so das
       Risiko erhöhen könnte. Allerdings gibt es derzeit noch keine validen
       Studien in diesem Bereich.
       
       Ihnen wird oft entgegengehalten, dass Sie nur eine kleine Zahl von
       Probanden untersucht haben und die Ergebnisse deshalb nicht generalisierbar
       seien. 
       
       So klein war unsere Probandenzahl nun auch wieder nicht. Es ist sehr
       aufwändig, einen detaillierten kardiovaskulären Phänotyp an sorgfältig
       selektionierten IVF-Probanden ohne weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren
       zu erheben, das wird im Rahmen von Tausenden von Probanden nie möglich
       sein. Wir arbeiten mit statistischen Wahrscheinlichkeiten, die Möglichkeit,
       dass wir uns täuschen, liegt, je nach untersuchtem Parameter, im Bereich
       von 4:100 bis 1:100.000. Richtig ist, dass unsere Probanden aus einer
       einzigen Fortpflanzungsklinik stammen und es bei Probanden aus anderen
       Kliniken zu anderen Ergebnisse kommen könnte. Vergleichbare Studien in
       Barcelona, Australien oder Belgien mit ähnlichen Ergebnissen sprechen
       allerdings gegen diese Hypothese.
       
       Welche Konsequenzen haben Ihre Studienergebnisse für die betroffenen
       Jugendlichen? 
       
       Soweit sie an arterieller Hypertonie leiden, müssen sie blutdrucksenkende
       Medikamente einnehmen. Da sie, wie gesagt, keine anderen Risikofaktoren
       aufweisen, werden sogenannte Lifestyle-Interventionen wie Gewichtsabnahme
       oder gesündere Ernährung keinen Erfolg bringen.
       
       Wie hat die Forschungs-Community auf Ihre Studie reagiert, Sie haben sich
       damit sicher nicht nur Freunde gemacht. 
       
       Die Reproduktionsmedizin verharrt leider immer noch im Defensivmodus, statt
       sich mit den bei der IVF-Population aufgezeigten Gesundheitsproblemen
       offensiv auseinanderzusetzen, mit dem Ziel, die Methoden zu verbessern und
       die Gesundheitsfolgen für das entstehende Kind zu minimalisieren.
       Stattdessen versucht man, unsere Ergebnisse mit allen möglichen schwammigen
       Argumenten zu entkräften.
       
       Die Kommunikationsabteilung des Inselspitals wollte die Studienergebnisse
       Ihrer Forschungsgruppe gar nicht veröffentlichen mit Hinweis auf die
       „Auswirkungen auf andere Fachbereiche“. Welche Hintergründe vermuten Sie? 
       
       Es gibt, von der hauseigenen Fortpflanzungsklinik abgesehen, wohl nicht
       viele „andere Fachbereiche“, die davon betroffen sein könnten. Das war
       allerdings ein Schlag ins Wasser, denn unsere Studie hat ein unglaubliches
       weltweites Medienecho ausgelöst.
       
       Sie waren kürzlich auch Mitglied in der wissenschaftlichen Begleitgruppe
       bei der Schweizer Stiftung für Technologiefolgenabschätzung, wo es um
       Bedarf und Akzeptanz von Social Freezing in der Schweiz ging. Wie
       beurteilen Sie ein solches, medizinisch meist gar nicht induziertes
       Anwendungsgebiet angesichts Ihrer Forschungsergebnisse? 
       
       Es wirft zumindest viele Fragen auf, denn nach allem, was wir wissen,
       werden Kinder, die – wie es bei Social Freezing der Fall ist – mittels
       vorab eingefrorener Eizellen und IVF auf die Welt kommen, nicht ebenso
       gesund sein wie natürlich gezeugte. Das ist der Ausgangspunkt, von dem das
       ganze Thema angegangen werden sollte.
       
       16 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Baureithel
       
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