# taz.de -- Sommerlicher Synthiepop von Nite Jewel: Küsschen fürs Display
       
       > Die kalifornische Synthiepop-Künstlerin Nite Jewel veröffentlicht ihr
       > angenehm unnahbares neues Album „Liquid Cool“. So klingt es auch.
       
 (IMG) Bild: Nite Jewel hat eine tolle Stimme und verwendet subsonisch-tiefe Bässe
       
       Die höchste Wirkung der Kunst tritt nur dann ein, wenn sie nicht fertig
       wird“, hat der Dramatiker Friedrich Hebbel postuliert. Ist ein Weilchen
       her, passt jetzt aber perfekt zur Entstehungsgeschichte von „Liquid Cool“,
       dem neuen, am Freitag endlich veröffentlichten dritten Album von Nite Jewel
       aus dem Suburb Echo Park, einem Tentakel des irren Tintenfischs Los
       Angeles.
       
       Das Tolle am Nite-Jewel-Sound: Er zwingt seine HörerInnen, sofort
       runterzubremsen und genau hinzuhören. [1][„Kiss the Screen“ etwa], einer
       von gleich mehreren hitverdächtigen Popsongs mit knisternden elektronischen
       Emotionen, erweckt zunächst den Eindruck, darin würde eine romantische
       Hollywood-Filmfantasie verhandelt.
       
       Es geht aber durchaus empirisch um Dating-Kultur im Internetzeitalter, um
       Flirtportale und Smartphone-User, die ihre Gefühle lieber in der Anonymität
       der digitalen Sphäre ausleben als aufeinander zuzugehen und endlich zu
       knutschen. Herrgott noch mal!
       
       Im dazugehörigen Videoclip, der zum Teil in einer mexikanischen Bäckerei
       aufgenommen ist, starrt ein junger schwarzer Angestellter wie gebannt auf
       sein Handy, während Nite Jewel, flankiert von zwei Tänzerinnen in
       deckungsgleichen Catsuits, um ihn so lasziv wie verzweifelt herumtanzt.
       
       Auch der Albumtitel „Liquid Cool“ passt ins Bild. Er bezieht sich auf den
       bläulichen Schein, den Screens auf die Gesichter von Usern werfen. Als
       kulturpessimistische Kritik will das die Künstlerin aber nicht verstanden
       wissen. Auf dem Cover des Albums ist sie als fotoretuschierter Avatar mit
       leeren Gesichtszügen inszeniert. Ihre eigene Netzpräsenz hat Nite Jewel
       weitgehend zurückgefahren, seit sie 2013 den Song „Nowhere to Go“ für die
       fünfte Edition des Computerspielklassikers „Grand Theft Auto“ komponiert
       hat.
       
       Benannt ist die 32-jährige Angelena Ramona Gonzalez, die aus einem
       Arbeiterviertel in East L. A. stammt, nach dem Song „Night Jewel“ der
       obskuren kalifornischen Band Nimbus Obi. Wie diese hat sich auch Nite Jewel
       dem Synthiepop verschrieben, allerdings ohne retroesken Überhang. Gonzalez
       hat keine Sehnsucht nach alten Keyboards, Geschäftsmodellen und
       Arbeitsverhältnissen, sie schraubt alles an ihrer Musik selbst.
       
       ## Dem Profi entsagen
       
       Für „Liquid Cool“ ging sie sogar so weit, dem Sounddesign ihres
       Lebensgefährten, des erfolgreichen Studiomusikers und Produzenten Cole MGN
       – er arbeitet etwa für Snoop Dogg und Beck –, zu entsagen. Cole sei ihr
       spiritueller Guide, aber seine Klangsignatur wäre für ihren eigenen Sound
       viel zu perfekt, erklärte sie in Interviews.
       
       Auch von ihrem Indie-Label Secretly Canadian hat sie sich nach ihrem
       erfolgreichen Zweitling „One Second of Love“ (2012) wieder verabschiedet,
       sie verabscheue „Geschäftsleute in Rock-’n’-Roll-Kleidung“ und bricht eine
       Lanze für den kalifornischen Weirdo Ariel Pink und dessen schwer
       berechenbare Attitude. Das Verhältnis zwischen Label und ihr als
       Vertragskünstlerin habe einem klassischem Vater-Tochter-Autoritätsding
       entsprochen, sagte sie. Daher veröffentlicht Nite Jewel „Liquid Cool“
       genau wie ihr Debütalbum wieder selbst.
       
       „Beim Kompositionsprozess halte ich meine Klangelemente simpel, am meisten
       achte ich auf Stimme und Bass. Sie sind die Basis meiner Songs. Das
       entspricht auch meiner Alltagsphilosophie, mehr aussagen mit sparsamen
       Mitteln.“ Ihre Stimme klingt gleichzeitig alert und – durch Hall verfremdet
       – jenseitig und etwas herb.
       
       Wie der Nite Jewel genannte Cocktail, der ihr zu Ehren auf der
       Getränkekarte des Restaurants „Alma“ in West-Hollywood steht:
       Roggenwhiskey, Fernet Branca, Bitter, Zitronenlikör und eine Kirsche. Der
       satte Bass von Nite Jewel rumort wie die Stoßdämpfer der Low-Rider-Autos an
       den Verkehrsampeln von Los Angeles. Dabei vibriert der Arsch fast
       automatisch mit.
       
       Aus amtlichen Popentwürfen für Starkünstlerinnen von Adele bis Empress Of
       dringt momentan eine grell ausgeleuchtete Sülze aus Geständnis und Gesang.
       Nite Jewel bleibt dagegen unnahbar. Auf den Songs von „Liquid Cool“ hält
       sie oftmals an sich und lässt die Musik für sich sprechen. In den Worten
       von Friedrich Hebbel: „Ein Geheimnis muss immer übrigbleiben.“
       
       10 Jun 2016
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=CXLGNsc6PUE
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
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