# taz.de -- Lebensmittel-Initiative vor dem Aus: Kühlschränke für alle
       
       > Etwa 3.000 Menschen retten täglich in Berlin „abgelaufenes“ Essen aus
       > Supermärkten und deponieren es in Fair-Teilern. Wie lange dürfen sie das
       > noch?
       
 (IMG) Bild: Ein öffentlicher Kühlschrank, hier auf dem Gelände des Tommy-Weisbecker-Hauses
       
       Mit Schwung stellt an einem sonnigen Nachmittag Gerard Roscoe die randvoll
       gefüllten Palette auf eine Bank im Hinterhof eines Bio-Supermarktes. Darin
       stapeln sich kleine Kisten voller Erdbeeren. Einige der Früchte haben erste
       matschige Stellen und werden von Roscoe aussortiert. „Oder willst du die
       noch?“, fragt er seine Mitstreiterin. Franziska Thiel schüttelt den Kopf,
       schmeißt die schlechten Früchte in den Müll.
       
       Gäbe es Thiel und Roscoe nicht, wären längst auch die genießbaren Erdbeeren
       in den Kisten entsorgt – genauso wie große Mengen Brötchen und Dinkelbrot.
       Statt im Müll landet das gute Essen aus den Paletten nun in den
       Fahrradtaschen der beiden Aktivisten. Sie sind Lebensmittelretter: Sie
       kommen regelmäßig zum Bio-Supermarkt in Prenzlauer Berg, um für den Abfall
       bestimmtes Essen abzuholen.
       
       Hinter der Aktion steht das Projekt Foodsharing. Die Initiative hat es sich
       bundesweit und auch in Berlin zur Aufgabe gemacht, etwas gegen die extreme
       Lebensmittelverschwendung zu unternehmen: Das abgeholte Essen wird auf
       Kühlschränke verteilt, die überall in der Stadt stehen. Aus den sogenannten
       Fair-Teilern kann sich dann jeder so viel vom Essen nehmen, wie er möchte.
       Zumindest noch.
       
       Denn die Zukunft von Foodsharing Berlin ist zurzeit ungewiss – und das, wo
       Berlin das Zentrum der Initiative ist: Fast ein Viertel aller von
       Foodsharing in Deutschland geretteten Lebensmittel wurde in Berlin
       gesammelt. Doch die Berliner Senatsverwaltung für Justiz und
       Verbraucherschutz plant, die Fair-Teiler in ihrer jetzigen Form zu
       schließen. Sie befürchtet, dass verdorbene oder mit Keimen belastete Ware
       in den Kühlschränken deponiert und unkontrolliert weitergegeben wird. Um
       das geltende Lebensmittelgesetz einzuhalten, sollen die Kühlschränke nun
       als Lebensmittelbetrieb eingestuft werden. Sollte es dazu kommen, würde das
       viel strengere Auflagen bedeuten: Beispielsweise müssten die Kühlschränke
       ständig beaufsichtigt werden. Für ein Projekt, dass auf die Mithilfe von
       Ehrenamtlichen angewiesen ist, wären derartige Auflagen das Aus.
       
       Das Konzept der Kühlschränke ist simpel, aber effektiv. „Jeder soll sich
       eingeladen fühlen, Essen aus den Fair-Teilern zu nehmen – unabhängig davon,
       ob er bedürftig ist oder nicht“, beschreibt Roscoe das Prinzip. Schon oft
       beobachtete er, dass sich viele Menschen, unabhängig von ihrer finanziellen
       Situation, schämen, Essen einfach zu nehmen. Warum eigentlich? Schließlich
       nimmt man ja hier niemanden etwas weg. Roscoe erklärt: „Wir sind es
       gewohnt, für Waren Geld zu geben, sonst fühlen wir uns wie Bettler. Wir
       müssen erst lernen, Geschenke ohne schlechtes Gewissen anzunehmen.“
       
       Nicht nur Nehmen, auch Geben gehört zum Essenteilen: Wer morgen in den
       Urlaub fährt und noch einen vollen Kühlschrank hat, kann sein Essen hier
       loswerden. So liegen auch an diesem Nachmittag, als Thiel und Roscoe bei
       einem Fair-Teiler in der Nähe des Supermarktes mit den Erdbeeren ankommen,
       schon ein paar Äpfel darin, als sie ihre Ausbeute in den Fächern verstauen.
       
       An der Tür des Kühlschranks hängt ein laminiertes Blatt, auf dem die
       Richtlinien zur Nutzung aufgelistet sind. Erste Regel: Lege nur Essen
       hinein, dass du selbst noch essen würdest. Eigenverantwortung ist das
       grundlegende Konzept – und auch in Hinblick auf die Hygiene wichtig.
       
       Doch die Initiative Foodsharing weist auch deshalb Vorwürfe mangelnder
       Hygiene zurück, weil jeder Kühlschrank täglich durch einen Aktiven
       gereinigt wird. Überhaupt: Die großen Lebensmittelskandale, so Roscoe,
       seien in kontrollierten Betrieben entstanden und nicht, weil Menschen den
       Fair-Teiler genutzt hätten. „Wir haben vor Kurzem einen Preis des
       Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft gewonnen und die
       Berliner Behörden legen uns Steine in den Weg – das ist doch absurd“, sagt
       er. Foodsharing hatte den „Zu gut für die Tonne“-Bundespreis 2016 in der
       Kategorie Gesellschaft und Bildung erhalten.
       
       Auch auf lokaler Ebene erfährt das Projekt politische Unterstützung. Turgut
       Altug, Abgeordneter der Grünen, fordert den Senat auf, sich mit den
       Engagierten an einen Tisch zu setzen und konstruktive Lösungen zu
       erarbeiten. „Der Senat macht es sich momentan zu einfach“, beklagt der
       Fraktionssprecher für Natur- und Verbraucherschutz. In anderen
       Bundesländern gebe es bisher keinerlei Probleme mit den Behörden.
       
       Seit drei Jahren sind in dieser Stadt Ehrenamtliche im Namen von
       Foodsharing unterwegs mit dem Ziel, die Verschwendung von Lebensmitteln zu
       stoppen. Etwa elf Millionen Tonnen genießbares Essen werden in Deutschland
       laut einer Studie der Universität Stuttgart aus dem Jahr 2012 jährlich
       weggeschmissen. Franziska Thiel hat „den Wahnsinn“ zum ersten Mal vor
       zweieinhalb Jahren beobachtet. Sie wollte eigentlich nur einen Kaffee
       kaufen, als sie unfreiwillig Zeugin wurde, wie ein Verkäuferin im Backshop
       die kompletten Backwaren in die Tonne warf. „Da fing ich an, mich zu
       informieren“, sagt die Aktivistin.
       
       Heute ist Thiel eine von etwa 3.000 Food Savern in dieser Stadt, die
       Lebensmittel bei den Supermärkten abholen – insgesamt 350 Unternehmen
       kooperieren hier mittlerweile mit der Initiative Foodsharing. Viele werben
       sogar damit. Die Märkte der Bio-Company kleben Plaketten an die Türen, die
       darauf hinweisen, dass das übriggebliebene Essen abgegeben wird. „Das
       Bewusstsein für Lebensmittelverschwendung wächst: Immer mehr Kunden
       interessieren sich dafür, ob ihr Supermarkt Essen verschwendet“, erklärt
       Roscoe die wachsende Bereitschaft der Unternehmen mitzumachen. Da
       Foodsharing nur bei Bio-Supermärkten und kleinen Betrieben oder Cafés Essen
       abholt, steht es auch in keinem Konkurrenzverhältnis zur Tafel. Im
       Gegenteil, die beiden arbeiten sogar zusammen.
       
       Im Hinblick auf die aktuellen Probleme erwarten die Aktivisten von
       Foodsharing Dialogbereitschaft vom Berliner Senat. Der angebotene
       Kompromiss, an den Schränken ein Zahlenschloss anzubringen und den Code nur
       an registrierte Nutzer auszugeben, wurde von den Behörden bereits
       abgelehnt. Nun hat Foodsharing eine Online-Petition gestartet, die bereits
       fast 29.000 der benötigten 30.000 Stimmen erhalten hat. Zentrale
       Forderungen: Das Lebensmittelamt in Berlin soll Fair-Teiler als privaten
       Übergabeort und nicht als Lebensmittelbetrieb einstufen. Außerdem sind die
       Behörden aufgefordert, zusammen mit Foodsharing einen Leitfaden zum
       Betreiben der Fair-Teiler zu erarbeiten.
       
       Langfristig strebt das Bündnis ein Umdenken in der Politik an. Zusammen mit
       der Aktion Agrar und anderen Organisationen sammelt es Unterschriften für
       ein Gesetz, das den Supermärkten das Wegwerfen essbarer Lebensmittel
       verbietet. Frankreich macht es vor: Dort sind Supermärkte ab 400
       Quadratmetern Größe verpflichtet, nicht verkaufte Waren billiger abzugeben
       oder zu spenden.
       
       Inzwischen wird es Abend in Prenzlauer Berg. Der Fair-Teiler ist frisch
       gefüllt. Und schon steuern die ersten AnwohnerInnen den Kühlschrank an und
       freuen sich über die Erdbeeren, die sie darin finden. Thiel und Roscoe
       schauen sich zufrieden an. Für sie hat sich der Einsatz wieder gelohnt.
       
       30 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lina Schwarz
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Fairteiler
 (DIR) Lebensmittel
 (DIR) Soziales
 (DIR) Christian Meyer
 (DIR) Ernährung
 (DIR) Lebensmittelverschwendung
 (DIR) Finnland
 (DIR) Kühlschrank
 (DIR) Foodsharing
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Agrarminister Meyer übers Wegwerfen: „Wir brauchen vielleicht Bußgelder“
       
       Niedersachsens Landwirtschaftsminister Christian Meyer will das Wegwerfen
       von Lebensmitteln per Gesetz verbieten. Fast die Hälfte wird nicht
       verbraucht.
       
 (DIR) Der Therapeut Andreas Schnebel übers Teller-Leeressen: „Bewusst mit Essen umgehen“
       
       Ein Restaurant erhebt Strafzahlungen, wenn man nicht aufisst, um einer
       Verschwendung vorzubeugen. Aus medizinisch-therapeutischer Sicht ist das
       bedenklich.
       
 (DIR) Gemüse mit Schönheitsfehlern: Krumme Geschäfte
       
       Muss Gemüse perfekt sein? Nein, findet die Münchner Firma Etepetete. Sie
       vertreibt nicht marktkonformes Biogemüse in Ökokisten.
       
 (DIR) Lebensmittelvernichtung in Finnland: Wegwerfen soll verboten werden
       
       Nach Frankreich will auch Finnland die Lebensmittelvernichtung beenden. Ein
       Gesetzentwurf sieht ein Vernichtungsverbot vor.
       
 (DIR) Gedanken über Kühlschränke: Kalt gestellt
       
       Der Kühlschrank hat die Konsumgewohnheiten nachhaltig verändert. In
       Großstadt-Haushalten wird er allmählich überflüssig.
       
 (DIR) Hygiene bei öffentlichen Kühlschränken: Foodsharing kämpft um „Fairteiler“
       
       Berliner Behörden wollen wegen Gesundheitsrisiken Auflagen durchsetzen.
       Essensretter halten das für unverhältnismäßig. Sie mobilisieren ihre
       Unterstützer.
       
 (DIR) Verbot von Umsonst-Kühlschränken: Bio-Banane ohne Haftung
       
       Pankow verbietet Foodsharing-Kühlschränke. Begründung: Sie verstoßen gegen
       das Lebensmittelgesetz. Aktivisten hoffen auf einvernehmliche Lösung.