# taz.de -- Peter Altmaier über Flüchtlingspolitik: „Nicht die Finger schmutzigmachen“
       
       > Eine Million Flüchtlinge sind 2015 nach Deutschland gekommen.
       > Kanzleramtschef Altmaier über die Politik der Regierung, die EU und den
       > Pakt mit der Türkei.
       
 (IMG) Bild: Grün ist die Hoffnung und Peter Altmaier ist gut darin, sie zu verbreiten
       
       taz: Herr Altmaier, vielleicht ein Spiel zu Beginn? Ich fange einen Satz
       an, Sie vervollständigen ihn. 
       
       Peter Altmaier: Gerne.
       
       Selbstverständlich handelt die Bundesregierung stets klug und besonnen.
       Aber besonders stolz bin ich auf die Tatsache, dass ... 
       
       ... wir es geschafft haben, trotz einer aufgewühlten innenpolitischen Lage
       zu unseren Überzeugungen zu stehen. Die Bundesregierung und zehntausende
       ehrenamtlich helfende Menschen haben eine humanitäre Visitenkarte
       abgegeben, die unserem Land nicht jeder zugetraut hätte.
       
       Dass die linke taz Anfang März auf ihrer Titelseite Liebeserklärungen an
       die Kanzlerin druckte, deute ich als Zeichen für ... 
       
       ... dass die taz-Redaktion die Zeichen der Zeit erkannt hat.
       
       Der größte Fehler, den ich beim Management dieser Krise gemacht habe, war
       sicherlich ... 
       
       Wenn man unbedingt von Fehler reden will, dann vielleicht, dass wir das
       Ausmaß der Herausforderung zu spät erkannt haben. Wenn alle staatlichen
       Akteure ein halbes Jahr früher mit konzentriertem Management begonnen
       hätten, wären wir jetzt noch weiter. Das tut mir leid, aber ich schaue nach
       vorne.
       
       In der Politik kann man sich seine Partner nicht aussuchen, und genau
       deshalb ist die Vereinbarung der EU mit dem türkischen Präsidenten Erdogan
       ... 
       
       Eine anspruchsvolle Aufgabe, die wir nicht auf die leichte Schulter nehmen.
       
       Bleiben wir bei der Türkei. Die EU hat mit der türkischen Regierung vor
       drei Wochen ein Rücknahmeabkommen für Flüchtlinge vereinbart. Sie haben von
       einem „Wendepunkt“ gesprochen. Was sind die Vorteile dieser Vereinbarung? 
       
       Damit können wir die Flüchtlingskrise nachhaltig lösen, ohne unsere
       humanitären Prinzipien zu verletzen. Die EU hat mit der Türkei im Kern eine
       Lastenteilung vereinbart. Die Türkei hat bisher rund drei Millionen
       Flüchtlinge aufgenommen. Zweieinhalb Millionen kommen aus Syrien, 500.000
       aus dem Irak. Diese Menschen durften bis vor wenigen Monaten nicht
       arbeiten. Das wird sich jetzt ändern.
       
       Inwiefern? 
       
       Die Flüchtlinge dürfen sich künftig in der Türkei selbständig machen oder
       Arbeit annehmen. Die EU stellt sechs Milliarden Euro bereit, die in
       Schulunterricht für Kinder, bessere Unterbringung und bessere
       Gesundheitsversorgung fließen. Zweitens: Die EU und die Türkei haben
       vereinbart, illegalen Menschenhandel zu unterbinden.
       
       Wichtig ist ein 1:1-Verfahren. Die Türkei hat sich verpflichtet, alle
       irregulär nach Griechenland übergesetzten Flüchtlinge zurückzunehmen. Für
       jeden Syrer, der zurückgeschickt wird, soll ein Syrer aus der Türkei legal
       nach Europa einreisen dürfen. 
       
       Richtig. Diese Maßnahme soll das Geschäftsmodell der Schlepper beenden, und
       zwar sofort. Ein Flüchtling, der damit rechnen muss, zurück in die Türkei
       geschickt zu werden, bezahlt nicht bis zu 1.500 Dollar für die Überfahrt in
       einem Schlauchboot. Diese Vereinbarung wird Leben retten. Allein in den
       ersten drei Monaten dieses Jahres sind über 300 Menschen im Mittelmeer
       ertrunken.
       
       Das heißt: Eine syrische Familie, die in Aleppo ausgebombt wurde, muss in
       die Türkei zurück. Obwohl sie bisher in Europa Schutz nach der Genfer
       Flüchtlingskonvention bekam? 
       
       Das ist richtig. Diesen Schutz bekommt sie in der Türkei, in die sie ja
       zunächst geflüchtet ist. Ich weise aber darauf hin, dass diese Lösung nicht
       in erster Linie darauf abzielt, die Zahl der Ankommenden zu senken. Sie
       soll den Schleppern das Handwerk legen. Diese Familie aus Aleppo hat
       wesentlich bessere Chancen, nach Europa kommen, wenn sie den legalen Weg
       wählt.
       
       Aber die Flüchtlingszahlen werden doch massiv sinken. 
       
       Jeder Flüchtling, der in Griechenland ankommt, hat weiter ein Recht auf
       eine Prüfung seines Falls. Wer nachweisen kann, dass ihm in der Türkei
       politische Verfolgung droht, bekommt Asyl. Alle anderen müssen damit
       rechnen, zurückgebracht zu werden. Zum Ausgleich gibt es allerdings künftig
       „Kontingente“. Damit stellen wir sicher, dass Europa auch künftig
       Flüchtlinge aufnimmt.
       
       Pro Asyl nennt die Verabredung eine „Schande für Europa“. Verlegt die EU
       ihre Asylpolitik in die Türkei? 
       
       Nein. Die EU lagert ihre Asylpolitik nicht aus. Sie haben es selbst
       erwähnt: Für jeden zurückgeschickten Syrer lässt die EU einen Flüchtling
       legal aus der Türkei einreisen. Außerdem bekämpft die Bundesregierung
       gemeinsam mit den EU-Partnern Fluchtursachen. Neun Milliarden Euro sind
       zugesagt, um die humanitäre Lage in Nachbarstaaten von Syrien zu verbessern
       – allein zwei Milliarden kommen aus Deutschland.
       
       Die EU möchte aber nur 72.000 Syrer legal aus der Türkei aufnehmen. Alle
       anderen, etwa aus dem Irak oder aus Afghanistan, bleiben sowieso außen vor.
       Was ist das anderes als Abschottung? 
       
       Die 72.000 Menschen beziehen sich nur auf das 1:1-Verfahren. Ich vermute,
       dass diese Plätze am Ende gar nicht ausgeschöpft werden. Die Schlepper
       werden einfach keine Flüchtlinge mehr finden, die für die Überfahrt teuer
       bezahlen. Entscheidend ist, dass es zusätzlich freiwillige Kontingente
       geben muss. Wir lassen die Türkei nicht allein. Wir haben eine
       Lastenteilung vereinbart, und das bedeutet, dass die EU der Türkei in
       Zukunft auch andere Flüchtlingsgruppen abnehmen muss.
       
       Ist das nicht ein leeres Versprechen? Die Kanzlerin wirbt bis heute
       vergeblich bei anderen EU-Regierungschefs dafür, größere Kontingente in
       Europa zu verteilen. 
       
       Ich bestreite nicht, dass das Vertrauen in die Regel, die jetzt beschlossen
       wurde, erst wachsen muss. Aber ich sage auch: Die Gegner unserer
       Flüchtlingspolitik haben von Anfang an behauptet, Deutschland stünde allein
       da in Europa. Das kann ich nicht erkennen. Alle 28 Mitgliedsstaaten stehen
       hinter der aktuellen Vereinbarung. Alle 28 haben Milliardenhilfen für die
       Türkei zugesagt. Und alle haben im Herbst 2015 gemeinsam beschlossen,
       160.000 Flüchtlinge in der EU zu verteilen.
       
       Sogar die Verteilung dieser geringen Zahl funktioniert hinten und vorne
       nicht. 
       
       Die EU lernt in der Flüchtlingspolitik gerade dazu, und zwar in rasantem
       Tempo. Wir diskutieren in Europa doch nicht zum ersten Mal über
       Flüchtlinge. Vor Jahren bat Italien um Hilfe, weil viele Menschen auf
       Lampedusa ankamen. Auch mehrere deutsche Regierungen haben es lange
       abgelehnt, über eine europäische Verteilung zu verhandeln. Wir haben unsere
       Position korrigiert. Andere Staaten haben ihre Meinung nicht sofort
       geändert.
       
       Der türkische Autokrat Erdogan lässt Journalisten verhaften, er bekämpft
       die Kurden im eigenen Land mit schweren Waffen. Was qualifiziert diesen
       Mann dafür, die EU-Drehscheibe für Flüchtlinge zu managen? 
       
       Ich bitte um Verständnis, dass ich andere Regierungen nicht in Interviews
       kritisiere. Der humanitäre Kompass der Bundesregierung ist sehr klar. Im
       Übrigen beherbergt die Türkei seit Jahren Millionen Flüchtlinge und hat
       sich damit europäischer verhalten als manches Mitglied der EU!
       
       Amnesty berichtet, dass die Türkei Syrer wieder zurück nach Syrien
       abschiebt, also ins Kriegsgebiet. Warum ist die Türkei ein sicherer
       Drittstaat für Flüchtlinge? 
       
       Solche Behauptungen werden wir prüfen. Für einen sicheren Drittstaat gibt
       es klare Richtlinien. Die Bundesregierung und die EU sprechen über diese
       Punkte mit dem UNHCR, mit der türkischen, der griechischen Regierung und
       mit anderen Beteiligten. Am Ende muss die griechische Regierung die
       entsprechenden Entscheidungen treffen. Ich glaube, dass die Türkei
       insgesamt ein sicherer Drittstaat für Flüchtlinge ist. Sie hat bewiesen,
       dass sie gut mit Flüchtlingen umgeht. Wie gesagt, dort leben bereits drei
       Millionen Menschen aus Syrien und dem Irak – und zwar in Sicherheit.
       
       Gehört es zu den Dilemmata der Flüchtlingspolitik, dass es keine Lösung
       gibt, bei der man sich nicht die Finger schmutzig macht? 
       
       Wir machen uns nicht die Finger schmutzig. Aber in der Tat operieren wir in
       einem Widerspruch. Einerseits versuchen wir nach unseren Werten zu handeln,
       also Menschen in Not zu helfen. Andererseits können wir Realitäten nicht
       verleugnen. In vielen Kommunen leben Flüchtlinge seit Monaten in
       Turnhallen, weil es keine Wohnungen gibt. Solche Belastungen müssen wir zur
       Kenntnis nehmen. Neulich habe ich mit Mark Zuckerberg, dem Facebook-Chef,
       über die Flüchtlingspolitik geredet ...
       
       ... jetzt wird es interessant. Wie fand er sie? 
       
       Zuckerberg hat bei diesem Besuch öffentlich gesagt: Gut, was ihr da macht.
       Die USA können sich etwas davon abschauen. Politiker, wichtige Köpfe in der
       Wirtschaft und Menschenrechtsaktivisten in aller Welt beobachten gerade
       sehr genau, was in Deutschland und Europa passiert. Wenn das europäische
       Beispiel dazu führt, dass andere Staaten mehr Flüchtlinge aufnehmen, wäre
       viel gewonnen.
       
       Die Welt lernt von Deutschland? 
       
       Das wäre vermessen. Aber es bildet sich gerade weltweit ein neues
       Bewusstsein für den Umgang mit Geflüchteten.
       
       Im Laufe der Krise wirkte die EU so zerstritten, dass man sich Sorgen um
       ihren Fortbestand machen konnte. Ist es in Wirklichkeit ein historischer
       Erfolg, dass sich alle Staaten hinter der Türkei-Vereinbarung versammeln? 
       
       Die EU ist keine Selbstverständlichkeit. Dieses historisch einzigartige
       Projekt muss jeden Tag neu verteidigt werden. Die Bundesregierung hat in
       der Flüchtlingskrise alles dafür getan, dass der Laden zusammenbleibt. So
       werden wir weiter vorgehen. Die EU wird auch die Griechen nicht mit seinen
       Problemen allein lassen.
       
       Der EU wird dies umso leichter fallen, weil durch das Türkei-Abkommen kaum
       noch Flüchtlinge in Griechenland ankommen. 
       
       Durch die Vereinbarung mit der Türkei wird die deutsche Regierung nicht
       weniger humanitär agieren als bisher. Im Gegenteil. Die Vereinbarung
       ermöglicht es uns, an unserem Kurs festzuhalten. Wir wollen keine Festung
       Europa, die sich hermetisch abschottet, auch wenn Europa selbstverständlich
       seine Außengrenzen schützen muss.
       
       5 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Schulte
       
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