# taz.de -- Debatte Demokratie: Die innere Entleerung
       
       > Kaum einer merkt es: Wir haben kein Flüchtlingsproblem, wir haben ein
       > Demokratieproblem. Die Angst wird für Machtspiele genutzt.
       
 (IMG) Bild: Polizeikontrolle an der deutsch-österreichischen Grenze: Die EU-Staaten igeln sich wieder ein.
       
       Haben wir ein „Flüchtlingsproblem“? Die Experten streiten in den
       Hinterzimmern, denn öffentlich darf man schon gar nicht mehr sagen, dass
       dieses Problem womöglich gar nicht besteht, oder doch um so vieles geringer
       ist, als es Politik und Medien darstellen.
       
       Dass es unter den Flüchtlingen nicht nur tüchtige, fleißige und biedere
       Mittelständler gibt, die für jede noch so geringe Chance dankbar sind und
       rasch die erfahrenen Demütigungen vergessen, hat auch der freundlichste
       „Gutmensch“ nicht angenommen.
       
       Dass die Flüchtlinge, wie die entsprechenden Fachleute rasch berechnet
       haben, eher unterdurchschnittlich kriminell und sogar überdurchschnittlich
       „gesund“ sind, gehört so sehr zum Hintergrundwissen wie die Tatsache, dass
       ein Land wie Deutschland aus „demografischen Gründen“ auf Zuwanderung
       angewiesen ist und man, kämen sie nicht als Flüchtlinge, Einwanderer ins
       Land holen müsste, um die ökonomischen Strukturen und die Sozialsysteme
       aufrechtzuerhalten.
       
       Der Verdacht liegt auf der Hand: Es gibt weniger ein Flüchtlingsproblem als
       vielmehr ein Problematisierungsinteresse. Kritische Zeitgenossinnen und
       Zeitgenossen könnten vielleicht ihr Augenmerk einmal darauf richten, was im
       Schatten der längst irreparabel (und mit der Sexualisierung des Konflikts
       „nach Köln“ vollendet) hysterisierten Debatten geschieht: In Deutschland
       findet offensichtlich ein Königinnenmord statt.
       
       Die Ära der großen Mutter Merkel neigt sich, so oder so, dem Ende zu, ihre
       „Söhne“ und Rivalen (einschließlich einiger Rivalinnen) mobilisieren den
       nationalistischen und rassistischen Untergrund, um ihre Machtspiele mittels
       der irrationalen Flüchtlingsangst zu befeuern. Das Projekt eines politisch
       und demokratisch geeinten Europas wird in einer beschleunigten
       Renationalisierung, einschließlich neuer Grenzen, Zäune und Mauern,
       begraben.
       
       ## Rückbau der Demokratie
       
       In der Aufmerksamkeitsökonomie wird die Hysterisierung dankbar auch von
       jenen Medien aufgegriffen, die sich gerade noch als demokratisch, kritisch,
       und dem, nun ja, Qualitätsjournalismus verpflichtet verstanden. Wieder
       einmal sieht man „nach Köln“ einem unfassbar dummen, schnellen und
       korrupten Mainstreaming zu.
       
       Um die „Gefahr“ der „Flüchtlingsströme“ abzuwenden, scheint bereits eine
       Mehrheit der Bevölkerung bereit zu sein, demokratische Grundwerte und
       humanistische Gewissheiten der Zivilgesellschaft zu opfern. Der Rückbau der
       Demokratie, ihre innere Entleerung, was wir seit Jahrzehnten beobachten,
       ohne dass uns recht etwas einfiele, wie dem schleichenden Abbau des
       Demokratie-Projektes zu begegnen wäre, ist mehreren großen Gegenbewegungen
       zu verdanken.
       
       Etwa einem Transformationsprozess des Kapitalismus, der dem Prinzip der
       Gleichheit Hohn spricht. Da geht, wie man so sagt, die Schere zwischen den
       Armen und den Reichen immer weiter auf. Die Überakkumulation des Kapitals
       löst ja nicht nur „Sozialneid“ aus, sondern ein mehr als berechtigtes
       Misstrauen gegenüber der neuen Konzentration von Macht.
       
       ## Umdeutung von Freiheit
       
       Im Zuge dieser Transformationsprozesse, die man mit dem Label
       „Neoliberalismus“ versehen hat, sind neue Klassen, neue Ungleichheiten
       entstanden, die neue ökonomische Oberschicht, das neue Prekariat, und
       dazwischen ein Mittelstand, der unentwegt in Verlierer und Gewinner
       zerfällt. Nicht einmal eine demokratische Selbstverständlichkeit wie die
       ökonomische, politische und kulturelle Gleichheit von Männern und Frauen
       wurde auf diese Weise verwirklicht. Im Namen einer Umdeutung von „Freiheit“
       im Neoliberalismus hat sich unsere Demokratie von einer ihrer
       Voraussetzungen verabschiedet.
       
       Auch die Trägerform einer jeden Demokratie, eine selbstbewusste, dynamische
       und wachsame Zivilgesellschaft, geriet von mehreren Seiten her unter Druck.
       So wie die Verbindung von Demokratie und Kapitalismus im Kern immer absurd
       war und nur durch ein Geflecht von gegenseitigen Kontrollen und von
       Kompromissen aufrechterhalten werden konnte, so war auch die Verbindung von
       Demokratie und Nation problematisch genug.
       
       Nur in Nationen konnte sich Demokratie entwickeln, aber Demokratie, die
       sich nicht über die Nationen hinausentwickelt, ist zur Versteinerung
       verdammt. Die „nationalen Interessen“ wurden in Krisensituationen immer
       wieder über die „Belange der Demokratie“ gestellt.
       
       ## Entpolitisierte Hedonisten
       
       Zwischen der anschwellenden Kraft der rechtspopulistischen, rassistischen
       und antidemokratischen Bewegungen und der demokratischen und kritischen
       Zivilgesellschaft blieb eine Mehrheit von Menschen, die man,
       missverständlicherweise, als „entpolitisiert“ beschrieben hat.
       
       Sie entsprachen weitgehend dem Schreckbild von Platos früher Kritik an der
       Demokratie: Menschen, die sich um ihre eigenen Freiheiten kümmerten, und
       die die Demokratie eigentlich nur als „Mantel“ für ihren Egoismus ansahen.
       Würden diese entpolitisierten Hedonisten, so Plato, in ihrem Egoismus und
       ihrer Vergnügungssucht nicht mehr befriedigt, dann würden sie stehenden
       Fußes in das Lager eines neuen Tyrannen wechseln.
       
       Ist die Demokratie also noch zu retten? Ist eine Zivilgesellschaft zu
       retten, die nicht nur von rechts unter Druck geraten ist, sondern auch von
       ihren politischen Repräsentanten, ihren Medien und ihren Intellektuellen im
       Stich gelassen wurde? Die sich im Kampf gegen ungehemmte Bösartigkeit,
       Gleichgültigkeit und Ausbeutung auf die eigene Erschöpfung zubewegt? Hat
       die Aufklärung der völkischen Hysterisierung noch etwas entgegenzusetzen?
       Soll Europa, als politisch-kulturelles Projekt einer transnationalen
       Demokratie gescheitert, als hochgerüstete, nationalistisch verschachtelte
       Festung statt um Demokratie und Menschen- und BürgerInnenrechte um Ober-
       und Außengrenzen organisiert werden?
       
       Flüchtlinge müssen aufgenommen werden. Nicht nur in Länder, Kulturen und
       Sprache. Sondern vor allem in der Demokratie. In einer Gemeinschaft der
       Freien und Gleichen. Die sind wir augenblicklich zu verlieren im Begriff.
       Nicht durch die Flüchtlinge. Im Gegenteil. Nur mit ihnen wird eine
       Neuerfindung von Demokratie und Zivilgesellschaft möglich sein.
       
       3 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Georg Seeßlen
       
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