# taz.de -- Debatte Flüchtlinge und die Linke: Keine Angst
       
       > Hunderttausende Neuankömmlinge stellen gerade Linke vor große
       > Herausforderungen. Es ist Zeit, diese ohne Furcht anzugehen.
       
 (IMG) Bild: Unterstützung für Flüchtlinge fängt bei der Essensausgabe erst an: Freiwillige Helfer auf dem Hauptbahnhof Wien
       
       Viel wird über die Ängste berichtet, die Menschen umtreibe angesichts des
       massenhaften Zuzugs Geflüchteter nach Deutschland. Ernst nehmen müsse man
       diese Ängste. Die Stimmung könne kippen und rechten Parteien Wähler
       zutreiben. Gerade Linke dürften die drängenden Probleme mangelnder
       Akzeptanz und Überforderung nicht übersehen.
       
       Diese Aufforderung irritiert etwas. Sie unterstellt, dass Linke in den
       vergangenen 25 Jahren nicht bemerkt hätten, dass sie mit ihrem
       Antirassismus, ihrer Flüchtlingsarbeit und ihrem Antifaschismus nicht
       sonderlich tief in der Mitte der Gesellschaft verankert waren. Die Angst
       der Mehrheitsbevölkerung und ihr brutaler Verwandter, der offene Hass auf
       alles Fremde, sind außerordentlich präsent – und zwar immer. Die nicht
       abreißende Welle von Brandstiftungen an Unterkünften für Asylbewerber, die
       Pegida-Demonstrationen, die Mandatsträger etablierter Parteien in ihrem
       Wettlauf um die Stimmen der besorgten Bürger: Nein, übersehen lässt sich da
       nichts.
       
       Genau im Wissen darum müssen sich (nicht nur) Linke die Frage stellen, wie
       genau der Zuzug und seine Folgen zu bewältigen sind. Da gibt es jede Menge
       Denk-, Diskussions- und Handlungsbedarf: Was ist schiefgegangen bei
       vergangenen Migrations- und Fluchtbewegungen? Wie kann die Teilhabe der
       neuen Nachbarn am gesellschaftlichen Leben über Sprach- und Kulturbarrieren
       hinweg nachhaltig gefördert werden? Wie lassen sich die Ängste und
       irrationalen Abwehrreflexe von Teilen der Bevölkerung abbauen? Was muss
       unmittelbar getan werden, um Menschen vor Übergriffen zu schützen?
       
       Das alles sind Fragen, deren Beantwortung erheblichen Aufwand erfordert. Es
       war bestimmt ganz famos, besoffen von der eigenen Barmherzigkeit auf
       Bahnhöfen noch jedem Ankommenden ein „da capo“ zuzurufen. Jetzt aber ist es
       höchste Zeit, die Herausforderung anzunehmen, aus dem positiven Impuls der
       Willkommenskultur Mechanismen demokratischer Teilhabe zu entwickeln. Man
       kann stattdessen natürlich auch über Kontingente bei der Aufnahme von
       Geflüchteten nachdenken, wie [1][Barbara Dribbusch das in der vergangenen
       Woche an dieser Stelle gefordert hat]. Über Obergrenzen müsse man streiten
       dürfen, schließlich seien in jedem Solidarsystem die Kapazitäten begrenzt.
       
       ## Linker Größenwahn. Wirklich?
       
       Die Bedingungen für Flüchtlinge seien in Deutschland schon jetzt so
       schlecht, dass ein weiterer Zuzug nicht zu rechtfertigen sei. Zudem sei es
       „linker Größenwahn“ zu glauben, Deutschland könne jedes Jahr eine Million
       Flüchtlinge aufnehmen. Hier ohne Tabus zu diskutieren, sei quasi verboten,
       so Dribbusch.
       
       Nun ist das Denken in der Linken, wenn auch nicht zwingend in größerer
       Dichte und Tiefe als bei anderen anzutreffen, so doch erst einmal nicht
       generell verboten. Davon abgesehen fehlt aber schlicht eine schlüssige
       Begründung, warum jetzt unter Linken unbedingt noch darüber debattiert
       werden sollte, wie man Menschen am besten daran hindert, Armut, Krieg und
       Verfolgung zu entkommen und sich eine neue, sicherere und ganz allgemein
       angenehmere Heimstatt zu suchen.
       
       Denn das wäre ein gar seltsames „tabuloses“ Gespräch, wenn ein paar Linke,
       vielleicht grad vom freiwilligen Kleiderkammereinsatz in einer
       Flüchtlingsunterkunft kommend und erschöpft aufs durchgesessene Sofa ihrer
       WG-Küche sinkend, einfach mal durchrechneten, ob es die Sozialsysteme mehr
       belasten würde, die Flüchtlinge aufzunehmen oder die
       Grenzsicherungsmaßnahmen auszubauen. Auch Stacheldraht fällt schließlich
       nicht vom Himmel, und tatsächlich ist es eine interessante Frage, wie viel
       wir es uns noch kosten lassen wollen, Hunderttausende auf ihrem Weg nach
       Europa aufzuhalten und gegebenenfalls verrecken zu lassen.
       
       Und während diese Linken also versuchen, die materielle Kapazitätsgrenze
       ihrer Solidarität in Zahlen zu fassen, argumentiert Michael Hüther vom
       arbeitgebernahen [2][Institut für Deutsche Wirtschaft in der Berliner
       Zeitung], dass der Zuzug, wie er sich derzeit entwickelt, durchaus zu
       bewältigen ist.
       
       „Man muss die Integrationssysteme Bildung und Arbeitsmarkt öffnen – dann
       ist es eine Riesenchance“, sagt Hüther. Vorurteile und mangelnde Erfahrung
       mit Fremden stünden einer Integration jedoch oft im Weg. Da müsse noch
       einiges an Überzeugungsarbeit geleistet werden. [3][In der Zeit sekundiert
       Kommentatorin Frida Thurm]. Die „Angst der Mitte“ müsse man zwar als Fakt
       akzeptieren, ihr aber begegnen – „panikfrei und nüchtern“.
       
       Das klingt doch recht sachlich, realistisch und dabei sogar optimistisch.
       Oder hat der von Dribbusch ausgemachte „linke Größenwahn“ nun auch die
       liberale Mitte der Gesellschaft soweit umnebelt, dass selbst Arbeitgeber
       nicht mehr ihre Taschenrechner bedienen können?
       
       ## Watschen aus der Mitte
       
       Es kommt sogar noch schlimmer. Während die Linken darüber debattieren
       mögen, ob das Asylrecht nicht gänzlich vom Schutzbedarf der Asylsuchenden
       entkoppelt und durch ein an den (letztlich willkürlich bestimmten)
       Aufnahmekapazitäten orientierten Quotensystem ersetzt werden sollte,
       [4][erklärt ein Bundesrichter, ebenfalls in der Zeit], ein bisschen
       Verfassungstheorie und gibt eine Lektion in Menschlichkeit. Thomas Fischer,
       Vorsitzender des Zweiten Strafsenats am Bundesgerichtshof, lässt wenig Raum
       für Interpretationen: „Die [Flüchtlinge] sind Menschen nicht ‚wie wir‘,
       sondern es sind wir Menschen selbst. Die Unglückseligen sind keine
       Analogien zu uns. Wir sind es selbst.“
       
       Klar, mit Moral bezahlt man keine Renten, Humanität ist keine
       buchhalterische Kategorie und Stiefelnazis werden nicht durch ein paar
       schöne Worte der Kanzlerin zu Blumenkindern. Ohne Moral, Recht und
       Menschlichkeit aber bleibt allen nur die Angst. Und die führt nur allzu
       leicht dorthin, wo es so dringlich erscheint, über Obergrenzen bei der
       Aufnahme von Flüchtlingen nachzudenken. Gewiss, das kann man natürlich
       trotzdem machen, auch in der Linken – wenn man sich denn unbedingt noch
       jene Watschen von Thurm, Hüther und Richter abholen möchte, die eigentlich
       für Figuren wie Seehofer, Petry und de Maizière gedacht waren.
       
       16 Oct 2015
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Debatte-Asyl-in-Deutschland/!5240409
 (DIR) [2] http://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft/arbeitsmarkt--wir-muessen-auch-fluechtlingen-einen-aufstieg-moeglich-machen-,10808230,32124706.html
 (DIR) [3] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-10/willkommenskultur-fluechtlinge-stimmung-kippt
 (DIR) [4] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-10/fluechtlinge-fischer-im-recht/komplettansicht
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniél Kretschmar
       
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